Zeit für eine neue Kritik am Bruttoinlandsprodukt

Dossier

Buch von Mariana Mazzucato beim Campus-Verlag: Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern„… Gerade für Deutschland trüben sich die ökonomischen Aussichten nicht erst seit gestern ein. Zahlreiche Indikatoren belegen das, vor allem die aus dem verarbeitenden Gewerbe. Im Juni lag die Industrieproduktion um nicht weniger als sechs Prozent unter ihrem Vorjahresniveau. Das liegt an der extremen Exportorientierung der Bundesrepublik. Wer Lohndumping betreibt, den Binnenmarkt vernachlässigt und einseitig auf Ausfuhren setzt, der macht sich extrem abhängig von der Weltkonjunktur. Steht es gut um diese, freut sich das exportorientierte deutsche Kapital; kriselt sie, droht es besonders hart getroffen zu werden. So war es im Jahr 2009, als das deutsche BIP im Zuge der globalen Krise um 5,6 Prozent einbrach. (…) selbst ein »Miterfinder« des BIP, Simon Kuznets, wies auf die Nachteile seiner Erfindung hin. Es lasse vollkommen außer Acht, wie die Güter und Dienstleistungen verteilt werden. Nicht umsonst spricht man schon länger vom beschäftigungslosen Wachstum (»jobless growth«) und zunehmender Ungleichheit. Zudem wird am BIP kritisiert, dass es nur über den Markt vermittelte Tätigkeiten berücksichtigt. Unbezahlte Hausarbeit, essenziell für die Reproduktion von Ökonomien, spielt in der hoch aggregierten, komplexen Zahl keine Rolle. Wer überdies mit dem Auto täglich zur Arbeit fährt, es womöglich auch noch zu Schrott fährt, trägt erheblich mehr zum BIP bei als jemand, der täglich das Fahrrad benutzt. Insofern ist das BIP auch auf dem ökologischen Auge blind. Umweltverschmutzung spielt in ihm keine Rolle. Wirtschaftswachstum ging insofern bis dato immer mit mehr Umweltverschmutzung und Treibhausgasemissionen einher – und umgekehrt. Nur 2009, als das BIP einbrach, wurde weniger CO2 ausgestoßen. Zurzeit dominiert im Zuge der Fridays-for-Future-Bewegung die Klimadiskussion die politische Debatte. Das wäre auch eine Chance, die Kritik am Konzept des Bruttoinlandsprodukts zu erneuern.“ Kommentar von Guido Speckmann in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis vom 20.8.2019 externer Link. Siehe dazu:

  • Natürliche Lebensgrundlagen als BIP-Faktor New
    „… Natürliche Lebensgrundlagen sowie deren Schmälerung sollen in Zukunft bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts mit einbezogen werden – das empfehlen die Vereinten Nationen (UN) ihren Mitgliedsstaaten. Die Statistikkommission habe eine neue Rahmenrichtlinie verabschiedet: Das „System der umweltökonomischen Rechnungslegung – Ökosystembuchhaltung“ solle sicherstellen, dass „natürliches Kapital“ wie etwa Wälder, Feuchtgebiete und andere Ökosysteme als Vermögenswerte berücksichtigt würden, teilten die UN in der Nacht zum Donnerstag mit. Damit werde anerkannt, „dass Ökosysteme wichtige Dienstleistungen erbringen“. Beispielsweise spielten Wälder eine Rolle bei der Versorgung von Gemeinden mit sauberem Wasser und sauberer Luft. UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einem „historischen Schritt hin zu einer Transformation unserer Sicht und Bewertung der Natur“. (…) Nach UN-Angaben sind es zur Zeit weltweit 34 Länder, die mit einem neuen, nachhaltigeren Berechnungsmodell experimentieren. Deutschland gehört nicht dazu. Noch wird hier nach der Devise „Was nichts kostet, ist nichts wert“ von einem Erdüberlastungstag auf den anderen gewirtschaftet. Dabei hatten das deutsche Bundesumweltministerium und die EU-Kommission bereits 2007 eine Studie zur „Ökonomie von Ökosystemen und der Biodiversität“ veranlasst, die ergab, dass rund 100.000 Schutzgebiete weltweit „Ökosystemdienstleistungen“ im Wert von 4,4 bis 5,2 Billionen US-Dollar pro Jahr erbrächten. Im Februar dieses Jahres hatte das UN-Umweltprogramm Unep einen Umweltbericht mit Handlungsempfehlungen veröffentlicht, um die natürlichen Lebensgrundlagen und mit ihnen die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten zu erhalten. Überschrift: „Frieden mit der Natur schließen: Eine wissenschaftliche Blaupause zur Bekämpfung von Klima-, Biodiversitäts- und Umweltnotständen“. Als Reaktion auf die neue UN-Empfehlung hat am Donnerstag auch die EU-Kommission erklärt, sie wolle „vorschlagen, die Verordnung über die Europäischen Umweltökonomischen Gesamtrechnungen zu ändern“ und deren Erfassungsbereich „um ein neues Modul zur Bilanzierung von Naturkapital zu erweitern, das vollständig mit dem UN-Rahmenwerk übereinstimmt“. Beitrag von Claudia Wangerin vom 12. März 2021 bei Telepolis externer Link – Allerdings hält sich die positive Seite dieser Aktion sehr in Grenzen (weshalb wohl auch nicht zufällig die EU-Kommission mitmachen will). Wie die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch „Wie kommt der Wert in die Welt?“ [siehe unten] überzeugend aufzeigt, muss insgesamt die BIP-Berechnung vom neoklassischen Grundsatz, nur was Geld bringt, ist auch was wert, im Sinne des klassischen, auch marxistischen Wertbegriffs, wer schöpft überhaupt Wert und schöpft in nicht nur ab, geändert werden, um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich einzudämmen. Nach der Logik im Beitrag werden eher die bisher nicht dem kapitalistischen Wertbegriff unterliegende Bereiche, wie die Natur, kapitalisiert. Die sog. „Ökosystemdienstleistungen“ machen aus der Natur eine u.U. sogar kostenpflichtige Ware (vgl. Wasserproblematik).
  • Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel: Wir müssen Wirtschaftswachstum anders messen 
    Eine führende Beraterin der Bundesregierung in Sachen Klimawandel hält das Bruttoinlandsprodukt für überholt. Im Gespräch mit netzpolitik.org erzählt die Ökonomin Maja Göpel, warum wir einen neuen Wachstumsbegriff brauchen – und wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit vereinbar gemacht werden können. (…) Was nicht mehr wachsen darf, beziehungsweise zurückgehen muss, ist das Ausmaß an Umweltverbrauch und Verschmutzung durch die Art des Wirtschaftens. Dazu zählt der zu hohe CO-Ausstoß, der in diesem Fall wie eine Übernutzung der Atmosphäre betrachtet werden kann, aber auch der Erhalt fruchtbarer Böden, der Artenvielfalt und intakter Wasserkreisläufe. Beim nachhaltigen Wirtschaften reden wir also über einen tiefgreifenden Strukturwandel, für den es vernünftige Ziele und Indikatoren geben sollte. Im öffentlichen Diskurs denken beim Thema Wachstum immer alle an das Bruttoinlandsprodukt. Das zeigt erst einmal nur an, dass noch einmal mehr Geld als im Vorjahr über den Tisch gegangen ist. Ob sich dahinter positive Entwicklungen oder Aufräumarbeiten nach einer Naturkatastrophe befinden, ist diesem Indikator egal. Deshalb wird es Zeit, die Grundlagen menschlichen Wohlergehens expliziter zu fassen und zu messen und Rahmenbedingungen, Anreize und Investitionen so zu setzen, dass dafür Lösungen mit deutlich niedrigerem Umweltverbrauch erfunden und verbreitet werden können. Ob das BIP dann weiter wächst oder schrumpft, sollte nicht Ziel, sondern empirisches Ergebnis dieses zukunftsorientierten Haushaltens sein…“ Interview von Alexander Fanta vom 03.09.2019 bei Netzpolitik externer Link
  • Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern
    Wir leben in einem parasitären System. Darin ist die schnelle Mitnahme von Gewinn, Shareholderdividenden und Bankerboni attraktiver als das Schaffen von Wert, als der produktive Prozess, der eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft antreibt. Wir verwechseln die Schöpfer mit den Abschöpfern und haben den Blick dafür verloren, was wirklich Wohlstand schafft. Die renommierte amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssystems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben!Infos zum Buch von Mariana Mazzucato beim Campus-Verlag externer Link

Siehe zuvor zum Thema:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=153311
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