Vor drei Jahren starb Robert Kurz
In Memoriam dieses herausragenden radikalen Denkers und Gesellschaftskritikers werfen wir einen Blick auf seine krisentheoretischen Beiträge, die er uns in seinem letzten Buch und seinen Fragmenten posthum hinterlassen hat.
Wir haben an dieser Stelle auch vor einem Jahr anlässlich der Vorstellung zweier neuer Publikationen aus dem LAIKA-Verlag und der Edition Tiamat an Robert Kurz erinnert, der im Alter von 68 Jahren, in Folge einer Operation, am 18. Juli 2012 in einem Nürnberger Krankenhaus verstarb. Viel zu früh. Schade, dass diese „außergewöhnliche Persönlichkeit“ (Gaston Valdivia) nicht noch mehr Lebens- und Schaffenszeit zur Verfügung hatte.
Denn dieser zweifellos „herausragende Kopf des deutschen Marxismus“ (Michael Jäger) hatte noch längst nicht alles sagen und zu Papier bringen können, was ihn umtrieb. Robert Kurz oder Bobby, wie ihn seine Freunde und Mitstreiter nannten, hatte noch einiges im Köcher, das machen die Hinweise in seinem letzten, posthum erschienenem Buch „Geld ohne Wert“ und die nach seinem Tode in der Zeitschrift „Exit“, Nr. 10 und folgende, veröffentlichen Fragmente aus dem Nachlass deutlich.
Wie wir aus dem Vorwort zu seinem Buch „Geld ohne Wert“ erfahren, entschied Robert Kurz und machte sich schon Anfang dieses Jahrzehnts daran, aus dem ursprünglich großangelegten und dann zu umfangreich werdenden Buchprojekt „Tote Arbeit“ mit seinen vielfältigen Themen und Kapiteln, diese ausgekoppelt als eigenständige Publikationen in einer Buchreihe „zur Kontroverse um die Kritik der Politischen Ökonomie im 21. Jahrhundert in mehr essayistischer Form aufzubereiten“. Noch kurz vor seiner schwereren Erkrankung gelang es ihm „nur“, aber glücklicherweise „wenigstens“, eines dieser Vorhaben zu verwirklichen und immerhin nicht weniger als die „Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“ in dem ersten Buch „Geld ohne Wert“ auszuformulieren und fertigzustellen.
Mit den hochaktuellen krisentheoretischen Aspekten dieser letzten Veröffentlichungen befasst sich der folgende Artikel von Ulrich Leicht, der vor allem Robert Kurz selber in Ausschnitten und Leseproben aus den angesprochenen Publikationen zu Wort kommen lässt.
Ulrich Leicht: In Memoriam des vor drei Jahren verstorbenen Robert Kurz
Seine krisentheoretischen Beiträge sind und bleiben hochaktuell. Wer die gegenwärtigen Krisenentwicklungen richtig verstehen und einschätzen will, sollte sie zumindest kennen.
Bevor wir uns eingehender mit der Krisentheorie von Robert Kurz und des wert-abspaltungskritischen Projekts „Exit“ befassen, das heute nach wie vor von langjährigen Mitstreitern, wie seiner Witwe Roswitha Scholz oder dem Hamburger Mathematik-Professor Claus-Peter Ortlieb und anderen, aber auch zahlreichen später hinzugestoßenen, weitergeführt wird, sei noch einmal an zwei erwähnenswerte der zahlreichen Nachrufe auf Robert Kurz aufmerksam gemacht, die aus Sicht interessierter “außenstehender“ Beobachter der fundamentalen Wertkritik und ihres bekanntesten Protagonisten einige weniger bekannte Fakten und treffende Einschätzungen zu seinem Schaffen und Wirken würdigend formulierten.
Gaston Valdivia, ein Mitstreiter aus den Anfangszeiten schrieb damals u.a.:
„Mit ihm geht der Linken eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Persönlichkeit verloren. 1978 tauchte das Heft Vorhut oder Nachtrab? – Eine Kritik der politischen Dekadenz in der marxistisch leninistischen Bewegung am Beispiel des Kommunistischen Arbeiterbundes Deutschlands (KABD) auf. Autor war ein gewisser Robert Kurz, zuvor Mitglied des KABD und aufgrund seiner Kritik als „Parteiliquidator“ ausgeschlossen. Mitgliedern und Sympathisanten dieser Organisation war die Lektüre dieses Heftes strengstens untersagt. Da aber was verboten, erst recht heiß macht, zirkulierte es im Parteiuntergrund, wurde gelesen und traf uns wie ein Hammerschlag. Robert Kurz führte Lenin und Marx gegen den scholastischen Marxismus Leninismus stalinistischer Prägung ins Feld und ließ diesen wahrlich alt aussehen. Im Mittelpunkt der Kritik stand die ausgeprägte Theoriefeindlichkeit des arbeitertümlerischen KABD und anderer K-Gruppen, die zu einem perspektivlosen Unmittelbarkeitsdenken und unreflektiertem Praktizismus auf der Grundlage schon vermeintlich geklärter Fragen geführt hatte. Was heute wie eine befremdliche Anekdote finsterster stalinistischer Zeiten klingt, sollte sich als Startschuss zu dem spannendsten und fruchtbarsten Entwicklungsprojekt für kritische Theorie außerhalb des linken akademischen Mainstreams und des alten Arbeitermarxismus nach der Frankfurter Schule herausstellen. Robert Kurz hat das Projekt in einem Interview so formuliert: ‚Unser Ausgangspunkt lag nicht auf dem Feld der akademischen Theorie. Wir waren alle Aktivisten von linken sozialen Bewegungen. Anfang der 80er Jahre hatten wir das Gefühl, dass sich die Ideen der damaligen ’neuen Linken‘ seit 1968 erschöpft hatten. Es gab einen Impuls, die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Wir wollten den ‚manisch-depressiven Zyklus‘ der politischen Kampagnen nicht mehr mitmachen. Die Theorie sollte nicht mehr unmittelbar an die politische Praxis gebunden werden, also ihren legitimatorischen Charakter verlieren und in ihrer Eigenständigkeit ernst genommen werden. Dies bedeutete eine Entfremdung von der politischen Linken.‘“
Und Michael Jäger, Redakteur der Wochenzeitung „Freitag“ schrieb am 20.07.2012 unter der Überschrift: Robert, der Kampf geht weiter. Nachruf. Er hat die Arbeitsgesellschaft radikal kritisiert, mit dem „Schwarzbuch Kapitalismus“ breite Schichten erreicht und die Krise lange kommen sehen. Zum Tod von Robert Kurz: „(…) Ein herausragender Kopf des deutschen Marxismus ist damit, wie man sagt, für immer verstummt, doch wird sein umfangreiches Werk zu vielen noch lange sprechen. Unter allen deutschen Marxisten war Kurz wohl der, dem die größte Aufmerksamkeit auch der außermarxistischen Öffentlichkeit zuteilwurde. Sein erfolgreichstes Buch, das – Schwarzbuch Kapitalismus – veröffentlicht 2001, hat bisher fünf Auflagen erlebt, wenn man die erweiterte Neuauflage 2009 dazuzählt, und wurde von allen großen Zeitungen besprochen.
Weithin bekannt wurde er indessen schon durch sein Buch von 1991, das so sehr in die Zeit passte und ihr zugleich den Krieg ansagte: – „Der Kollaps der Modernisierung . Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie“. – Der Titel war Programm, und das Programm fortzuschreiben, konnte Kurz in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht schwerfallen.
Er gehörte zu denen, die den Ausbruch der Krise der Weltökonomie im Jahr 2008 lange vorausgesehen hatten. Zur Immobilienspekulation sagte er 2001 in einem Vortrag: ‚Wenn diese Blase platzt, entspricht der Unterschied zur Weltwirtschaftskrise etwa dem, ob man aus dem Erdgeschoß oder aus dem 50. Stock ‚runterfällt. Und deswegen versuchen die internationalen Finanzinstitutionen und das Bankensystem mit allen Mitteln, diese Blase am Platzen zu hindern. Sie versuchen eine logische, und ich denke, letztlich praktische Unmöglichkeit, nämlich dieses fiktive Kapital entweder bis in alle Ewigkeit weiterwuchern zu lassen, sozusagen als unproduktive, aber gültige Geldschöpfung, oder eben diese Blase sanft platzen zu lassen. Ein sanftes Platzen kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen.‘
Den unsanften Krisenprozess konnte Kurz noch bis zum Ende des vorigen Jahres in seiner Kolumne im Neuen Deutschland begleiten, und wie immer waren seine Kassandrarufe zum Erschrecken: Der Glaube der Politiker, sie hätten aus früheren Krisen gelernt und könnten deshalb die jetzige überwinden, sei illusionär, schrieb er etwa, denn sie bedächten nicht, dass es sich um Krisen in einem ständigen Wachstumsprozess handle, die also jedesmal auf höherer Stufenleiter ausbrächen und deshalb stets neuartige Implikationen mit sich brächten; und: Wenn der Euro zusammenbreche, müsse die D-Mark extrem aufgewertet werden und in der Folge werde der deutsche Export stranguliert.
Arbeit, Ware, Geld abschaffen Über sein theoretisches Werk lässt sich selbstverständlich streiten. Selten jedoch kann ein Streit so lohnend und produktiv sein wie hier auf diesem hohen Niveau; es wäre zu wünschen, dass er jetzt verstärkt fortgeführt würde. Das angekündigte posthume Erscheinen seines letzten Buches „Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“ in diesem Jahr könnte den Anlass geben. Will man Kurz im gegenwärtigen Marxismus verorten, so sind es besonders zwei Eigentümlichkeiten, durch die er heraussticht. Die eine ist, dass er nicht erst kritisiert, was Marxisten als „abstrakte Arbeit“ bezeichnen, also die Arbeit als Basis der Warenförmigkeit der auf den Märkten gehandelten Güter und letztlich des Geldes. Er sieht das Übel vielmehr schon in der „konkreten Arbeit“, die den irgendwie nützlichen Gebrauchswert der jeweiligen Ware produziert. Schon diese „konkrete Arbeit“ werde von der „abstrakten“ bis ins Mark bestimmt. Kurz wird so zum radikalen Kritiker der „Arbeitsgesellschaft“. Die zweite Eigentümlichkeit: Weil Arbeitsethos ein Kennzeichen der gesamten „Moderne“ seit dem 16. Jahrhundert ist, erweist sich Kurz ebenso sehr als kritischer Modernisierungstheoretiker, wie seine Analyse immer von den Marxschen Grundkategorien ausgegangen ist. (…) Fast scheint es, als werde mit einem wie Kurz in der „bürgerlichen“ Öffentlichkeit sachlicher diskutiert als in marxistischen Kreisen, wo es häufig, einer längst überholten Hermeneutik zufolge, nur darum geht, ob jemand Marx „richtig verstanden“ habe oder nicht. Am Werk von Kurz ist aber offenbar, dass es äußerst Bedenkenswertes selbst dann enthält, wenn man die Frage unbeantwortet lässt, ob seine Marxinterpretation und sogar überhaupt seine Grundannahmen angemessen erscheinen oder nicht. Robert Kurz ist tot, doch er lebt auch weiter: Er hat alles gesagt, was er sagen wollte, und es ist ihm gelungen, die Öffentlichkeit dafür zu interessieren.“
In einem irrt Michael Jäger sicher. Denn Robert Kurz, dieser zweifellos „herausragende Kopf des deutschen Marxismus“ (Michael Jäger), hatte noch längst nicht alles sagen und zu Papier bringen können, was ihn umtrieb. Bobby, wie ihn seine Freunde und Mitstreiter nannten, hatte noch einiges im Köcher, das machen die Hinweise in seinem letzten oben schon erwähnten, posthum erschienenem Buch „Geld ohne Wert“ und die nach seinem Tode in der Zeitschrift „Exit“, Nr. 10 und folgende, veröffentlichen Fragmente aus dem Nachlass deutlich. Wie wir aus dem Vorwort zu seinem Buch „Geld ohne Wert“ erfahren, entschied Robert Kurz und machte sich schon Anfang dieses Jahrzehnts daran, aus dem ursprünglich großangelegten und dann zu umfangreich werdenden Buchprojekt „Tote Arbeit“ mit seinen vielfältigen Themen und Kapiteln, diese ausgekoppelt als eigenständige Publikationen in einer Buchreihe „zur Kontroverse um die Kritik der Politischen Ökonomie im 21. Jahrhundert“ in mehr essayistischer Form aufzubereiten. Noch kurz vor seiner schwereren Erkrankung gelang es ihm „nur“, aber glücklicherweise „wenigstens“, eines dieser Vorhaben zu verwirklichen und immerhin nicht weniger als die „Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“ in dem ersten Buch „Geld ohne Wert“ auszuformulieren und fertigzustellen. Quasi sein Vermächtnis, das uns deutlich werden und ahnen lässt, wie viel uns dieser radikale, streitbare, Marxsche Analysen und Positionen weiter entwickelnde Gesellschaftskritiker noch über theoretische Voraussetzungen und Klarheiten für die notwendige aber schwer zu machende Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse mitzuteilen hatte.
Robert Kurz hätte noch viele Lebensjahre und wir ihn und sein produktives Schaffen gebrauchen, er schreiben und „streiten“, und wir mit ihm diskutieren und „große Palaver“ veranstalten können. Und es hätte sich gelohnt. Seine Analysen der kapitalistischen Gesellschaft gehören sicher zu den wichtigsten Interventionen gegenwärtiger kritischer Theorie. Natürlich bleiben uns die Aktivitäten und Publikationen der anderen Protagonisten des „Exit“- Zusammenhangs, und von Robert Kurz zumindest das, was er zu Lebzeiten publiziert und als Fragment hinterlassen hat. Ein Blick in die Nr. 10 und 11 der Zeitschrift „Exit“ z.B. verrät uns, dass auch das zweite aus dem früheren Projekt „Tote Arbeit“ herausgefilterte Buch der geplanten Reihe, mit dem Titel „Krise und Kritik“, eine Bereicherung der gesellschaftlichen Debatte um dieses Thema geworden wäre. Dies gilt schon für das abgedruckte Fragment. Von den ursprünglichen – einschließlich Einleitung und Epilog – sechsunddreißig vorgesehenen Kapiteln konnte Robert Kurz noch zehn fertigstellen. Das unvollendet gebliebene Buch charakterisiert er in dem Vorwort „als eine Propädeutik zur Krisentheorie und zur kategorialen Kritik (…), die in 34 kurzen Kapiteln den aktuellen Stand der einschlägigen Reflexion im Licht der hereinbrechenden realen Weltwirtschaftskrise aufarbeitet. (…)“
Auf diese Krisentheorie wollen wir in diesem Beitrag „in Memoriam“ näher eingehen und anhand von Ausschnitten und Leseproben aus den entsprechenden Abschnitten des Buches „Geld ohne Wert“ und den „Kritik und Krise“-Fragmenten den authentischen, auf der Grundposition der Wert-Abspaltungskritik argumentierenden Krisentheoretiker Robert Kurz selber zu Wort kommen lassen, zumal seine Positionen in der linken Debatte gemeinhin nicht selten verfälscht und z.B. die „Zusammenbruchs Theorie“ durch Mythologisierung abzuwehren versucht werden. Es lohnt sich in jedem Fall, zumal die Problematik hoch aktuell ist, wie Robert Kurz in seinem vorletzten Artikel für die Monats-Zeitschrift „Konkret“ vom Februar 2012 mit dem Titel „DIE KLIMAX DES KAPITALISMUS – Kurzer Abriss der historischen Krisendynamik“ in dem ihm eigenen, wenn angebracht drastisch-sarkastischem Stil, überzeugend darlegt:
„ (…) Aber allmählich riecht es derart brenzlig, dass sogar der Unterhaltungswert der Trendscouts als Wahrsager gesunken ist. Die Krise scheint im neuen Jahrhundert alt werden zu wollen. Eine Rezession und eine falsche Entwarnung jagt die nächste, während die Hüter des globalen Bankensystems ihre Leichen im Keller zählen und am liebsten den Schlüssel wegwerfen möchten. Nicht einmal der deutsche Exportchauvinismus ist sich ganz sicher, ob die BRD wirklich mit sich allein in einer anderen Liga spielt als der Rest der Euro-Zone. Niemand weiß, wo morgen oder übermorgen das Feuer unterm Dach auflodern wird. Aber alle wissen, dass die Brandherde überall lauern und anscheinend auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind. Das postmoderne Urvertrauen in den Kapitalismus bröckelt, auch wenn seine Blamage noch nicht zum Leitthema geworden ist. (…) Es lassen sich einige Indizien angeben, dass die kapitalistische Entwicklung mit der dritten industriellen Revolution seit den 1980er Jahren in diesen Zustand eingetreten ist. Modifiziert und gefiltert wird die Kulmination des inneren Widerspruchs durch die historische Expansion des Kreditsystems, die spiegelbildlich zu Stagnation und Rückgang der wertproduktiven Arbeitsmasse verläuft. Schon der permanente relative Anstieg des Sachkapitals trieb die toten Vorauskosten der Produktion allmählich derart in die Höhe, dass sie zu einem immer geringeren Teil aus den laufenden Profiten finanziert werden konnten. Der Kredit verwandelte sich aus einem Hilfstreibsatz der Mehrwertproduktion in deren Ersatz. Die Akkumulation speist sich seither weniger aus vergangener realer Arbeitssubstanz, sondern in wachsendem Ausmaß aus dem Vorgriff auf imaginäre der Zukunft. Mittels einer beispiellosen globalen Verschuldung und daraus entstandenen Finanzblasen werden Investitionen und Beschäftigung ohne reale Grundlagen finanziert. Das war auch die gesellschaftliche Bedingung der Möglichkeit für den Siegeszug der virtualistischen und dekonstruktivistischen Ideologien. Trotz zeitweiligen Anscheins wird dabei jedoch kein Kapital akkumuliert, wie sich an der Bauwirtschaft vieler Länder nach dem Platzen der Immobilienblasen gezeigt hat.
An der Oberfläche des Weltmarkts nahm der stetig weiter vorgeschobene Verbrauch zukünftiger Profite und Löhne die entsprechend absurde Verlaufsform einer Funktionsteilung von Überschuss- und Defizitländern an. Die einen kaufen mit Geld aus zukünftigen Einnahmen Waren, deren Produktion von den anderen durch Zugriff auf zukünftige Erlöse vorfinanziert wurde. Zwischen vergangener realer und fiktiv vorweggenommener zukünftiger Wertschöpfung klafft ein sich ausdehnendes schwarzes Loch. Dieses Konstrukt einer globalen Defizitkonjunktur hat zwei Schwerpunkte: einen größeren pazifischen Defizitkreislauf zwischen China/Ostasien und den USA sowie einen kleineren europäischen Defizitkreislauf zwischen der BRD und der übrigen EU bzw. dem Euro-Raum. Die dafür mobilisierte Beschäftigung, etwa in China, ist genauso wenig tragfähig wie die Bautätigkeit für den Immobilien-Hype. Im einen Fall hat Asien Dollar-Devisenreserven in astronomischer Größenordnung angehäuft, im anderen Fall hat das internationale Bankensystem ähnlich hohe Defizite innerhalb eines gemeinsamen Währungsraums finanziert. Diese berüchtigten „Ungleichgewichte“ sprechen sogar den Lehrbüchern der VWL Hohn, die allerdings sowieso niemand mehr ernst nimmt.
Nach einer dichten Kette von Finanzkrisen, die in den letzten 30 Jahren einzelne Länder und ökonomische Sektoren erschüttert und die Defizitkonjunkturen begleitet hatten, nahm der Finanzkrach 2008 erstmals globale Ausmaße an. Das Reißen der Kreditketten setzte den großen Entwertungsschub auf die Tagesordnung. Es waren die selber schon hoch verschuldeten Staaten, die mit massivem Einsatz zusätzlicher Kredite und der Notenpressen den Abgang der Lawine aufhielten. Man ahnte zumindest, dass kein reinigendes Gewitter auf dem Weg war, sondern die Lichter des Weltkapitals auszugehen drohten. So wurden die faulen Kredite mit Hilfe von Staatsgarantien wie Atommüll gebunkert, die industriellen Überkapazitäten durch horrende Subventionen aufrecht erhalten und die Konjunktur durch staatliche Programme künstlich ernährt. Besonders der chinesische Staatskapitalismus zwang sein Bankensystem, gestützt auf den Devisenschatz, Investitionsruinen in Form von Geisterstädten, Geisterflughäfen, Geisterfabriken etc. zu finanzieren und die Mutter aller Immobilienblasen aufzupumpen.
Gelöst wurde mit all diesen abenteuerlichen Maßnahmen gar nichts, sondern der Entwertungsprozess nur hinausgeschoben und das Problem von den Finanzmärkten auf den Staat verlagert. Es war absehbar, dass den Staatsprogrammen schnell die Puste ausgehen würde. Der Euro-Raum machte als schwächstes Kettenglied den Anfang, aber auch alle anderen Staatsfinanzen wackeln und drohen Kettenreaktionen in Gang zu setzen. So wird sich der chinesische Dollarberg in Rauch auflösen, wenn die USA eingestehen müssen, dass sie klamm sind. Die unbedienbaren Staatsschulden addieren sich zu den faulen Krediten der Finanzmärkte; die Kernschmelze des Kreditsystems rückt näher. Die schon verbrauchte kapitalistische Zukunft ist zur Gegenwart geworden. Griechenland zeigt exemplarisch, dass die Menschen auf Jahre hinaus aufhören müssten zu leben, um weiterhin kapitalistischen Kriterien zu genügen.“
Und in knappen Worten formuliert er die zentrale These seiner Krisentheorie, die uns hier interessiert: „Im ausgeblendeten Strang der Marxschen Argumentation sieht die Rechnung anders aus. Egal, welche Produktionsinhalte ausgeheckt werden: Für das Kapital kommt es allein auf die anwendbare Menge wertschöpfender Arbeitskraft an. Diese muss absolut steigen, wenn der vorausgesetzte Selbstzweck der Akkumulation gelingen soll. Die Kreation zusätzlicher Produktionszweige oder das Eingehen früherer Luxusprodukte in die Massenproduktion können aber das wissenschaftlich-technologische Wegrationalisieren von Arbeitskraft nur für einen historisch begrenzten Zeitraum kompensieren. Der Kapitalismus erreicht seine Klimax, wenn die innere Expansion von der Produktivkraftentwicklung eingeholt und überholt wird. Dann schlägt der relative Fall der Profitrate in einen absoluten Fall der gesellschaftlichen Mehrwert- und damit Profitmasse um und damit die vermeintlich ewige Verwertung des Werts in seine historische Entwertung.“
Gehen wir in medias res und folgen Robert Kurz bei der Darlegung der Herausbildung der Position der Wert-Abspaltungskritik, für die die Krisentheorie von Anfang an eine hervorragende Rolle spielte, und die die Grundlage bildet, die ein- aber vor allem gern ausgeblendeten Stränge der Marxschen Argumentation zu erkunden und einzuordnen – um letztlich so mit Marx aber über Marx hinaus neue fruchtbringenden Erkenntnisse zu gewinnen. Die folgenden Leseproben sollen dabei helfen:
- Robert Kurz, „Krise und Kritik. Die inneren Schranken des Kapitals und die Schwundstufen des Marxismus“. Ein Fragment. Erster Teil. Vorwort, Einleitung, Kapitel 1 und Mythologisierung der Zusammenbruchstheorie – Leseprobe 1 aus „Exit“ 10
- Robert Kurz, „Geld ohne Wert“ : Einleitung , „Die Frage lautet: Mit Marx über Marx hinaus oder gegen Marx hinter Marx zurück?“ – Leseprobe 2
- Robert Kurz, „Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“, Kapitel 13, Der fragmentarische Charakter und die verkürzte Rezeption der Marxschen Krisentheorie – Leseprobe 3
- Leseprobe 4 aus Robert Kurz, „Geld ohne Wert“, Kapitel 16, Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
- Leseprobe 5 aus „Exit“ 11, Kapitel 7, Krise und Soziale Emanzipation.
Es lohnt sich, diese Lektüre und ihre Themen zu vertiefen, zumal der interessierte Leser viel und gehaltvollen Inhalt für vergleichsweise wenig Geld erwerben kann. Ein Heft oder Abo der wert-abspaltungskritischen Zeitschrift „Exit“ (über 200 Seiten) kostet 13 €, das mehr als 400 Seiten fassende Buch „Geld ohne Wert“ lediglich 16.90 €. Beides beim Horlemann-Verlag erhältlich.
Ulrich Leicht, Rentner, Industriebuchbinder, langjähriger BR-Vorsitzender, gesellschaftskritischer Aktivist in der IG-Druck, IG Medien, zuletzt ver.di und bei der Gewerkschaftslinken, ehemals Mistreiter in den Projekten „Krisis“ und „Exit“, Vorstandsmitglied bei Labournet.de und Mitglied im Berliner Verein zu Förderung der MEGA-Edition e.V.