Nancy Fraser: „Der Kapitalismus ist ein hungriger Kannibale“

Kapitalismuskritik„… Kannibalismus ist offensichtlich die Metapher der Stunde. Erst kam der linke, romantische Kannibalenfilm „Bones and All“ des Italieners Luca Guadagnino ins Kino (Fressen und gefressen werden: Kannibalismus zu Reagans Zeiten) und dann veröffentlichte die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser ihre kritische Gesellschaftstheorie in ihrem neuen Buch „Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet“ externer Link. Auf Deutsch heißt es „Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ (Suhrkamp)(…) In einer Welt, die gerade von einer Flut aus Kriegen, Krisen und Elend bedroht ist, argumentiert Fraser, dass es eine gemeinsame Quelle für all unsere Probleme gibt – den kannibalischen Kapitalismus, der, bevor er seine eigenen menschlichen und natürlichen Quellen verschlungen hat, bereits an den Nachtisch denkt…“ Beitrag von Tomás Leighton vom 16. Dezember 2022 in Telepolis externer Link, siehe mehr daraus und zu Nancy Fraser:

  • Kapitalismus als Kannibalismus: Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts New
    „Seit dem Ende der Systemkonkurrenz, dem Untergang des realexistierenden Sozialismus, gibt es auf der Welt nur noch ein herrschendes System, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung, nämlich den Kapitalismus. Da aber die globalen Krisen nicht ab-, sondern zunehmen und sich wechselseitig verstärken, stellt sich eine entscheidende Frage: Was stimmt nicht mit dem Kapitalismus? Kritiker, die den Kapitalismus aus einem eher eng gefassten Blickwinkel, als bloße Wirtschaftsform, betrachten, erkennen an ihm drei wesentliche Fehler: Ungerechtigkeit, Irrationalität und Unfreiheit. (…) „Kapitalismus“, so werde ich im Folgenden argumentieren, bezeichnet etwas weit Größeres, Umfassenderes, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundlagen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar. (…) So gesehen ist die Aufgabe, den Sozialismus für das 21. Jahrhundert neu zu denken, durchaus beachtlich. Wenn diese Aufgabe bewältigt werden kann (und das ist ein großes Wenn), dann nur durch die gemeinsamen Anstrengungen vieler Menschen, darunter Aktivisten und Theoretikerinnen. Es gilt, die in sozialen Kämpfen gewonnenen Einsichten mit programmatischem Denken und politischer Organisation zusammenzuführen. In der Hoffnung, einen Beitrag zu diesem Prozess zu leisten, möchte ich abschließend drei Überlegungen anstellen, die zeigen sollen, wie die vorangegangene Diskussion ein neues Licht auf einige klassische Topoi sozialistischen Denkens wirft. (…) Wenn der Sozialismus sämtliche institutionalisierten Formen kapitalistischer Irrationalität, Ungerechtigkeit und Unfreiheit überwinden soll, muss er die Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, dem Ökonomischen und dem Politischen neu denken. (…) Einer dieser Vorzüge ist die Aussicht, den Ökonomismus der gängigen Vorstellungen zu überwinden. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, die Relevanz des Sozialismus für eine breite Palette aktueller Probleme aufzuzeigen, die über die der traditionellen Arbeiterbewegungen hinausgehen, nämlich soziale Reproduktion, struktureller Rassismus, Imperialismus, Entdemokratisierung und Klimawandel. Ein dritter Vorteil ist, dass sie ein neues Licht auf einige klassische Topoi des sozialistischen Denkens werfen kann, darunter institutionelle Grenzen, den sozialen Überschuss und die Rolle der Märkte. Darüber hinaus schließlich hoffe ich, etwas Einfacheres, aber Wichtigeres gezeigt zu haben: dass es sich lohnt, das sozialistische Projekt im 21. Jahrhundert weiterzuverfolgen; dass „Sozialismus“ kein bloßes Schlagwort oder Relikt der Geschichte bleiben muss, sondern der Name einer echten Alternative zu dem System werden kann, das derzeit den Planeten zerstört und unsere Chancen auf ein freies, demokratisches und gutes Leben zunichtemacht.“ Beitrag Nancy Fraser in der Übersetzung von Andreas Wirthensohn aus Blätter 3/2023 externer Link

    • Anm.: Der Beitrag bewegt sich nahe unserer Schmerzgrenze, aber die Diskussion ist wichtig. Immerhin ist es ja zu begrüßen, dass der Kapitalismus wieder so in den Mittelpunkt gerückt wird – auch wenn die Art und Weise fragwürdig ist. Nicht nur Fraser definiert nach Marx den Kapitalismus „neu“ (na ja…), wenn auch sehr fragwürdig. Auch Raúl Sánchez Cedillo versucht ähnlich bekannte marxistische Begriffe, wie z.B. „Klassenkampf“ – im Sinne Negri – zu „multitudelisieren“ (wobei Negri hier noch ein bisschen Neues bietet). Die theoretische Ähnlichkeit zwischen Fraser und Cedillo (Kapitalismus universeller verstehen) ist übrigens nicht zu übersehen. Unsere Kritik lässt sich auf zwei Punkte reduzieren, wobei der erste vereinfacht so dargestellt werden kann: Was hier groß als ebenfalls Teil des Kapitalismus und des Klassenkampf hervorgekehrt wird, ist für uns, immer schon Standard; Feminismus, Rassismus usw. war immer schon Teil des Klassenkampfs von LabourNet. Der zweite Kritikpunkt lässt sich zumindest bei Fraser so polemisch bezeichnen: Was für Kapitalismus-Verständnis hatte Fraser denn davor? Und hat sie überhaupt mal was von Marx gelesen?
  • Weiter aus dem Beitrag von Tomás Leighton vom 16. Dezember 2022 in Telepolis externer Link: „… Ein Teil dessen, was Fraser in ihrem neuen Buch sagt, ist klassisches Wissen: Der Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern er hat sich zu einer sozialen Ordnung entwickelt, die alle Lebensbereiche durchdringt. Besonders interessant ist das Bild des Kapitalismus als eines „hungrigen Kannibalen“, der nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben und die Natur, die uns umgibt, verschlingt. Die Wirtschaft hat inzwischen ein unheilvoll widersprüchliches Verhältnis zu ihren lebenswichtigen Quellen erlangt: zur Sorgearbeit, der Enteignung von rassifizierten Menschen, dem Reichtum, den öffentlichen Gütern, der Staatsmacht oder der Natur. Heute, inmitten der weltweiten Wirtschaftskrise, werden die Widersprüche in jedem von ihnen deutlich. (…) Fraser unterstreicht die Gültigkeit der Arbeiterklasse, indem sie drei Arten von Arbeit unterscheidet: ausgebeutete Arbeit, enteignete Arbeit und domestizierte Arbeit. Aber wie kann man auf der Grundlage dieser Überlegungen dann eine sozialistische Bewegung organisieren? In Anlehnung an den italienischen Theoretiker Antonio Gramsci sieht Fraser die Möglichkeit, einen gegenhegemonialen Block zu bilden, der das vorhandene politische Vakuum füllt. Die Herausforderung darin besteht, die Kämpfe mehrerer sozialer Bewegungen, politischer Parteien, Gewerkschaften und anderer kollektiver Akteure zu koordinieren, um dem Kannibalismus ein Ende zu setzen, da sich jede segmentierte Anstrengung als erfolglos erwiesen hat. Angesichts der Tatsache, dass heute der Rechtspopulismus organisiert und auf dem Vormarsch ist (oft dank seiner pseudo-antikapitalistischen Rhetorik), scheint die Machbarkeit von Frasers politischen Ambitionen in weiter Ferne zu liegen. Vielleicht, es ist notwendig, sich das Ende des Kannibalen vorzustellen, aber wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht selber sterben.“

Siehe auch im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=207078
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