Der Rhythmus der Produktion. Ichzeit und Weltzeit: Indem er uns »in Flow« hält, verformt der Kapitalismus unser Zeitempfinden
„… Mit der ersten eigenen Uhr begann, was der Ernst des Lebens genannt wurde. Ab jetzt schob sich die lineare Zeit der Erwachsenen über die zyklische Zeit der Kindheit. Mit der Einschulung legte man den ersten Schritt in die gesellschaftliche Fremde zurück. Diese begegnete den Kindern in Gestalt eherner Zeitvorgaben und Regeln. Wer zu spät kam, wurde bestraft. (…) Es war der Rhythmus der Produktion, der seit der industriellen Revolution den Rhythmus der Sozialisation einstellte. In der Schulglocke kündigte sich die Fabriksirene an. Kinder sollten durch den Schulbesuch vordringlich lernen, dass man ein Leben lang morgens irgendwohin hinzugehen hatte, wohin man nicht wollte. (…) Die Verinnerlichung der Zeitdisziplin kann als größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment der Geschichte betrachtet werden. (…) Die Rigidität, die das Alltagsleben bis zum Anbruch des konsumistischen Zeitalters kennzeichnete, war nicht nur das Resultat einer moralisch-religiösen Indoktrination: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, sondern zugleich eine prägnante und ungreifbare Determiniertheit, ein Bündel von verkörperlichten Gewohnheiten, von denen man sich nicht so leicht befreien kann. (…) Man kann der hinterherhinkenden subjektiven Zeit durch Praktiken der Selbstoptimierung, die Einnahme von Beschleunigungsdrogen und psychoaktiven Substanzen auf die Sprünge helfen. Gegenwärtig bemühen sich Massen von Menschen, ihr Leben dem Rhythmus des entfesselten Kapitalismus und einer verwilderten Selbsterhaltung zu unterwerfen…“ Wie immer ein sehr lesenswerter Artikel von Götz Eisenberg in der jungen Welt vom 21.04.2021