[Buch] Eine Revolte der Natur

Buch von Wolfgang Hien bei Die Buchmacherei: Eine Revolte der NaturDie vorliegenden Texte sind wertvolle Beiträge für eine gesellschaftliche Linke, die sich kritisch mit der proletarischen Existenzweise und ihrer zunehmenden Prekarität auseinandersetzt und Wege zur Überwindung dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs sucht, um einen anderen Bezug zur Natur, zum Anderen und zu sich selbst herausbilden zu können. Am Ende von Hiens Text wird deutlich, dass ihm befreiungstheologische Perspektiven nicht fremd sind, die in Aufrufen kulminieren, Orte der Nähe, der Freundschaft, der Liebe zu schaffen. In das stahlharte Gehäuse einer als notwendig erachteten Pandemiebekämpfung durch Social Engeneering a la ZeroCovid, die sich durch nichts irritieren lassen will, oder eines septisch reinen „Abstandhalten!“ ist damit eine Bresche geschlagen, um das Licht lebensbejahender Kritik und Praxis leuchten zu lassen.“ Covertext zum soeben erschienenen Buch von Wolfgang Hien bei Die Buchmacherei. Siehe Infos zum Buch sowie – als Leseprobe im LabourNet Germany – die Einleitung „Ein Virus, das nicht nur die Gesellschaftskrise, sondern auch die Krise der Linken sichtbar macht“ – wir danken dem Autor!

Buch von Wolfgang Hien: Eine Revolte der Natur

Einleitung:
Ein Virus, das nicht nur die Gesellschaftskrise, sondern auch die Krise der Linken sichtbar macht

Darüber, dass dieses neuartige Virus das globale System des Kapitalismus in seiner Krisenhaftigkeit sichtbarer gemacht hat, sind sich viele einig, auch darüber, dass nicht nur die politischen Eliten, sondern auch die Linke vom Ausmaß der Pandemie überrascht wurden. Doch gab und gibt es zu vielen Punkten, angefangen von der Einschätzung der tatsächlichen Gefährlichkeit des SARS-CoV-2-Virus bis zur Bewertung der staatlichen Schutzmaßnahmen, erhebliche Differenzen. Der Autor des vorliegenden Buches schätzt die gesundheitlichen Gefahren als durchaus dramatisch ein, vor allem, wenn mensch die Situation auf dem afrikanischen Kontinent bedenkt, wo in vielen Ländern Kranke und Tote überhaupt nicht mehr gezählt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist in vielen Bereichen hilflos, und die Egoismen der sogenannten entwickelten Länder machen traurig und wütend zugleich. Das Menschenrecht auf Gesundheitsschutz wird seit langem – weltweit – durch den Abbau präventiver, kurativer und rehabilitativer Versorgungsstrukturen unterminiert und ausgehebelt. Doch dieser Abbau hat System. Schon von langer Hand wurden die Strukturen so justiert, dass die staatliche Politik einen für die Kapitalverwertung tragbaren Weg einschlagen konnte: Aus dieser Sicht stellte sich die Aufgabe, die Gesundheit der kollektiven Arbeitskraft in den produktiven Kernbereichen weitgehend zu erhalten, während die prekären und nicht-produktiven Bereiche , chaotischen und gesundheitlich verheerenden Kollateralschäden ausgesetzt wurden.[1] Die Bevölkerungsgruppe der Kranken und Alten, die nichts mehr zur Wertschöpfung beiträgt, aber auch die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialbereich zahlten einen hohen Preis. Die WHO schätzt, dass zwischen Januar 2020 und Mai 2021 weltweit Millionen von Gesundheitsarbeiter*innen eine schwere Covid-19-Erkrankung durchlitten und mehr als 100.000, möglicherweise sogar 200.000 Gesundheitsarbeiter*innen an Covid-19 verstorben sind.

Die Corona-Pandemie hat auf vielen Ebenen die gesellschaftliche Krisensituation sichtbarer gemacht, nicht zuletzt auch die Krise der Linken und ihrer verschiedenen Sub-Milieus.[2] Zu beobachten ist eine große Unsicherheit und ein Hin- und Herschwanken zwischen einem Nicht-Glauben-Wollen der Faktenlage, Angst vor autoritären Tendenzen, auch Angst vor Faschisierung der Mittelklassen, und einer Art Schockstarre, einer Unfähigkeit, adäquate Antworten auf die neue Krisensituation zu finden. Meine These ist, dass ein wichtiges Moment dieser Verunsicherung die Unfähigkeit ist, die Gesundheitsschutz-Perspektive als elementaren Teil linker Politik zu begreifen. Es gibt mitunter sogar ein Ausspielen der „Freiheit“ gegen „Gesundheit“. Es ergaben sich geradezu skurrile Debatten, z.B. auch darüber, warum man sich nicht über andere schwere Epidemien, so z.B. Malaria, die jährlich mehr als eine Million Todesopfer kostet, aufrege. Wer die Aktivitäten von einer Organisation wie medico international verfolgt, die sich seit Jahrzehnten mit großer Energie diesem Thema widmet, kann sich über derartige Fragen nur wundern. Es kann doch nicht darum gehen, die eine Krankheit gegen die andere auszuspielen. Es muss vielmehr darum gehen, vermeidbares Leid und vermeidbaren Tod zu bekämpfen, überall auf der Welt und überall da, wo es gesellschaftlich hergestellte Ursachen gibt oder gesellschaftliche Strukturen Prävention, Kuration und Rehabilitation verhindern oder erschweren. Notwendig ist, die Pandemie zum Anlass zu nehmen, sich über die Wege und Irrwege des Gattungswesens Mensch, eingebunden in ein materielles und ideologisches Netz von Macht und Herrschaft, Gedanken zu machen.

Die Corona-Pandemie ist mitnichten eine aus heiterem Himmel gekommene „Naturkatastrophe“. Der globale Himmel ist schon lange verdüstert, nicht nur durch den industriell und verkehrspolitisch hergestellten Klimawandel, sondern auch durch den gigantischen Raubbau der Natur, die Zerstörung von Naturzonen, durch die Einengung natürlicher Lebensräume von Tieren, durch industrielle Landwirtschaft und Massentierhaltung. Viren sind Bestandteile der Tierwelt, wobei diese Viren umso leichter die Speziesgrenzen überschreiten, desto mehr der Mensch in die Lebenswelt der Tiere eindringt.[3] Covid-19 ist in diesem Sinne eindeutig eine Zoonose, d.h. die Folge einer Übertragung eines ursprünglich in Wildtieren beheimateten Virus auf den Menschen. Insofern muss die Pandemie im globalen Zusammenhang einer Krise der gesellschaft­lichen Naturverhältnisse interpretiert werde, d.h. in einem viel weiteren Kontext, als das manche kleinteiligen und oftmals kleinkarierten Debatten sehen wollen. Die Pandemie kann im politischen und philosophischen Sinne als eine Revolte der Natur gegen die zerstörerische Praxis des globalen Kapitalismus verstanden werden. Es ist sicher richtig und wichtig, sich über Daten und Fakten zu streiten, doch ebenso richtig und wichtig ist es, den Horizont zu erweitern und auch grundsätzliche Frage zu stellen.[4] Materialistische Theorie verzichtet keinesfalls auf philosophische Fragen, d.h. Interpretation der Verhältnisse und Veränderung der Verhältnisse sollten nicht als Alternative begriffen werden. Beides ist notwendig, zumal die globale Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auch Fragen aufwirft wie die nach Leben und Sterben überhaupt und nach dem Überleben des Gattungswesen Mensch auf diesem Planeten.

Die Corona-Pandemie brachte einen tiefgreifenden Einschnitt in unser aller soziales Leben. Für viele Menschen verschlechterte sich ihre materielle Lage, vor allem, wenn ihre Arbeits- und Lebensverhältnissen ohnehin schon prekär waren. Die Pandemie und insbesondere die staatliche Pandemiepolitik hatte zudem gravierende Auswirkungen auf die mentale Lage vieler Menschen, so auch derer, die dem kapitalistischen System kritisch gegenüberstehen. Gesellschaftskritik verwickelte sich in einem Gestrüpp zwischen richtiger und falscher Sachinformation, Leugnung und Überhöhung der Gefahren und Menschenrechtsdebatten, in denen die Schwierigkeit sichtbar wurde, Freiheit und Gesundheit zusammenzudenken. Die Pandemie machte die Krise der politischen Linken für alle viel sichtbarer, genauer: Die Pandemie brachte viele Menschen, so auch gesellschafskritisch eingestellte Menschen, an sehr existenzielle Fragen, z.B. geradezu an existenzielle Abgründe. Es ist tragisch zu erleben, wie sich engagierte Menschen, die sich jahrelang Seite an Seite für eine gute Sache eingesetzt haben, nicht mehr verstanden und sich auseinanderdividierten. Es ergaben sich Debatten, in denen sich die Argumente im Dschungel von Halbwahrheiten, Vermutungen, Unterstellungen und Vorwürfen verloren. Doch es gab und gibt auch Arenen und Räume, in denen solidarisch, offen und kreativ diskutiert wurde. Ein solcher Raum war der Verein für kritische Arbeits-, Gesundheits- und Lebenswissenschaft, im Rahmen dessen Gespräche und Veranstaltungen in Bremen und Ludwigshafen/Rhein zum Thema Pandemie stattfanden.[5] Zusätzlich ergaben sich Debatten mit Peter Birke von der Zeitschrift Sozialgeschichte Online, mit Elisabeth Voss und Peter Nowak anlässlich verschiedener Zoom-Konferenzen, mit Thomas Ebermann und Freunden vom „Polittbüro“ Hamburg, mit Andreas Wulff von medico international, mit Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, mit Angela Klein von der Zeitschrift SOZ und vielen anderen.[6] Das vorliegende Buch widerspiegelt einen breit geführten Diskurs und das, was sich für den Autor des vorliegenden Buches als Destillat daraus ergab. Die in vielen Hinsichten neuartige Corona-Pandemie hat fundamentale Fragen unseres gesellschaftlichen Seins aufgeworfen. Das Buch versucht, einigen dieser Fragen nachzugehen. Antworten sind schwierig, zumal die globalen Verhältnisse – das sei allen Vereinfacher*innen ins Stammbaum geschrieben – chaotisch und in manchen Teilen bisher kaum entzifferbar sind. So wissen wir über viele Regionen dieser Welt wenig, und schon gar nichts Aussagekräftiges, was die Pandemie und ihre Folgen anbelangt.

Das vorliegende Buch spannt einen Bogen von der Thematisierung der Arbeitsverhältnisse unter Corona-Bedingungen über medizingeschichtliche Aspekte bis hin zu philosophischen Betrachtungen zu Freiheitsrechten, Naturverhältnissen und Sorgeethik. Zur Sprache kommen sowohl arbeits- und gesundheitssoziologische Themen als auch naturphilosophische und existenzphilosophische Fragen, ohne dass hierfür schlüssige oder gar eindeutige Antworten gegeben werden können.

Das Buch versammelt Aufsätze und Vorträge des Autors, die im Jahr 2021 zu verschiedenen Aspekten der Corona-Pandemie entstanden sind.

Zunächst war die Situation der Arbeiter*innen-Klasse und hier vor allem die Situation der Pflegearbeiter*innen das vorrangige Thema. Das unter kapitalistisch-betriebswirtschaftlichem Vorzeichen marode „reorganisierte“ Gesundheits- und Sozialsystem bürdet den in ihr Arbeitenden exorbitante Belastungen auf, die von der herrschenden Politik gleichsam als „normal“ angesehen werden. Ähnlich geht es den Massenarbeiter*innen in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelindustrie, in der Logistik, in vielen Produktions- und in weiteren prekären Bereichen. Die politischen Lippen­bekenntnisse sind ein Hohn, wenn Mensch die reale Situation derer bedenkt, die nicht ins Homeoffice gehen können, sondern trotz Risiken jeden Tag Kopf an Kopf und Schulter an Schulter arbeiten müssen.

Im zweiten Beitrag wird die Frage beleuchtet, inwieweit Gesundheitsschutz und Freiheit im Widerspruch zueinander stehen. Um sich dieser Frage zu nähern, wird auf die Geschichte der Hygiene und des Seuchenschutzes von Rudolf Virchow bis heute rekurriert. Die Erkenntnisse der Sozialhygiene könnten einiges zur Erhellung der heutigen Problematik beitragen. Dem steht die radikalliberale Tradition entgegen, die immer bemüht war und nach wie vor bemüht ist, die Freiheit des bürgerlichen und unternehmerischen Individuums höher zu bewerten als die sozial orientierte Medizin. Hier zeigt sich, dass der übliche Freiheitsbegriff kritisch hinterfragt werden muss. Freiheit im emanzipatorischen Sinne kann nur eine soziale Freiheit sein, die die Freiheit des anderen Menschen nicht nur einbezieht, sondern zum prioritären Ankerpunkt macht.

Im dritten Beitrag geht es um die grundsätzliche Problematik der naturwissenschaftlich formierten Weltsicht, die eine Form der Naturbeherrschung hervorrief, die das Leben auf unserem Planeten zunichtemachen kann. Plädiert wird für eine andere Art der Naturbetrachtung und eine andere Art von Wissenschaft, Wahrnehmung und Erkenntnis, die Abschied nimmt von der Idee, die Wirklichkeit sei immer exakt bestimmbar und planbar. Entscheidend sind ganz andere Ebenen, d.h. entscheidend für eine neue Gesellschaftlichkeit sind auch die „weichen“ Faktoren, so beispielsweise ein Reflektieren über die Frage, wie Menschen unterschiedlicher Orientierung miteinander leben können und Gemeinschaft und Gesellschaft gestalten können. Damit kommen auch Fragen der Sozialpsychologie, Sozialphilosophie und Sozialethikgeht ins Spiel. Nicht zuletzt wird die Frage aufgeworfen, wie wir mit unseren Körpern, unserer Psyche, unserer den Körper und die Seele umfassenden Leiblichkeit und unserer leiblichen Existenz inmitten der globalen Weltgemeinschaft umgehen wollen. Es ist dies auch die Frage nach der Menschenwürde, die Gesundheitsschutz und Freiheit mit einschließt.

Die vorliegenden Aufsätze sind im Dialog entstanden. Zu danken ist vielen Menschen, insbesondere den Mitgliedern des Vereins für kritische Arbeits-, Gesundheits- und Lebenswissenschaft, die mir sowohl schriftlich wie mündlich ihre Einwände und Ergänzungen zu meinen Inputs gegeben haben.

Anmerkungen

1) Vgl. Thomas Ebermann: Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie. Konkret, Hamburg 2021.

2) Gerhard Hanloser / Peter Nowak / Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Verein zur Förderung sozialpolitischer Arbeit, Berlin 2021

3) Rob Wallace: Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat. Papyrossa, Köln 2020.

4) Diesen Fehler, sich zu sehr auf die ohnehin unsichere Datenlage zu konzentrieren und dabei einige grundsätzliche Fragen aus dem Blick zu verlieren, macht das neue Buch von Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen. Antje Kunstmann, München 2022.

5) Vgl. https://verein-agl.de/category/gesundheit-oe/ externer Link; vgl. auch: https://verein-agl.de/category/gesundheitswissenschaft-oe/ externer Link

6) Ein Beispiel für die vielen, sich mit der Frage der Pandemie, der Problematik der Schutzmaßnahmen und der Gesellschaftskritik befassenden Diskussionen, bei denen ich mitwirken durfte, ist der Polittbüro-Abend „Denken statt Talkshow“ am 20. Februar 2022 in Hamburg: https://www.youtube.com/watch?v=ax65V-4g1bo externer Link

Siehe zum Thema v.a. unsere Dossiers:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=203600
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