(Bleibende?) Lehren aus der Coronakrise für postkapitalistische Zeiten

Dossier

"make the rich pay for Covid19!" Wir danken den Industrial Workers of the World im deutschsprachigen Raum [IWW]

Wir danken den Industrial Workers of the World im deutschsprachigen Raum [IWW] für das neue Bild zum Dossier!

„… Das Wir hat dieser Tage, in den Zeiten eines grassierenden Pandemie Totalitarismus Konjunktion. Ein Großteil der Linken sublimiert sich unter diesem Wir. (…) Aber was machen sie auf der anderen Straßenseite, wenn die meisten von uns unter Hausarrest stehen? Die Panzer der Armee sind bereits da. Das Staatsoberhaupt und seine Lakaien drängen uns zur Arbeit. Die Polizisten patrouillieren. Die Parlamentarier sind im Notfallausschuss. Die Experten stottern. Die Bankiers schwitzen, nicht wegen des Fiebers. Die Journalisten sterben. Ihre größte Sorge ist der nächste Schritt. Der Krieg, den sie führen, ist nicht neu, ihr Feind ist kein Virus. Sie bereiten die nächste Etappe vor…“ Beitrag „Danach – Von der totalen Gefangenschaft zur allgemeinen Desertion“ von Sebastian Lotzer vom 22. März 2020 bei non.copyriot.com externer Link, der – gegenüber akuten Fragen der Solidarität in Zeiten von Corona – und linke Widerstandsstrukturen – in die systemverändernden Perspektiven der Corona-Krise blickt. Siehe dazu weitere Beiträge und Forderungen zur Debatte (denen wir nicht unbedingt zustimmen):

  • Wiederentdeckt in der Krise: Die Renaissance der öffentlichen Daseinsvorsorge New
    „Wohnen, Verkehr, Gesundheit: In den 90er-Jahren wurden viele Aufgaben, die zuvor der Staat erledigte, dem Markt überlassen. In der Krisenzeit erleben die Menschen nun, wie wichtig eine funktionierende und bezahlbare Infrastruktur ist. Eine Demonstration 2019 in Berlin. Aufgerufen hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Seit Jahren setzen sich Menschen in Deutschland für eine stärkere Rolle des Staates auf dem Wohnungsmarkt ein. Die Mehrheit der Berliner Bürger stimmte bei einem Volksentscheid 2021 sogar für die Enteignung großer Wohnungsbaukonzerne. Mieten haben sich in der Hauptstadt in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Private Immobilienbesitzer haben die Entwicklung angetrieben. Der Wunsch nach einem stärkeren Staat in Bereichen der Daseinsvorsorge wie Wohnen, Verkehr oder Gesundheit war auch Thema bei einer Konferenz zur Vergesellschaftung im Oktober in der Hauptstadt. Mitorganisator Vincent Janz: „Alle diese Sektoren zeigen trotz ihrer grundlegenden Unterschiedlichkeiten ähnliche Muster: Die zunehmende Privatisierung von Produktion und Dienstleistungen durch Großkonzerne, die eigentlich zur Sicherung der allgemeinen Daseinsvorsorge aller dienen, führt nicht zur umfassenden Grundversorgung der Allgemeinheit. Stattdessen erlaubt sie den Zugang zu essentiellen Gütern und Leistungen nur jenen, die es sich leisten können.“ (…) Derzeit schlage das Pendel sogar um: Mehr Staat, weniger Markt. Womöglich muss der Staat sogar mehr erledigen, weil es sich für private Investoren nicht mehr rechnet. Wir werden Bereiche bekommen, wo die Privaten sagen, das ist uns zu teuer, diese Daseinsvorsorgeeinrichtung zu halten. Macht damit was ihr wollt“, sagt Bauingenieur Carl Waßmuth (*) und verweist auf drastisch steigende Kreditkosten. Vorbei ist die lange Niedrigzinsphase, in der Investoren sich günstig finanzieren konnten. Zur Bekämpfung der Inflation haben die Zentralbanken die Zinsen deutlich erhöht, weitere Erhöhungen werden erwartet. Die Zinsfrage verändere das System radikal. „Diese Frage wird die Daseinsvorsorge sicherlich rumwirbeln und gibt uns die Möglichkeit in die Diskussion einzusteigen und zu sagen, okay machen wir es öffentlich, dann sind wir aus diesem Zirkus raus. Dann sind wir nicht mehr in diesem Roulette und können einfach wieder zurückkehren zu dem System: Wir zahlen aus unseren Steuergeldern und Gebühren das, was wir in der Daseinsvorsorge brauchen und verbrauchen und nicht mehr und nicht weniger.“ Reportage von Caspar Dohmen beim Deutschlandfunk am 28. November 2022 externer Link Audio Datei (Audiolänge: ca. 19 Min.)
  • David Graeber: After the Pandemic, We Can’t Go Back to Sleep [Nach der Pandemie können wir nicht wieder schlafen gehen] 
    „Irgendwann in den nächsten Monaten wird die Krise für beendet erklärt, und wir werden in der Lage sein, zu unseren „nicht lebensnotwendigen“ Jobs zurückzukehren. Für viele wird dies wie das Erwachen aus einem Traum sein. Die Medien und die politischen Klassen werden uns definitiv ermutigen, so darüber zu denken. So geschah es nach dem Finanzcrash von 2008. Es gab einen kurzen Moment des Fragens. Was sind überhaupt „Finanzen“? Sind es nicht nur die Schulden anderer Leute? Was ist Geld? Sind es auch nur Schulden? Was sind Schulden? Sind sie nicht nur ein Versprechen? Wenn Geld und Schulden nur eine Ansammlung von Versprechen sind, die wir einander machen, könnten wir dann nicht auch genauso einfach mehr davon machen? Das Fenster wurde fast sofort von denen geschlossen, die darauf bestanden, dass wir die Klappe halten, aufhören zu denken und wieder an die Arbeit gehen oder zumindest anfangen, danach zu suchen. Letztes Mal sind die meisten von uns darauf hereingefallen. Diesmal ist es entscheidend, dass wir es nicht tun. Denn in Wirklichkeit war die Krise, die wir gerade erlebt haben, das Erwachen aus einem Traum, eine Konfrontation mit der aktuellen Realität des menschlichen Lebens, nämlich dass wir eine Ansammlung zerbrechlicher Wesen sind, die sich umeinander kümmern, und dass diejenigen, die den Löwenanteil dieser Sorgearbeit leisten, die uns am Leben hält, überfordert, unterbezahlt und täglich gedemütigt werden und dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung nichts anderes tut, als Phantasien zu spinnen, Mieten zu kassieren und sich nur denen in den Weg zu stellen, die Dinge herstellen, reparieren, bewegen und transportieren oder sich um die Bedürfnisse anderer Lebewesen kümmern. Es ist unbedingt erforderlich, dass wir nicht in eine Realität zurückfallen, in der all dies einen unerklärlichen Sinn ergibt, wie es sinnlose Dinge so oft in Träumen tun. Wie wäre es damit: Warum hören wir nicht auf, es ganz normal zu sehen, dass je offensichtlicher die eigene Arbeit anderen zugute kommt, desto weniger wird man wahrscheinlich dafür bezahlt; Oder darauf bestehen, dass die Finanzmärkte der beste Weg sind, um langfristige Investitionen zu lenken, selbst wenn sie uns dazu treiben, das meiste Leben auf der Erde zu zerstören? Warum erinnern wir uns nicht stattdessen, sobald der aktuelle Notstand für beendet erklärt wurde, tatsächlich an das, was wir gelernt haben: Wenn „die Wirtschaft“ irgendetwas bedeutet, dann ist es die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig mit dem versorgen, was wir zum Leben brauchen (in jeder Hinsicht); dass das, was wir „den Markt“ nennen, größtenteils nur eine Möglichkeit ist, die aggregierten Wünsche reicher Leute zu tabellieren, von denen die meisten zumindest leicht pathologisch sind und von denen die Mächtigsten bereits die Entwürfe für die Bunker* fertiggestellt haben, in die sie geplant haben zu entkommen, wenn wir weiterhin dumm genug sind, den Vorträgen ihrer Günstlinge zu glauben, dass uns allen kollektiv zu wenig grundlegender gesunder Menschenverstand in Bezug auf bevorstehende Katastrophen fehlt…“ Deutsche Übersetzung eines Essays von David Graeber bei Eine-Welt-Wiki April 2022 externer Link (englischsprachiges Original erschien bei Jacobin im 3. April 2022)
  • Neoliberalismus zum Aus- und Anschalten: Angesichts der wachsenden Rolle des Staats in der Pandemie auf einen linken Politikwechsel zu hoffen, zeugt von einem großen Missverständnis 
    „Als sich Anfang 2020 Sars-CoV-2 weltweit ausbreitete, wurde fast überall das öffentliche Leben lahmgelegt. (…) Tatsächlich trat die Aufgabe des Staats, im als gesamtgesellschaftlich verstandenen Interesse zu intervenieren, in der Pandemie deutlicher hervor. (…) Um sich die Bedeutung der staatlichen Intervention in Deutschland klarzumachen, lohnt der Vergleich mit der Lage der Menschen in den unteren Etagen der Weltwirtschaft, zum Beispiel der Beschäftigten in der Textilindustrie Südasiens. In seinem kürzlich erschienen Buch »Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen« beschreibt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, wie Arbeiter in Bangladesh vor ihren Fabriken protestieren mussten, um, nachdem die europäischen Abnehmer ihre Aufträge gekündigt hatten, zumindest ihren ausstehenden Lohn zu erhalten. Schlimmer traf es informell Beschäftigte, etwa solche, die zu Hause Stückarbeit leisten. »Allein in Pakistan gab es schätzungsweise 12 Millionen Heimarbeiter, die zwölf Stunden am Tag für weniger als 40 Cent pro Stunde schufteten und die alle in ihrer Existenz bedroht waren«, schreibt Tooze. Weil viele dieser Arbeiter Mikrokredite für ein Haus abbezahlten, bedeutete die plötzliche Arbeitslosigkeit für sie den Ruin. Vor einem derart heftigen Durchschlagen der Krise schützen die reichen Länder die meisten ihrer Bewohner. Doch auch ihre Ausgabenprogramme waren keineswegs linke Wirtschaftsreformen, sondern dienten – worauf Thomas Schwendener hinweist – primär dazu, die Finanzmärkte zu stützen. Sie kamen deshalb vor allem den Vermögenden zugute. (…) Während Millionen Hunger litten, »war 2020 für die Hochvermögenden das finanziell erfolgreichste Jahr in der Menschheitsgeschichte«, resümierte der Ökonom Marcel Fratzscher in der Zeit. Auch in Deutschland sei der Financial Times zufolge 2020 die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre um 29 auf 136 gestiegen, ihr Vermögen wuchs um mehr als 100 Milliarden Euro, obwohl die Wirtschaftsleistung insgesamt zurückging. Diese Zahlen weisen darauf hin, warum der sogenannte Neoliberalismus in Krisenzeiten stets außer Mode gerät. Laufen die Geschäfte gut, fordern die Lautsprecher des Kapitals Deregulierung und eine Entfesselung der Märkte; laufen die Geschäfte weniger gut, fordern sie Austerität und Lohnzurückhaltung. Wenn aber die Wirtschaft einbricht, wird plötzlich die Notwendigkeit eines starken Staats wiederentdeckt, der mit Milliarden die Märkte stabilisiert. (…) Wenn der neue starke Staat vor allem dazu dient, im Interesse des Kapitals und bestenfalls noch der Mittelschicht der reichen und mächtigen Staaten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren, mag sich das für die Linke anfühlen, als hätte sie Wind in den Segeln, aber gesellschaftliche Veränderungen wird es auf diesem Weg nicht geben.“ Artikel von Paul Simon vom 11. November 2021 aus der Jungle World 2021/45 externer Link
  • Neoliberalismus: Jeder sorgt für sich allein. Die Pandemie hat gezeigt, wie prekär das Leben im Neoliberalismus schon vorher war 
    „… Nichts längerfristig planen zu können, ist für viele Menschen keine neue Erfahrung. Nicht erst die Corona-Pandemie macht den Alltag unkalkulierbar. Prekarität und Prekarisierung sind längst normal geworden – nicht nur als Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen, sondern als Verunsicherung des ganzen Lebens. Seit den 1990er Jahren werden Finanz- und Arbeitsmärkte auch in Europa dereguliert: Arbeitsschutz und sichere Arbeitsplätze werden zugunsten befristeter Verträge und Projektarbeiten abgebaut, die europäischen Sozialstaaten wurden umgebaut, die Gesundheitssysteme nach Profit umorganisiert. (…) In der auf selbstverantwortlicher Vorsorge basierenden neoliberalen Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte gelangte die Logik von Prävention und Risiko schließlich zur Blüte: Der verknappte und profitorientierte Sozialstaat verfolgt die individualisierende Strategie von »Fördern und Fordern«, von Belohnen und Strafen und richtet sich direkt an das selbstverantwortliche Verhalten der Individuen. Das Paradigma der Prävention ist in Europa, vor allem auch aus Kostengründen, tief in den neoliberalen Um- und Abbau der Sozialstaaten eingeschrieben und längst zu einer normalisierten Selbstdisziplinierung und Selbstkontrolle geworden: zum normalisierten Teil von gouvernementaler Subjektivierung. Wer sich nicht ausreichend um sich selbst sorgt und vorsorgt, ist selbst schuld. Das schlechte Gewissen und die Unzufriedenheit über die ungenügende Selbstregulierung sind grenzenlos.(…) Inmitten der pandemischen Phase wird offensichtlich, dass Unplanbarkeit für manche Wirtschaftsbereiche keineswegs ein Hemmnis darstellt. Im Gegenteil werden Unvorhersehbarkeit und Kontingenz gerade für eine mit und nach der Krise erstarkende kapitalistische Wirtschaft maßgebend. Die zunehmende Kalkulation mit Unsicherheit zeichnet sich bereits deutlich in einer Verschärfung von prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen ab. In einer extremen Verdichtung und Beschleunigung erfahren wir mit der Corona-Pandemie, was »normal« wird. Nicht vorbereitet zu sein, ist seit Jahrzehnten Teil neoliberaler Ökonomie und Politik, in der die Versorgung des öffentlichen Gesundheitswesens abgebaut, im Sinne privatwirtschaftlicher Profitlogiken umgebaut und die Vorsorge in der Verantwortung der Einzelnen gelegt wurde. Es war weder von staatlicher noch von ökonomischer Seite von Interesse, vorbereitet (gewesen) zu sein: zu viele Kosten, zu viel Stillstand der Zirkulation, zu viel Lagerung. Das Risiko einer Just-in-time-Bekämpfung der Epidemie wurde und wird in Kauf genommen. (…) Bedrohungen der Zirkulation durch Blockaden oder Arbeitsstreiks werden wiederholt als kriminelle Akte behandelt. Immer wieder werden entlang von Logistikketten Arbeits- und Lebensrechte massiv verletzt und extreme Ausbeutung praktiziert. Flexibel regulierte temporäre Jobs sind nicht selten mit einer entsprechend temporären Arbeitsmigration verbunden und inhärenter Bestandteil der Just-in-time-Produktion von Waren wie auch von Pflege- und Reinigungsdienstleistungen. Logistik ist keine straff organisierte Produktionsmaschinerie, sondern ein Management von »Kontingenz, Experimenten, Verhandlung und instabilen Verpflichtungen« (Anna Tsing). Logistik ist das Management des Unvorhersehbaren mit den entsprechenden unkalkulierbaren prekären Jobs.“…“ Artikel von Isabell Lorey vom 5. November 2021 in neues Deutschland online externer Link
  • Wie Corona die Generation Z radikalisiert. Jugendliche in Europa wurden befragt, wie die Krise ihr Leben beeinflusst hat. Sie antworteten mit Frust, aber auch mit radikaler Kapitalismuskritik 
    Die britische Zeitung The Guardian hat Europäer*innen in ihren späten Teenager- und frühen Zwanzigerjahren externer Link gefragt, wie sich die Pandemie auf sie ausgewirkt hat. Man hätte Frust erwarten können: über verlorene Jobs, gezwungenermaßen abflauende Freundschaften, abgesagte Termine. Doch als Antwort bekam man Kapitalismuskritik zu hören. Diese Generation junger Menschen ist in der Lage, systemische Schlüsse aus der Art und Weise zu ziehen, wie die politischen Eliten die Pandemie gehandhabt haben – ganz wie ihre Vorgänger, die aus den Protesten im Zuge der Bankenkrise 2008 hervorgingen. Sie wissen, dass sie höhere Steuern zahlen, eine größere private Verschuldung tragen und mehr Unsicherheit aushalten werden müssen als jede andere Generation seit dem Zweiten Weltkrieg. Ihnen ist klar, dass sie sich neben dem Scherbenhaufen nach der Coronakrise in naher Zukunft mit einem Klimanotstand werden beschäftigen müssen. Und genau so klar ist ihnen, dass sie die Politik der Gegenwart nicht beeinflussen können. Das ist, wie wir mit dem nahenden Sommer sehr bald sehen werden, eine explosive Mischung. Von Dublin bis Cardiff, von Barcelona bis Berlin – überall reagieren junge Menschen auf die Lockerungen mit demonstrativem Feiern: spontane Raves, plötzliche Übernahmen ganzer Strände, Zusammenkünfte auf den Partymeilen verschiedener Städte. Überall, wo sich Protest finden lässt – wie zum Beispiel bei den propalästinensischen Demonstrationen in London vergangenen Monat – treten Jugendliche als große, laute und widerständige Gruppen auf. Ihre Aussagen beweisen allerdings, das hinter der Erleichterung eine tiefe Frustration sitzt. Weil ältere Menschen mehrheitlich die physischen Risiken der Corona-Pandemie getragen haben, mussten die Jungen die psychischen ertragen. (…) Wäre das von Zahlungen, Unterstützung und allen voran einer symbolischen Sympathie gegenüber den sozialliberalen Ansichten und der Kultur der Unter-24-jährigen begleitet worden, hätte man den Gegenwind vielleicht abschwächen können. Stattdessen durften sie sich anhören, wie ihre Ansichten und ihr Lifestyle als „woke“ belächelt wurde. Gleichzeitig beobachteten sie, wie Politiker*innen aller Richtungen wie besessen davon waren, sozialen Konservatismus zu propagieren und die materiellen Interessen von Hausbesitzer*innen, Unternehmer*innen und Menschen zu unterstützen, die bereits auf einem stabilen Karrierepfad sind. (…) Im Hinblick auf die Pandemie schätzen die Jugendlichen in den meisten Ländern, aus denen Daten vorliegen, die Handlungen der Mächtigen als inkompetent, kurzsichtig oder korrupt ein. Retrospektiv kann der gesamte politische Zyklus seit 2008 als eine Antwort auf die Finanzkrise betrachtet werden. 18-Jährige begriffen damals, dass ihre Zukunft abgesagt wurde. Sie gingen auf die Straße, wurden mit dem Wasserwerfer begrüßt und brachten sich in der Folge in politischen Bewegungen wie Podemos, Syriza, dem Corbynismus oder der Bernie-Sanders-Kampagne ein. Der Corona-Schock ist in vielerlei Hinsicht größer als der Schock von 2008. Er hat einer ganzen Generation verdeutlicht, dass niemand zur Hilfe eilen wird, wenn es Ernst wird…“ Artikel von Paul Mason in der Übersetzung durch Konstantin Nowotny am 06.06.2021 in der Freitag online externer Link
  • [Buch] „Für alle, nicht die Wenigen: Warum wir unsere Zukunft nicht den Märkten überlassen dürfen“ 
    „… Das Zusammentreffen von Klimakrise und Coronapandemie hat die Schwächen und die Hilfslosigkeit des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells wie unter einem Brennglas offengelegt. Der sogenannte freie Markt und seine ungezügelte Profitorientierung haben zu einer tiefen sozialen Spaltung unserer Gesellschaft und zur Ausgrenzung von immer mehr Menschen geführt. Höchste Zeit gegenzusteuern, fordern die Autorinnen und Autoren des Buches „Für alle, nicht die Wenigen“, das Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband, Melanie Weber-Moritz vom Deutschen Mieterbund und Olaf Bandt vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland heute in Berlin in der Landesvertretung Baden-Württemberg vorgestellt haben. „Auf einem Markt, den Profitmaximierung und Konkurrenzdenken beherrschen, geraten sowohl der Mensch als Individuum wie auch die kollektiven Güter, die er zum Leben braucht, aus dem Blick“, mahnte Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. (…) Das gilt besonders auch für den Bereich Wohnen: „Die Mieten in Deutschland stiegen auch im Krisenjahr 2020 ungebremst, trotz Corona-Pandemie, Wirtschaftsabschwung und Kurzarbeit“, so Melanie Weber-Moritz, Bundesdirektorin des Deutschen Mieterbundes. (…) Olaf Bandt ist Vorsitzender des BUND und rückt die sowohl ökologischen als auch sozialen Verwerfungen in den Fokus, die der Klimawandel mit sich bringt. Er fordert: „Für eine ökologische und gerechte Republik braucht es einen aktiven Staat und aktive Bürger*innen. Wir treten für eine Neuordnung von Verantwortung und Gestaltungswillen im Verhältnis zwischen Markt, Staat und Gesellschaft ein.“ (…) Ulrich Schneider hat namhafte Expertinnen und Experten aus den Bereichen Gesundheit, Kultur, Energie, Verkehr und Landwirtschaft versammelt, die die Grenzen eines profitorientierten Wirtschaftens aufdecken und Alternativen aufzeigen: Dierk Hirschel, Olaf Bandt, Elisabeth Fresen, Melanie Weber-Moritz, René Mono, Olaf Zimmermann, Mara Dehmer, Joachim Rock, Rolf Rosenbrock und Cornelia Harrer…“ Pressemitteilung des Paritätischen Gesamtverbands vom 2. Juni 2021 externer Link – „Für alle, nicht die Wenigen“, hrsg. von Ulrich Schneider, erscheint am 7. Juni 2021 beim Westend Verlag
  • Was uns die Pariser Kommune über die Masken-Affäre lehren kann 
    „Heute vor 150 Jahren haben die Kommunard:innen in Paris die Regierungsgewalt in ihre eigenen Hände genommen. Dabei haben sie jegliche Privilegien abgeschafft, um die Arbeiter:innendemokratie zu garantieren. Angesichts der Korruptionsaffäre der Unionsparteien sind die Erfahrungen der Pariser Kommune umso interessanter. (…) Als radikaldemokratische Forderungen bezeichnen wir “die radikalsten Formen, die die bürgerliche Demokratie annehmen kann”, wie Diego Lotito am Beispiel des Übergangsprogramms darlegt. Dazu zählen Punkte “wie die Verfassungsgebende Versammlung, die Abschaffung des Präsidentenamts und die Vereinigung der Exekutive und Legislative in einer einzigen Kammer, die Abwählbarkeit von Mandatsträger*innen. Und dann gibt es noch ‘demokratische Übergangsforderungen’, die den Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie in Frage stellen, wie zum Beispiel die Forderung, dass Träger*innen politischer Posten nicht mehr verdienen dürfen als einen Arbeiter*innenlohn, die als große historische Vorgängerin die Pariser Kommune von 1871 hat (die erste Arbeiter*innenregierung der Geschichte).” In Anbetracht der jüngsten Korruptionsskandale in Deutschland müssen wir in unsere Anklagen gegen die Bundesregierung solche radikaldemokratischen Forderungen einbetten, um die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen voranzutreiben. Die Bestechungen durch Nebeneinkünfte und Lobbyismus oder die Verstrickungen in zwielichtige Geschäfte durch die aktive Nutzung von Privilegien können nicht durch eine “Ehrenerklärung” gelöst werden. Die bürgerlichen Politiker:innen sind Vertreter:innen der kapitalistischen Klasse, das Problem liegt also tiefer. Die jüngsten Korruptionsskandale haben erneut gezeigt, dass die privilegierte Stellung der Abgeordneten dazu beiträgt, dass sie sich auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter:innenklasse – bislang – ohne wirkliche Konsequenzen bereichern können. In den Skandalen um die Vergabe von Aufträgen für Masken, in die Abgeordnete der CDU/CSU verwickelt waren, sind die korrupten Politiker nicht absetzbar, sondern treten nur zurück – und kassieren trotzdem munter weiter monatlich Pensionen über mehrere tausend Euro. (…) Die immensen Summen, mit denen sich Georg Nüßlein, Nikolas Löbel, Alfred Sauter und Co. bereichert haben sollen, sind noch nicht einmal zurückgezahlt worden. Nüßleins Beraterfirma soll 660.000 Euro, Sauter allein über eine Millionen Euro erhalten haben – eine unvorstellbare Menge Geld für die meisten von uns, das in der Pandemie vielen Menschen, die durch die Krise ihre Jobs verloren haben und von Existenzängsten geplagt sind, zugute kommen könnte…“ Beitrag von Baran Serhad und Lea Lotter vom 18. März 2021 bei ‚Klasse gegen Klasse‘ externer Link – siehe auch unser Dossier: Frühjahr 1871: Die Tage der (vielen) Kommunen in Frankreich
  • Klassenkämpfe während Corona – und Perspektiven für die Zeit danach 
    „… Während sich einige größtenteils ins Homeoffice zurückziehen konnten, mussten Beschäftigte in sogenannten systemrelevanten Berufen, etwa Lieferfahrer*innen, Logistikarbeiter*innen und Fleischfabrikbeschäftige, weiterhin draußen arbeiten – oft unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen und mit vergleichsweise geringem Lohn. Die Arbeitsbedingungen haben sich unter den Vorzeichen der Pandemie häufig verschlechtert. Gleichzeitig stieg das öffentliche Interesse für die Beschäftigten und ihre Situation in systemrelevanten Branchen. Das stärkt potenziell ihre Arbeitsmacht und damit die Voraussetzungen für Arbeitskämpfe. Aber können sie die auch nutzen? Und wenn ja, in welcher Weise? Wie sind Organisierungen während einer Pandemie möglich? Können nur die bereits gut Organsierten schnell darauf reagieren? Ermöglicht eine veränderte Situation wie der Shutdown, spontan in den Arbeitskampf einzusteigen? Wie können daraus verlässliche Strukturen entstehen? Wie organisieren sich diese Arbeiter*innen, wenn ihnen das Repertoire aus direkter An- und Absprache, Versammlungen und Streiks fehlt – und was lässt sich für die Zeit nach der Pandemie, vorausgesetzt die gibt es, aus alledem lernen? Dieser Text ist weder abschließend, noch aus einer allwissenden Position geschrieben. Die Interviews mit den Beschäftigten fanden im Rahmen der ersten Welle im Mai 2020 statt. Sie liefern Schlaglichter auf veränderte Arbeits- und Kampfbedingungen im Versandhandel, in der Pflege, im Einzelhandel und in der Landwirtschaft – allesamt Branchen, in denen überdurchschnittlich viele Migrant*innen und Frauen arbeiten…“ Artikel von Sebastian Friedrich und Nina Scholz in der Zeitschrift Luxemburg vom Februar 2021 externer Link mit Beispielen aus Amazon, der Charité, einer Verkäuferin, eines Erntehelfers (Spargel Ritter)

    • Kennzeichnend dabei: „… Kerekes [Verkäuferin] hat versucht, dafür Unterstützung von ihrer Gewerkschaft Verdi zu bekommen – bislang ohne Erfolg. Sie sieht die Gründe beim niedrigen Organisierungsgrad in ihrer Branche: »Im Einzelhandel sind nur wenige gewerkschaftlich organisiert, und ich glaube, die Gewerkschaften interessieren sich vor allem für Bereiche, in denen sie schon viele Mitglieder haben.« Sie müssen mehr werden, damit Verdi sich für sie interessiert – und sie brauchen Verdi, um mehr zu werden. Kerekes trifft hier auf ein Problem, das andere Beschäftigte in Branchen mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad ebenfalls kennen: Auch Gewerkschaften müssen mit Ressourcen haushalten und überlegen, wo sich der Einsatz für sie lohnt…“
    • Und aus dem Fazit: „… Zu Beginn der Pandemie waren im linksliberalen Feuilleton ausgesprochen hoffnungsvolle Artikel zu lesen, die Corona-Pandemie läute das endgültige Ende des Neoliberalismus ein. Davon ist, so lässt sich vorläufig bilanzieren, in den betrachteten Branchen wenig zu spüren. Die Beschäftigten berichten von schlechteren Arbeitsbedingungen und haben Angst um ihre Gesundheit. Der neoliberale Kapitalismus könnte durch Corona sogar eine Renaissance erfahren: Eine Intensivierung der Ausbeutung, die Stützung der Kapitalseite durch die Regierungen, Appelle an die Arbeiterklasse, die Gürtel zum Wohle der Wirtschaft enger zu schnallen, deuten sich bereits jetzt an. Wie allerdings die Bedingungen aussehen werden nach oder während der sich verschärfenden Corona-Krise, das ist heute kaum vorhersehbar. Es zeichnen sich allerdings drei Tendenzen ab. Angesichts der geschilderten Beispiele wird erstens einmal mehr klar, wie vielfältig die Klasse der Arbeiter*innen ist – sowohl hinsichtlich ihrer Beschäftigungsverhältnisse als auch in ihrer sozialen Zusammensetzung. In den vergangenen Jahren hat sich in der Debatte zwischen sozialer Frage auf der einen Seite und Identitätspolitik auf der anderen Seite eine zweifelhafte Polarisierung zwischen Klassenfragen und Fragen des Antirassismus und des Feminismus entwickelt. In konkreten Kämpfen aber wird sichtbar, dass diese Gegensätze in den Unterdrückungsverhältnissen so nicht existieren. (…) Die Schlaglichter zeigen zweitens, dass Organisierung ein Prozess ist und kein Zustand. Das wird besonders deutlich in den Arbeitskämpfen, die auf bereits bestehende Organisierung aufbauen konnten (…) Schließlich zeigen die Beispiele drittens, dass Arbeitskämpfe sich nicht nur zentral um Lohnfragen drehen, sondern auch um Arbeits- und Lebensbedingungen, da die für physische und psychische Gesundheit von entscheidender Bedeutung sind…“
  • Wer herrscht über uns? Über Entfremdung, Objekte, Subjekte und Corona 
    „… Die Erfahrung mit dem Coronavirus wird wahrscheinlich tiefere Spuren in der Menschheit hinterlassen als die politischen Ereignisse der Gegenwart. Das gleiche gilt für die Klimakrise. Die Ereignisse mehren sich, die uns alle dominieren, egal in welchem divergierenden Ausmaß. Auch hier stellt sich die Frage nach der Souveränität der Menschen. Im kapitalistischen Einordnungsprozess sind sie in der Mehrheit längst zu versachlichten Figuren umgewandelt, denen alles vorgegeben wird. Inzwischen betrifft dies aber eben auch die Herren, nicht nur die Knechte. Daher scheint es plausibel, nicht mehr von Herren und Knechten zu sprechen sondern nur noch von Knechten, die Knechte befehligen. Der Virus zeigt sich souveräner als jede Regierung. Der Klimawandel ebenso. Mit dem Glauben an einen »grünen Kapitalismus« wird man dagegen nicht ankommen. Und kein vernünftiger Mensch kann sich Corona-Leugnern und Querfrontidioten anschließen. Klaus Klamm stellte jüngst im »ajour«-Magazin fest: »Gesellschaftliche Opposition hat die Todesdrohung bitterernst zu nehmen, die vom Virus ausgeht. Weil ein beachtlicher Teil der Menschen zwischen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit oszilliert, sind die staatlichen Verordnungen alternativlos.« Wahr ist: Entweder wird Corona geleugnet oder allen staatlichen Maßnahmen hofiert. Und wenn ständig vom notwendigen »Digitalisierungsschub« gesprochen wird, dann wissen wir aus Erfahrung, was dies bedeutet: Die Überwachung der Gesellschaft wird ausgebaut. Und die Arbeitsplätze werden der Rentabilität unterworfen, garantierte Stellen in ungarantierte umgewandelt, wenn nicht gar ganz abgeschafft. Mit Verweis auf den Gesundheitsschutz wird die nächste Drehung in der Spirale von Ausbeutung und Unterwerfung vollzogen. Man darf sich nicht täuschen lassen. Die finanziellen Absicherungen, die der Staat mehr oder weniger großzügig seinen Bürgern in dieser Krise zukommen lässt, sind nicht der Ausdruck dafür, dass die Politik zum Gemeinwohl – was eigentlich ihre Aufgabe wäre – die Herrschaft über alle gesellschaftlichen Prozesse, einschließlich der kapitalistischen Ökonomie, eingenommen hätte. Die von ihr zur Abschwächung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie verteilten Gelder stammen nicht mal aus einer Umverteilung, sondern aus einer Neuverschuldung, die von der Mehrheit der Bevölkerung irgendwann zurückgezahlt werden muss. Der Staat tritt als Gesamtkapitalist auf, um das System zu schützen. Dazu muss der Einzelkapitalist mit seinem singulären Interesse auch mal Einschränkungen und Verluste hinnehmen. Wir befinden uns in einem historischen Umbruch. Historische Umbrüche haben ihre Zeit. Den Menschen fällt es oft schwer, den Umbruch in ihrer Zeit zu erkennen. Im Nachhinein ist immer alles leichter erklärt. Aber dieses Nachhinein wabert eigentlich schon unter uns. Die grundsätzliche Krise des Kapitalismus ist seit Jahrzehnten erkennbar, Erkennbar ist auch, dass erneut offener Faschismus drohen könnte. Deshalb können wir nicht nur einzelnen Momenten der kapitalistischen Wirklichkeit unversöhnlich gegenüberstehen, sondern müssen dem System als Ganzes unversöhnlich gegenübertreten. »Alle müssen gehen«, las ich vor kurzem. Das ist politisch erst einmal eine gute Parole. Alle müssen gehen, die diese Verhältnisse fortsetzen wollen. Alles muss auf den Tisch, alles steht zur Debatte. Das betrifft die Perversion, dass Einzelne und deren Familien über mehr Vermögen verfügen als das Gros der Menschheit. Das betrifft die Produktion von Gütern, die gesellschaftlich und politisch kontrolliert werden müsste, aber in privater Hand ist. Das betrifft die Eigentumsfrage an Produktionsmitteln und Maschinen und die Frage, ob natürliche Ressourcen privatisiert werden dürfen. Das betrifft die Frage der politischen Repräsentanz, die bürgerliche Demokratie, die sich heute als Verwaltung von als alternativlos gesetzten ökonomischen Zwängen präsentiert und Entmündigung der Masse bedeutet. Alle müssen gehen, die diese Verhältnisse aufgestellt haben. Und wir brauchen – hier stimme ich dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben zu – einen Stillstand, zumindest eine Verlangsamung, um die Welt umbauen zu können, bevor sie über uns oder unter uns zusammen bricht…“ Artikel von Karl-Heinz Dellwo vom 07.02.2021 im ND online externer Link
  • Slavoj Žižek: Wir brauchen keinen sanftmütigen Kapitalismus, sondern einen sozialistischen Neustart – Eine Rückkehr zur Normalität nach der Corona-Pandemie wäre fatal 
    „Um die Welt vor weiteren Krisen – allen voran der Klimakatastrophe – zu bewahren, müssen wir das Unmögliche fordern: einen »moderat konservativen Kommunismus«. (…) Wird nun die Zukunft nach Corona einfach eine andere sein – oder wird sie etwas Neues sein, ein »Kommendes«? Das hängt nicht nur von der Wissenschaft ab, sondern auch von unseren politischen Entscheidungen. (…) Biden verspricht nun einen globalen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, während hinter dem netten Lächeln die gleiche Realität bestehen bleibt. Im Bildungsbetrieb begegnet uns dieses »menschliche Antlitz« in Form der Versessenheit auf allgemeines »Wohbefinden«: Schülerinnen und Studierende sollen in einer Bubble leben, in der sie vor den Schrecken der äußeren Wirklichkeit abgeschirmt sind, beschützt durch die Regeln der Political Correctness. Bildung soll also nicht mehr ernüchternd wirken, indem sie uns die Konfrontation mit der sozialen Realität ermöglicht, sondern sie soll uns vor dieser Konfrontation bewahren. Man sagt uns, diese Sicherheit brauche es, um Nervenzusammenbrüche zu verhindern – aber darauf sollten wir entgegnen, dass in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall ist: Eine solche falsche Sicherheit macht uns umso anfälliger für psychische Krisen, wenn wir doch einmal mit unserer sozialen Realität konfrontiert werden. Diese »Wohlfühl-Praxis« verleiht unserer Wirklichkeit lediglich ein falsches »menschliches Antlitz«, anstatt uns in die Lage zu versetzen, diese Wirklichkeit selbst zu verändern. (…) Eine Krise lässt sich ebenso auch dazu zu nutzen, um eine andere Krise zu verschleiern, sodass wir zum Beispiel aufgrund der Pandemie die globale Erwärmung aus dem Blick verlieren. Auch ist es möglich, eine Krise so zu verwalten, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, was im Jahr 2020 tatsächlich mit einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit geschehen ist. Und es ist ebenso möglich, sich von der Wissenschaft abzuschotten – man denke hier nur an die Impfgegner, und allgemein an das explosionsartige Umsichgreifen von Verschwörungstheorien. (…) Gibt es nun einen dritten Weg, der weder eine Rückkehr zur alten Normalität bedeutet, noch einen kapitalistischen »großen Neustart« markiert? Ja, und zwar einen echten großen Neustart. Was getan werden muss, ist kein Geheimnis – Greta Thunberg hat es bereits ausgesprochen: Erstens müssen wir die Corona-Krise endlich als das erkennen, was sie ist – ein Teil einer globalen Krise unserer gesamten Lebensweise, von der Ökologie bis hin zu den neuen sozialen Spannungen. Zweitens müssen wir eine gesellschaftliche Kontrolle und Regulierung der Wirtschaft etablieren. Und drittens müssen wir dabei auf die Wissenschaft hören – was aber nicht damit gleichbedeutend ist, sie auch als die Instanz anzuerkennen, welche die Entscheidungen trifft. Was spräche dagegen? (…) Eine erste Lektion haben wir bereits gelernt: »Shutdown light« ist nicht genug. Man sagt uns, dass sich die »Gesellschaft« (also unsere Wirtschaft) keinen weiteren harten Lockdown wird leisten können – dann lasst uns doch unsere Wirtschaft verändern. Der Lockdown ist die radikalste negative Geste innerhalb der bestehenden Ordnung. Der Weg darüber hinaus, hin zu einer neuen positiven Ordnung, führt über die Politik, nicht über die Wissenschaft. Wir müssen unser Wirtschaftsleben so verändern, dass es in der Lage ist, Lockdowns und andere Notsituationen zu überstehen, die mit Sicherheit auf uns zukommen werden – so wie uns auch ein Krieg dazu zwingt, die Grenzen des Marktes zu ignorieren und einen Weg zu finden, das zu tun, was in einer freien Marktwirtschaft »unmöglich« ist. (…) Die Pandemie ist nicht einfach ein virales Geschehen, sondern ein Prozess, der sich innerhalb bestimmter wirtschaftlicher, sozialer und ideologischer Koordinaten abspielt, die offen für Veränderungen sind. (…) Brauchen wir also einen neuen Kommunismus? Ja, aber einen, den ich versucht bin, einen moderat konservativen Kommunismus zu nennen. Dieser umfasst alle absolut notwendigen Maßnahmen von der globalen Mobilisierung gegen virale und anderweitige Bedrohungen bis hin zur Entwicklung von Verfahren, um die Marktmechanismen zu regulieren und die Wirtschaft zu sozialisieren. Dabei ist er konservativ in dem Sinne, dass er die Voraussetzungen des menschlichen Lebens zu bewahren versucht – das Paradoxe ist nämlich, dass wir die Verhältnisse verändern müssen, um diese Voraussetzungen zu erhalten; und moderat insofern, als dass er die unvorhersehbaren Nebenwirkungen unserer Maßnahmen sorgfältig berücksichtigt…“ Beitrag von Slavoj Žižek in der Übersetzung von Thomas Zimmermann bei Jacobin am 11. Januar 2021 externer Link
  • Die Covid-19-Seuche und die Vorstellungen von Staat und Gesellschaft 
    „… Viele Demonstranten gegen die Corona-Politik übertreffen mit ihrem Egoismus und Egozentrismus noch das in der Marktwirtschaft übliche Maß. Die Marktwirtschaft schwächt Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht empfindlich. (…) Eine Skepsis gegenüber unbegründeter Vertrauensseligkeit ist legitim. Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik wird aber wenigstens auf dieses Thema bezogen eine Mentalität deutlich, die keine positive Gesellschaftlichkeit kennt. (…) Unter der Voraussetzung der Gegensätze zwischen Privatinteressen entsteht eine Mentalität, die sich nicht vorstellen kann, dass die einen für die anderen arbeiten, weil es zum Verständnis ihrer Arbeit als gute Arbeit gehört, mit dem Arbeitsprodukt oder der Dienstleistung das Wohl des Empfängers des Guts oder des Adressaten des Dienstes zu fördern. (…) So etwas können sich Leute mit einem generalisierten bzw. pauschalen Misstrauen nicht vorstellen. Sie müssen annehmen, dass alle alle betrügen. (…) Dieses Misstrauen fokussiert sich auf die Interessengegensätze in der Marktwirtschaft, ignoriert aber deren Doppelcharakter. Selbst in ihr existiert nicht nur Tauschwert, sondern auch Gebrauchswert, nicht nur Antagonismus, sondern auch Zusammenarbeit von Geschäfts„partnern“. (…) Was zuerst aussieht wie eine Kritik an der starken Tendenz innerhalb der Marktwirtschaft zu asozialem Handeln, erweist sich als Einverständnis. Misanthropismus und Zynismus erscheinen diesem Bewusstsein als Realismus. (…) Was ist die Alternative zur Asozialität begünstigenden Seite der Marktwirtschaft und zur „mageren“ Demokratie? Wie muss eine Gesellschaft aussehen, die „gute Arbeit“ fördert? In einer „starken“ Demokratie, in der das Paradigma des guten Lebens (vgl. Creydt 2017, 146-178, Creydt 2019) herrscht, wird ein neuer Begriff des Reichtums not-wendig. Er orientiert sich nicht an der Mehrung des Bruttosozialprodukts oder an der Verwertung des Kapitals, sondern an der Entwicklung menschlichen Fähigkeiten, Sinnen und Reflexionsvermögen…“ Artikel von Meinhard Creydt vom 3.1.2021  – wir danken!
  • Wann hört das endlich alles auf … und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte
    „… Eine Krankheit der imperialen Lebensweise – hätten viel mehr Linke sagen können und müssen, in Frageform, gesprächsoffen. Geht es also nicht bloß um ein Virus, sondern eigentlich – um die ganze Welt, die Welt, wie sie ist? Wollen wir, dass sie so bleibt, wie sie ist? Oder wollen wir, sollten wir nicht – eine andere Welt schaffen, die für alle überall sicher und zugleich der Raum der Freiheit einer jeden wäre? Die Frage blieb nicht so allgemein: Geht’s nur um diesen einen Virus? Drohen nicht gleich mehrere andere, wenn Corona abgewehrt sein sollte? Eben weil es nicht einfach um Viren, sondern um Struktur und Dynamik der Globalisierung geht? Also auch, wieder global, um die Klimakrise, die sowieso alles fluten wird? Das hätte man von links her dann  auch detaillieren können, zum Beispiel auf Fragen öffentlicher Güter in einer sozialen Infrastruktur gleich für alle überall – Fragen, die nicht bloß »soziale«, sondern solche des Überlebens und des Lebens sind. (…) Mitgestellt mit diesen Fragen war die nach dem Verhältnis von Solidarität und Autonomie, nach Gleichheit und Freiheit. Sie stellt sich gleich auf vielen, zu oft unverbundenen Ebenen, und in unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Hinsichten. Leave no one behind: Was genau heißt »no one«, fragt sich jetzt im Blick auf den Impfstoff, also im Blick auf die Inkaufnahme des tausendfachen Sterbens der ungeimpft bleibenden Anderen. Ernst genommen, fragt diese Frage nach dem Ganzen der Welt, nach einer anderen Globalisierung, und sie verkehrt sich dabei immer neu von einer Frage nach der Gleichheit in eine nach der Freiheit – und andersherum, immer im Kreis: weil eine andere Welt anders nicht zu haben ist. So wurde zum »leave no one behind« gefragt: »Und wenn ich gar nicht mitwill, jedenfalls nicht so?« Die Linken hätten Fragen und Gegenfragen in- und gegeneinander verbinden können. Viele zogen es aber genau an dieser Stelle vor, auf ihre Routinen zurückzufallen und einseitig für das Partei zu ergreifen, was sie unter Solidarität verstehen. Gegen die Fragen nach Freiheit und Autonomie, und unter Abblendung ihres Zusammenhangs. Unter Abblendung ihres Zusammenhangs mit den Fragen nach der Welt, nach dem Ganzen und dem möglichen ganz Anderen. Sie verhakte sich in ihre Einzelforderungen und ihre Anklagen gegen »die da oben«, versteifte sich auf den Kampf gegen die Coronaleugner*innen. (…) Doch wird, hoffentlich, der Moment kommen, wo alles so aussehen wird, als ob wir mit biopolitischer Genehmigung zur Normalität zurückkehren dürfen. Da werden sich viele fragen: »Das soll’s gewesen sein? Wollen wir das wirklich? Sollten wir nicht …?« Da muss die Linke zur Stelle sein und sagen, dass es eben nicht um diese immer schon elende, für viele immer schon kranke und tödliche Normalität geht. Sondern dass es um eine Welt gehen muss, die kein Schindanger kapitalistischer Ausplünderung, sondern öffentliches Gut wäre, für alle…“ Artikel von Thomas Rudhof-Seibert vom 02.01.2021 im ND online externer Link
  • In der Sehnsucht nach „Normalität“ steckt eine Lösungsstrategie gegen den krisenbedingten Dauerblues
    Wann ist die „Normalität“ genau abhanden gekommen? Wann begann der Strudel aus permanenten Bedrohungen und Weltuntergangsmitteilungen, der das Leben, wie man es von „früher” kannte, so unmöglich macht? Und wann kehrt das Normale wieder, lässt die Anspannung nach, kann man endlich wieder durchatmen? Momentan ist das Ende der unsicheren Zeiten schwer abzusehen. Aber das heißt nicht, dass man daran verzweifeln sollte. Zumindest nicht dauerhaft. Ein möglicher Teil der Lösung steckt in der missverständlichen Bedeutung des Normalen. Interessanterweise beinhaltet der Begriff „normal“ zwei Aspekte: die Norm – also das Erstrebenswerte, kurz gesagt: was sein soll. Und die Normalität als Durchschnitt – als das was üblich ist, weit verbreitete Gewohnheiten etwa. Von dieser Beobachtung ausgehend möchte ich vermitteln, wie sich mit einigen einfachen Methoden Antworten auf zwei Fragen finden lassen, die helfen können, das Leben trotz des Chaos der Welt etwas zufriedener zu machen: (1) was ist mein übergeordnetes Ziel und nach welchen Normen will ich mich entsprechend in meinem Leben richten? Und (2) welche Gewohnheiten brauche ich oder muss ich mir neu zulegen, um mich in meinem Alltag möglichst wohl zu fühlen?Video des Vortrags von Jan Kalbitzer beim rC3-Kongress (Remote Chaos Experience) am 27.12.2020 externer Link
  • „Während alle auf das Virus starren, läuft eine Umverteilungsmaschine“. Die Sozialwissenschaftlerin Maja Göpel sagt, Corona könne auch eine Chance sein: für neue Solidarität und neues Wirtschaften
    Im Interview mit Elisabeth von Thadden in der Zeit online am 19. Dezember 2020 erklärt Maja Göpel ihre Sichtweise externer Link, dass Corona auch eine Chance sein könnte: „für neue Solidarität und neues Wirtschaften. (…) Im Moment teilt sich das Land in zwei Lager. Das eine sagt, die Probleme müssten global gelöst werden und alle Menschen berücksichtigen. Das andere meint, die eigene Verantwortung sei lokal oder national begrenzt. Ich frage mich, wie wir es hinbekommen, dass wir offen miteinander reden können, ohne in eins dieser beiden Lager gepresst zu werden. Denn erst so könnte ein „Wir“ entstehen, das einer erneuerten Gemeinwohlorientierung in der Gesellschaft zugrunde liegen kann. (…) Ich bin auf der Suche nach solchen Orten, Formen, Formaten, in denen die tieferen Gründe von Angst und Ablehnung thematisiert werden können; in denen Informationen über die Wege nach vorne glaubwürdig vermittelt und diskutiert werden können; in denen das Gemeinwohl der Fluchtpunkt ist. (…) Wir wissen heute ja, wie wichtig es für das Sicherheitsgefühl der Menschen ist, einen wohlgesonnenen lebendigen Anderen in der Nähe zu haben. Insofern bedeutet Corona auch eine Chance: In der Suche nach dem, was in der Krise wirklich wichtig ist, nehmen wir uns wieder als biologische und soziale Lebewesen war. (…) Alle sprechen nur noch über ein Weihnachten mit den Großeltern, was ist das für eine traurige Verengung der Solidargemeinschaft? Warum fehlen auf den öffentlichen Podien und in den Talkshows mit ihren Vertretern aus der Wirtschaft und den Gewerkschaften diejenigen, die über die Notlagen in der Pflege, Krankenhäusern und in den Schulen sprechen? Warum müssen diese Menschen in den sozialen Medien über ihre Erfahrung klagen, es zähle in dieser Gesellschaft nur, wer der Leistungsbilanz hohe Werte beschere, also im Büro arbeite oder irgendetwas mit Autos und Finanzen mache, während im Gesundheitssystem die Erschöpfung unerträglich ist und die Kollegen sterben? Unsere Gesellschaft versteht Produktivität und Wertschöpfung heute rein monetär. Damit riskieren wird den zivilisatorischen Fortschritt preiszugeben, den gute Bildung, Pflege und Kultur bedeuten. Fragt man nach den Motiven der Studienwahl, dann ist die Motivation des Geldverdienens unter jungen Juristen und Ökonomen am höchsten – die wiederum in Zukunft eben diese Regeln der Gesellschaft festlegen. Dieser Interessenkonflikt zeigt sich auch darin, dass keine Diskussion darüber aufkommt, warum die Gesellschaft heute noch eine private Krankenversicherung für verbeamtete Bürokraten in bequemen Jobs finanziert. Das gesellschaftliche Gespräch über Wertschöpfung, Wertschätzung und soziale Gerechtigkeit in einer rasant veränderten Welt steht erst am Anfang. (…) Die ehrliche Antwort lautet im Sinne von Antonio Gramsci: Es gibt den Pessimismus des Intellekts und den Optimismus des Willens. Menschen haben unglaubliche Dinge geschafft, wenn sie es wollten…“
  • Die Krise der Sorgearbeit überwinden
    Für einen kurzen Augenblick konnte es so scheinen, als habe die Corona-Pandemie endlich das breite gesellschaftliche Bewusstsein dafür geschaffen, wie wichtig Pflege und Sorge für uns alle sind. Zu wichtig, um genau zu sein, um sie weiter unter so schlechten Bedingungen wie gegenwärtig zu organisieren. Das Home-Schooling im Home-Office, der Pflegenotstand in Krankenhäusern und Altenheimen schienen endlich die nötige Aufmerksamkeit für die Belastungen und prekären Bedingungen alltäglicher Sorge zu erzeugen. Eine Tarifrunde und einen Kinderbonus später stellt sich Ernüchterung ein. Wir wollen deshalb mit Frigga Haug und Julia Fritzsche diskutieren. Beide sagen seit langem, dass mehr Pflegekräfte und eine höhere Bezahlung allein, die Krise der Sorgearbeit nicht überwinden werden. Gebraucht werde vielmehr ein neues Verständnis menschlicher Tätigkeit und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Aber wie soll sie konkret aussehen, die Sorge und Pflege in einer Gesellschaft, in der sie weder zur unbezahlten Domäne von Frauen privatisiert noch professionalisiert, aber dafür den Gesetzen der Ökonomisierung unterworfen werden?...“ Gespräch mit Frigga Haug und Julia Fritzsche (Moderation: Rahel Jaeggi) am 15. Dezember 2020 externer Link online (pre-recorded video und auch als Audio) bei Kritische Theorie in Berlin
  • Die Dauerwelle: Wie die westlichen Staaten als ideelle Gesamtkapitalisten in der Corona-Pandemie versagen 
    „Man braucht, um sich zu gruseln, schon lange nicht mehr auf die USA zu schauen. Mittlerweile (Stand 11. Dezember) sterben jeden Tag zwischen 400 und 600 Menschen in Deutschland »an und mit Corona«. (…) Mittlerweile dürfte klar sein, dass der Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht an erster Stelle steht. An erster Stelle steht, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen. Das ist die Quintessenz aller Corona-Maßnahmen seit den ersten »Lockerungen« (eigentlich ein politischer Kampagnenbegriff aus dem Unternehmerlager) im April, also seit die Bundesregierung von der Eindämmung der Pandemie zu einer Strategie der halbherzigen Begrenzung übergegangen ist. Trotzdem ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung auch nicht irrelevant. Dem Staat kommt im Kapitalismus die Rolle des »ideellen Gesamtkapitalisten« zu. Das heißt, er muss, manchmal auch gegen die Interessen der Einzelkapitale, das tun, was für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt am besten ist. Zum Beispiel, wie im März, die Notbremse ziehen und die Wirtschaftstätigkeit herunterfahren, selbst wenn einzelne Unternehmen aufjaulen. Der Staat muss aber auch mindestens den passiven Konsens der Ausgebeuteten organisieren. Daher finden nicht nur die Interessen der kapitalistischen Klasse Eingang in die Politik der Regierung, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Interessen der Lohnabhängigen oder eines Teils der Lohnabhängigen. (…) Brenzlig wird es, wenn die kapitalistische Wertschöpfung insgesamt bedroht ist, etwa weil die Interessen der Lohnabhängigen zu viel Berücksichtigung in der Politik finden. Oder durch sozialen Aufruhr oder auch durch ein Virus, das so viele Lohnabhängige dahinrafft, dass die Unternehmen nicht mehr produzieren, die Behörden nicht mehr verwalten und die Krankenhäuser Kranke – und das heißt irgendwann auch reiche Kranke – nicht mehr gesund pflegen können. (…) Für eine linke Debatte über Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung heißt das aber nicht, dass nur ein besser geführter, konsequenter handelnder Staat die Dinge richten könnte. Wenn man darüber nachdenkt, wie eine in Räten organisierte Gesellschaft Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung in Betrieben, Schulen, Pflegeeinrichtungen oder dem öffentlichen Transportwesen erproben und miteinander abstimmen könnte, sind noch ganz andere Erfolge bei der Bekämpfung von Pandemien vorstellbar. (…) Es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch eine politische Frage, wie wir uns zum Sterbenlassen in Pflegeeinrichtungen, Geflüchtetenlagern, Krankenhäusern verhalten. Wo sind die Namen und Gesichter der Krankenhausarbeiter*innen, die im Einsatz gegen Corona sterben? Wo die Proteste vor Fleischfabriken, Blockaden von U-Bahnhöfen, Skiliften und Schulen, die Gedenkversammlungen vor Pflegeheimen? Die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Toten umgeht und wie viel Leid sie akzeptiert, ist auch eine Frage des Klassenkampfes. Wenn man die Corona-Opfer schulterzuckend zur Kenntnis nimmt, wird im Sinne der Unternehmen durchregiert. Wenn sich die Menschen umeinander kümmern und Gleichgültigkeit nicht akzeptieren, muss anders regiert werden.“ Beitrag von Matthias Merkur vom 13. Dezember 2020 bei ak666 externer Link
  • Corona- und Wirtschaftskrise: Überarbeiteter Politischer Forderungskatalog (2020/21) [nicht nur für Berlin Wedding?] 
    Die Corona-Pandemie hinterlässt seit Anfang 2020 tiefe Einschnitte in unserer Gesellschaft. Sie drückt sich in einer heftigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise aus. Die weiteren mittel- und langfristigen Folgen sind dabei noch nicht absehbar. Klar ist aber bereits jetzt, dass weder die Bundesregierung noch die rot-rot-grüne Koalition in Berlin gewillt sind, die Krise im Sinne der Lohnabhängigen anzugehen. Mit milliardenschweren Hilfspaketen wird vorgegeben, die kommende Wirtschaftskrise unter Kontrolle zu bekommen. Dabei fließt das Geld vor allem an die großen Unternehmen. Hunderte Kolleg*innen landen so auf der Straße, während die Eigentümer weiter viel Geld in ihre Tasche stopfen. Die aktuellen Maßnahmen des Staates zielen in erster Linie darauf ab, die kapitalistische Produktion aufrecht zu erhalten. Und in diesem System haben nicht Mensch und Natur Vorrang, sondern die Produktion von Waren und der Warenverkehr – und damit verbunden die Profite der großen Unternehmen. Während das öffentliche und kulturelle Leben sowie die Freizeit der Arbeiter*innen nach Belieben einge- schränkt werden, sollen wir in den Büros, Fabriken und Logistikzentren weiter ackern. Dabei stecken wir uns auf Arbeit oder in der vollen Bahn ebenfalls an. Das Krisenmanagement der Regierung hat gezeigt, dass wir nicht alle in einem Boot sitzen. Die Wirtschaftskrise wird uns nicht alle gleich treffen. (…) Die Ursachen von Pandemien, von Armut und Entwürdigung sind dabei nicht in Verschwörungen von angeblichen Weltbeherrschern zu suchen. Diese Ursachen sind Folge der Ausbeutung des Menschen und der Natur durch die Menschen selbst. Darum keinen Fußbreit für Verschwörungsideologen! Gegen die Gefahr von Rechts und das neoliberale „Weiter-so“ der Herrschenden hilft nur der entschlossene Klassenkampf von unten! Wir stehen daher für eine sozialistische und solidarische Gesellschaft, in der die Wirtschaft dem Menschen dient und nicht dem Profit von Wenigen! Vergesellschaftung des Gesundheitswesens … Gute Arbeitsbedingungen … Recht auf Wohnen … Demokratische Grundrechte verteidigen heißt … Gechlechtergerechtigkeit erkämpfen … Grenzenlose Solidarität … Kapitalismus abschaffen heißt für uns: Als Arbeiter*innen nehmen wir die Produktion selbst in die Hand und organisieren sie demokratisch. Die Herstellung und Verteilung von Waren soll nach den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft planvoll ausgerichtet werden. Denn der freie Markt garantiert unsere Versorgung nicht. Der Kapitalismus führt zu Wirtschaftskrisen, Krieg, Klimawandel, Luftverschmutzung, Nahrungsmittelengpässen und eben zu Pandemien. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir die weltweite Wirtschaft radikal verändern müssen. Nur durch einen sozialen und ökologischen Umbau unserer Produktions- und Lebensweise kann eine solidarische und wirklich demokratische Gesellschaft entstehen…“ Forderungskatalog vom November 2020 von und bei Hände weg vom Wedding externer Link – siehe auch den Protestaufruf vom 1.12.2020 externer Link: Für eine soziale und demokratische Lösung der Krise – Die Reichen sollen zahlen!
  • Vom Widerstand zur Utopie. In Krisenzeiten braucht es einen Plan zur radikalen Veränderung der Welt 
    Superheldinnenfilme folgen einer bekannten Dramaturgie. Auf dem Höhepunkt des Films, mitten im Showdown, nimmt sich die Superschurkin Zeit, ausführlich ihren Plan zu erläutern. Ein Plan, der wahlweise darin besteht, die Welt zu zerstören oder die Herrschaft über sie an sich zu reißen. Der Superheld, eben noch gefesselt, nutzt die Zeit des Rumlaberns, befreit sich und vereitelt – in letzter Minute – den Schurkinnenplan. Die vorletzte Einstellung zeigt die unendliche Frustration der Superschurkin, deren Lebensplan gerade zerstört wurde, die letzte Einstellung den Superhelden, der glücklich nach Hause geht. Nichts hat sich verändert. Die Welt ist gerettet, und sie ist noch genau so beschissen wie zuvor. Ein Großteil des progressiven Widerstands heute gehorcht diesem konservativen Skript. Es ist ein Widerstand gegen Mietsteigerung wie gegen die Zwangsräumung bestehender Projekte. Gegen die Schließung von Betrieben und die Entlassung der Arbeiterinnen. Gegen die Rückkehr des Faschismus wie gegen die Verschlechterung des Klimas. Es ist ein Kampf, der auf die Ausdehnung der Ehe zielt wie auf die Diversifizierung des staatlichen Geschlechtseintrags. Der die Ergebnisse vorheriger Kämpfe zu verteidigen sucht und das bereits Erreichte zu erhalten. Aber unter Bedingungen der Krise kann es keine Verteidigung des Status quo geben. So lange Widerstand sich auf seinen Wortsinn beschränkt, auf das Aufhalten und Stoppen, Verteidigen und Zurückdrängen, bleibt er im besten Fall stehen. Wo die Linke verliert, gewinnt die Rechte an Macht. Deswegen reicht es nicht, Superheldin zu sein bzw. Superbulle, deswegen lässt sich die Welt nicht retten ohne einen Plan, sie zu verändern, deswegen braucht es Utopie. Aber wie? Die Utopie zielt auf die Zukunft, auf eine andere Welt, doch sie nimmt ihren Ausgang in der Gegenwart, in der bestehenden Welt. Sie zielt auf Befriedigung, auf Glück, ihr Ausgangspunkt jedoch ist die Frustration, das Unglück. Tatsächlich besteht die Aufgabe einer emanzipatorischen Utopie nicht darin, eine Welt zu entwerfen, in der »alles anders« ist. Es reicht, dass sich die Utopie von der Realität in einer einzigen Hinsicht unterscheidet: Etwas fehlt in dieser zukünftigen Welt – nämlich das Unglück. (…) Die Frage gibt bereits eine recht gute Orientierung im Diskurs der Utopie: Wie viel gewonnen wäre mit einer Tobin-Tax, wie viel glücklicher lebten wir mit einem bedingungslosen, aber monetären, vom Staat gewährten Grundeinkommen? Welche Probleme wären wir los, wenn sich Menschen aller Geschlechter und Herkünfte gleichmäßig auf Vorgesetzte und Untergebene verteilten, wenn alle Staaten gleich mächtig wären? Und welche Probleme nicht? Diese Bestimmung reicht aber noch nicht aus. (…) Die utopische Fantasie ist nicht mechanisch darauf reduziert, das Gegenteil der Gegenwart zu konstruieren oder schlicht alles Schlechte von dieser zu subtrahieren. Die Frage der Utopie lautet nicht nur: Wie wollen wir nicht leben, sondern vor allem auch: Wie wollen wir leben? Was würden wir machen, wären wir frei? (…) Darin liegt der wahre Kern des bekannten Mantras, die Linke solle doch nicht immer nur nörgeln und kritisieren, sondern auch mal – konstruktive – Vorschläge machen. Das ist, mit anderen Worten, die Frage der Utopie. Sie lässt sich nach vier Dimensionen hin aufschlüsseln: Vorstellbarkeit – ist eine andere Welt, die von den Schädigungen der gegenwärtigen Welt geheilt wäre, überhaupt denkbar? Machbarkeit – kann diese Gesellschaft tatsächlich funktionieren oder müsste sie an inneren Widersprüchen oder äußeren Bedingungen scheitern? Erreichbarkeit – gibt es einen Weg, der zu dem angestrebten Ziel führt, durch Reform oder Subversion, durch Evolution oder Revolution? Und schließlich Wünschbarkeit – ist diese Welt für die heutigen Menschen überhaupt begehrenswert? Gerade die letzte Frage wurde lange vernachlässigt. (…) Eine weitere kritische Frage, die sich die Utopie stellen lassen muss, lautet deshalb, ob sie eine ideale Welt für ideale Menschen schaffen will oder eine, die auch den versehrten und verkorksten Menschen (also uns) ein Zuhause bietet. Und welchen von ihnen? Denn es gibt viele, und nicht alle haben dieselben Sorgen und Wünsche. Eine der entscheidenden Anforderungen an einen emanzipatorischen Entwurf von Zukunft ist, dass er ein gemeinsamer, ein geteilter Entwurf sein muss. (…) Der Kampf für eine andere Welt erfordert ein anderes Modell von Superheldinnen. Vielköpfige Hyperheldinnen, die nicht gegen Mietsteigerung kämpfen, sondern für Mietsenkung, nicht nur gegen die Zwangsräumungen bestehender Projekte, sondern auch für die massenhafte Besetzung neuer Projekte. Polylokale Postheldinnen, die nicht nur gegen die Verschlechterung des Klimas kämpfen, sondern mehr noch für ein besseres Klima, nicht nur gegen Nazis, sondern auch gegen die Bedingungen, denen diese entstammen. Polysoziale Postheldinnen, die nicht gegen die Schließung von Betrieben streiken, sondern für deren Übernahme durch die Belegschaften, nicht gegen die Entlassung von Arbeiterinnen, sondern für die Entlassung der Chefetagen, des Kapitals. Kollektive Antiheldinnen also...“ Artikel von Bini Adamczak im ak 664 vom 20. Oktober 2020 externer Link
  • „Wir müssen harte Aufklärungsarbeit leisten“
    Im Telepolis-Gespräch von Tomasz Konicz vom 26. August 2020 über Krise, Corona und Kapital mit dem Politologen und Buchautor Winfried Wolf externer Link betont dieser u.a.: „… Alle Welt spricht und schreibt von einer Corona-Krise. Und meint damit fast immer zugleich die Wirtschaftskrise. Oder auch: Man versucht mit dem breit angelegten Begriff „Corona-Krise“ zu verdecken, dass wir eine handfeste Wirtschaftskrise erleben, die mit Corona wenig zu tun hat. Das ist ähnlich wie 1973-75. Damals gab es im Westen die erste internationale Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. (…) Es gibt keinen Ausweg im Rahmen des kapitalistischen Systems. Die antagonistischen Widersprüche auf den bereits genannten drei verschiedenen Krisenebenen – die periodisch wiederkehrenden Epidemien, die Klimakrise und der allem zugrunde liegende Zyklus sich verschärfender Wirtschaftskrisen – haben sich bereits so weit zugespitzt, dass es undenkbar erscheint, dass dieses System im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschheit gesteuert werden, geschweige denn ein Gleichgewicht finden könnte. Hinzu kommt, nicht zu vergessen, die Dynamik von Aufrüstung und Kriegen. Wir steuern, davon bin ich felsenfest überzeugt, auf einen Dritten, dann mit Atomwaffen geführten Weltkrieg zu. (…) [E]s wird behauptet, das Virus kenne nicht nur keine Grenzen; es kenne auch keine Klassen und Schichten. Das ist Unsinn. Zwar haben sich zunächst in Europa und in anderen westlichen Ländern eher Wohlhabende infiziert. Doch in der Gesamtbilanz sieht es völlig anders aus. (…) Eines der wesentlichen Probleme, die in den Zentren der Epidemie auftauchten, war die Knappheit von Intensivbetten, von Schutzkleidung für das ärztliche und Pflegepersonal und oft auch von Krankenhauspersonal überhaupt. Das hat zu tun mit der radikalen Ausrichtung des Gesundheitssektors am Rentabilitätsprinzip, die es in den letzten 25 Jahren in Europa gab, was meist mit Privatisierungen verbunden war. (…) Überall auf der Welt, wo lautstark ein „Ende des Lockdowns“, die „Normalisierung“, die „Öffnung“ des Landes etc. gefordert wird, stehen die rechten Parteien (FDP, AfD, FPÖ, US-Republikaner) und Politiker wie Christian Lindner, Alexander Gauland, Mark Rutte, Donald Trump oder Jair Bolsonaro an der Spitze dieser Proteste. Dahinter verbirgt sich ein ausgesprochen materieller Aspekt: Lockdown bedeutet, dass die Profitmaschinerie stoppt. „Öffnung“ bedeutet: grünes Licht für die Mehrwertproduktion via Arbeitskraftausbeutung. Oder auch: Kapitalakkumulation und Profitmaximierung gehen auch über Corona-Leichen. Absurd ist dabei, dass man mit dieser Politik der Öffnung, wie sie seit Mai 2020 betrieben wird, dazu beigetragen hat, dass die Zahl der Corona-Infektionen wieder erheblich ansteigt und damit ein zweiter Lockdown droht, was dann die Krise in kaum vorstellbarer Weise beschleunigen könnte. Interessanterweise kommen diese Proteste nur dort auch aus der Linken, wo die Epidemie bislang – eben durch die bekannten Restriktionen, einschließlich der Masken-Pflichten – relativ gut eingedämmt werden konnte. Meines Wissens gibt es in Ländern mit hohen Corona-Opfer-Zahlen keine prominente Person der verdienten Linken, der oder die vergleichbaren Unsinn verbreitet hat – kein Noam Chomsky, keine Naomi Klein und kein Jean Ziegler. (…) Die Corona-Epidemie erscheint uns als Vorbote für weit größere Prozesse mit einer massenhaften Infragestellung von menschlichem Leben und einer Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Selbst wenn ein Impfstoff 2021 zur Verfügung stehen sollte – das ist dann ja wieder eine end-of-the-pipe-Lösung. Wenn die skizzierte Art des Umgangs mit Flora und Fauna, deren Ursprung der Kapitalismus selbst ist, nicht beendet wird, dann wird es in Bälde die nächste – dann vielleicht eine weit tödlichere, Ebola-gleiche – Pandemie geben. Die Klimakrise droht, wie ich bereits sagte, in eine solche Richtung umzukippen. Es muss also darum gehen, an die Wurzel des Systems zu gehen – und die kapitalistische Grundprinzipien – das Eigentum an den großen Produktionsmitteln, die alles beherrschende Konkurrenz, die Produktion um der Produktion willen – in Frage zu stellen…“ (Das im Interview diskutierte Buch „Corona, Krise, Kapital“ erscheint Ende August beim PapyRossaVerlag zum Preis von 17,90 Euro (277 Seiten)
  • Die elende Sehnsucht nach ‚Normalität‘ 
    Nicht wenige leiden darunter, dass sie durch die staatliche Seuchenpolitik arbeitslos oder auf Kurzarbeit gesetzt werden und folglich mit ihrem Einkommen noch viel schlechter auskommen als sonst schon. Aus dem ärgerlichen Sonderfall des Lockdowns sollte man nicht gleich den Trugschluss ziehen, der Normalfall des alltäglichen Arbeitslebens wäre an und für sich ein Inbegriff erstrebenswerter Verhältnisse. Immerhin wirft der Ausnahmefall des erschwerten Lebensunterhalts ein Licht auf die Existenz- und Überlebensbedingung, die den erwerbsbürgerlichen Alltag so unbedingt beherrscht, dass man ihre Gemeinheit aus lauter Gewohnheit schon gar nicht mehr bemerkt…“  Artikel aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“ externer Link (Pandemie XIV) ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 3-20, die am 18.09.2020 erscheint
  • #Coronarealität: Die prekäre Illusion des Neoliberalismus und die Ohnmacht des Postmodernismus 
    „Die Corona-Pandemie hat zwei Wahrheiten bekräftigt, die der Neoliberalismus jahrzehntelang vergessen machen wollte: Es sind die Arbeiter*innen, die die Gesellschaft am Laufen halten, und es sind die Arbeiter*innen, die die Kosten der Krise zahlen sollen. (…) Die Coronavirus-Pandemie ist eine weltweite Zäsur. Für hunderte Millionen Menschen gibt es ein „vor“ und ein „nach“ Corona. Dabei ist diese populäre Diagnose sowohl zutreffend als auch irreführend. Denn der Coronavirus ist nichts als ein Katalysator vorhandener gesellschaftlicher Widersprüche, die sich ökonomisch, sozial, gesundheitlich und geopolitisch entladen und durch die Pandemie verschärft haben. (…) Doch es gibt auch eine andere Zäsur: Die Coronavirus-Pandemie hat aufgezeigt, dass ohne die Arbeiter*innen „an vorderster Front“ von Pandemie und Krise die Gesellschaft zum Stillstand kommen würde;mehr noch beweist sie, dass ihre Arbeitskraft für den kapitalistischen Profit essenziell ist. Oder anders gesagt: Dass der gesellschaftliche Reichtum nicht von „fleißigen Unternehmer*innen“ ausgeht, sondern von der Arbeitskraft von Millionen von Menschen, die für die Profite einiger weniger Kapitalist*innen schuften. Diese heute immer offensichtlichere Lehre war lange Zeit aus dem Bewusstsein breiter Teile der Gesellschaft und auch breiter Teile der Linken verschwunden. (…) Mit der bürgerlichen Restauration setzte sich die Vorstellung durch, dass der Kapitalismus alternativlos sei, dass die Arbeiter*innenklasse zumindest als kollektives Subjekt zu existieren aufgehört hätte und dass der graduelle individuelle Aufstieg der längste Horizont unserer Hoffnungen sein könne – zusammengefasst in Francis Fukuyamas berühmt gewordenem Diktum des „Endes der Geschichte“. Auch auf der Linken fand mit dem ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus eine Abkehr von der Perspektive der antikapitalistischen Revolution und ein Aufstieg individualistischer Perspektiven statt: „Postmoderne“ Ideologien verkündeten ähnlich wie Fukuyama das „Ende der großen Erzählungen“ und damit die Unmöglichkeit, eine tatsächliche gesellschaftliche Transformation zu erreichen. (…) Das Problem liegt nicht darin, dass Reflexion über gesellschaftliche Strukturen und über individuelle Verhaltensweisen gefordert wird. Es liegt darin, dass das Programm des Privilegien-Checkens fundamental individualistisch und politisch resignativ ist (…) Entgegen der postmodern-neoliberalen Resignation, die die tatsächliche Überwindung des bürgerlich-kapitalistischen Horizonts aufgegeben hat, setzen wir die bewusste Organisierung dieser materiellen Kraft, im Bündnis aus der immer prekäreren Jugend und der Arbeiter*innenklasse, die allein das strategische Potenzial des Sturzes des Kapitalismus hat. Das ist die wichtigste Aufgabe von Revolutionär*innen heute. Die Bedingungen dafür sind vorhanden: Die Coronavirus-Pandemie hat die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse in der Aufrechterhaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens zur Genüge aufgezeigt. Zeit, dass wir auch ihre Macht zurückerobern, die kapitalistische Profitmaschine lahmzulegen – und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.“ Beitrag von Stefan Schneider vom 4. August 2020 bei KlassegegenKlasse externer Link
  • Die Wende zum Weniger: Corona und das Konsumdilemma 
    „Seit Beginn der Pandemie wird nach dem Kollateralnutzen der Krise gefragt, ja diese sogar als eine Chance beschworen. Doch worin diese Chance konkret besteht und ob es tatsächlich zu einem nachhaltigen Wertewandel kommen wird, ist bisher völlig offen. In einer ersten Zwischenbilanz kann man eines jedoch feststellen: Ohne den Virus wäre eine der größten Schweinereien der industriellen Moderne immer noch ungestört im Gange, nämlich die Ausbeutung von Mensch und Tier in den gigantischen Fleischfabriken. Was „normale Zeiten“ nicht geschafft haben, erledigte der Virus in wenigen Wochen: (…) Im Kern stellt die Seuche unser gesamtes Konsum- und Lebensmodell in Frage. Oder genauer gesagt: unser Leben als Konsummodell. Ich konsumiere – und zwar möglichst viel und billig –, also bin ich, lautet das Leitmotiv des modernen homo consumens. Doch Corona hat das Primat des Konsums faktisch ausgehebelt – mit erheblichen Folgen (…) Die Grundfrage lautet daher: Kann ein derart kurzfristig durch Corona geändertes Konsumverhalten auf Dauer gestellt werden – und wenn ja, wie? Spätestens an diesem Punkt werden die Dilemmata des global integrierten Weltmarkts deutlich. Denn zugleich erleben wir dank Corona in aller Dramatik, in welch fatalen Pfadabhängigkeiten sich die gesamte Weltwirtschaft bewegt. Wenn der reiche Norden nicht billige Kleidung im Überfluss konsumiert, leiden als erstes die (zumeist weiblichen) Produzenten in den südlichen Billiglohnländern, denen ihre gesamte Existenzgrundlage abhandenkommt. Und wenn die deutschen Reiseweltmeister nicht die schönsten Strände der Welt heimsuchen, erhalten die in der Tourismusindustrie beschäftigten Einheimischen nicht die erforderlichen Löhne, um anschließend auch deutsche Industrieprodukte erwerben zu können. Auch deshalb werden uns spätestens im Herbst die gewaltigen ökonomischen Folgeschäden von Corona einholen, wenn nämlich zahlreiche deutsche Betriebe Konkurs anmelden müssen. (…) Hier zeigt sich, dass die über Jahrhunderte praktizierte Logik der Externalisierung der industriellen Folgeschäden endgültig an ihre ökologischen Grenzen gekommen ist. Corona verdeutlicht damit die doppelte Krise des globalkapitalistischen Produktions- und Konsummodells. (…) Die Coronakrise könnte der Anfang einer besseren Normalität werden. Doch dafür darf die geschenkte Zeit nicht zur verschenkten Zeit werden. Dafür müssen wir den Mechanismen der Verdrängung und dem starken Sog zurück in die alte „Normalität“ eine andere, neue Leitidee von Leben und Konsumieren entgegensetzen. Doch welche Antwort wir darauf geben, ist derzeit noch offen. Fest steht nur eins: Eine solche Gelegenheit werden wir so bald nicht wieder erhalten.“ Artikel von Albrecht von Lucke aus der ‚Blätter‘-Ausgabe vom August 2020 externer Link
  • »Menschen merken, was ihre Bedürfnisse sind«. Zu den Chancen alternativer Ökonomie in der Coronakrise 
    „… [Es scheint, dass Solidarische Ökonomien krisenfester sind. Warum ist das so?] Habermann: Ich denke, das liegt an der Bedürfnisorientierung. Die Ressourcen sind ja in der kapitalistischen Wirtschaft auch da. Aber hier muss immer der sogenannte Multiplikatoreffekt aufrechterhalten werden, ansonsten führt er in die Krise: Geht der Konsum runter, gehen Produktion, Beschäftigung und das Einkommen und dann wieder der Konsum runter in einer Abwärtsspirale. Dann müssen Betriebe schließen, die später wieder gebraucht werden, Menschen haben kein Einkommen mehr und so weiter. Letztlich gerät das ganze System in die Krise, verbunden mit viel Elend. Obwohl alles da wäre. Embshoff: Ich würde noch den Punkt der Beziehungen ergänzen. In der Solidarischen Ökonomie gehen Menschen mehr Beziehungen ein, sie kennen die Betriebe und Projekte und fühlen sich gemeinsam verantwortlich. Da kommt man schneller auf die Idee, Ressourcen dorthin zu geben, wo sie gebraucht werden, anstatt bei Amazon zu kaufen. (…) Embshoff: Für mich ist klar, dass wir eine stärkere Regionalisierung brauchen, denn das ist auch ökologisch sinnvoll. Trotzdem können regionale Strukturen internationale Bezüge haben, je nachdem was ökologisch und ökonomisch sinnvoll ist. Die Frage ist ja: Wo gibt es welchen Bedarf? Statt etwa Millionen Tonnen Milch zwischen der EU und Australien hin und her zu exportieren, was absurd ist, macht es mehr Sinn, je nach Bedarf regional zu produzieren. [Andererseits springen auch immer wieder Nationalist*innen auf den Regionalzug auf. Wie sollte mit diesen Tendenzen umgegangen werden?] Embshoff: Regionale Strukturen müssen überhaupt nicht nationalistisch sein, von diesen Tendenzen muss man sich klar und aktiv abgrenzen. Habermann: Eigentlich muss die Idee der nationalen Wettbewerbsstaaten überwunden werden, denn darauf beruht die imperiale Lebensweise, von der wir hier bei allen sozialen Unterschieden profitieren. Sie sollte aber nicht durch konkurrierende Regionen ersetzt werden. Ich denke, dass wir Wirtschaft auf unterschiedlichen Skalen organisieren sollten: Die Bäckerei wird sehr lokal Menschen versorgen, die Energieversorgung schon sehr viel großflächiger gestaltet sein, und einiges macht global beziehungsweise transregional am meisten Sinn…“ Interview von Haidy Damm vom 21.07.2020 im ND online externer Link mit Dagmar Embshoff und Friederike Habermann
  • John Holloway: Eine Kaskade des Zorns. Meine COVID-19-Fantasie 
    „… Und mit fortschreitendem Shutdown verlagert sich unsere Aufmerksamkeit, weg von der Krankheit, hin zu den wirtschaftlichen Folgen, die uns ausgemalt werden. Wir erleben die schlimmste Wirtschaftskrise seit mindestens den 1930ern, die schlimmste Krise Großbritanniens seit 300 Jahren, so heißt es. Über einhundert Millionen Menschen werden in extreme Armut fallen, sagt uns die Weltbank. Ein weiteres verlorenes Jahrzehnt für Lateinamerika. Millionen und Abermillionen Erwerbsloser auf der ganzen Welt. Menschen, die hungern, Menschen, die betteln, steigende Kriminalität, zunehmende Gewalt, enttäuschte Hoffnungen, geplatzte Träume. Es wird keine schnelle Erholung geben, jegliche Erholung ist voraussichtlich zerbrechlich und schwach. Und wir denken: all dies nur, weil wir ein paar Monate zu Hause bleiben mussten? Und wir wissen, dass das nicht sein kann. (…) Genau so, wie die Pandemie vorhergesagt wurde, wurde noch deutlicher die Wirtschaftskrise vorhergesagt. Seit dreißig Jahren, oder noch länger, hat die kapitalistische Ökonomie im wahrsten Sinne des Wortes von geliehenem Geld gelebt: ihre Ausweitung basierte auf Kredit. Ein vor dem Einsturz stehendes Kartenhaus. (…) Wir durchleben es gerade: das Feuer der kapitalistischen Krise. So viel Elend, Hunger, enttäuschte Hoffnungen, nicht aufgrund eines Virus, sondern um die Profitabilität des Kapitals wiederherzustellen. Und was wäre, wenn wir einfach das auf Profit basierende System abschafften? Was wäre, wenn wir mit unserer frischen Tatkraft einfach rausgingen und das täten, was es zu tun gilt, ohne uns um den Profit zu sorgen: die Straßen reinigen, Krankenhäuser bauen, Fahrräder montieren, Bücher schreiben, Gemüse pflanzen, Musik machen, was auch immer. Keine Erwerbslosigkeit, kein Hunger, keine geplatzten Träume. Und die Kapitalist*innen? Entweder an die nächste Straßenlaterne hängen (eine immer bestehende Versuchung) oder sie einfach vergessen. Es ist sicher besser, sie einfach zu vergessen. (…) Die Pandemie hat den Kapitalismus in riesigem Ausmaß demaskiert. Wie selten zuvor wurde er bloßgestellt. Auf so viele Arten und Weisen. Einmal ist da der riesige Unterschied in der Erfahrung mit dem Shutdown, abhängig von dem dir zur Verfügung stehenden Raum, ob du einen Garten hast, ob du ein Ferienhaus hast, in das du dich zurückziehen kannst. In enger Beziehung dazu steht dann der riesige Unterschied der Auswirkungen der Pandemie auf Reich und Arm, wie sich mit dem Fortschreiten des Virus gezeigt hat. Dazu gehört auch der große Unterschied der Infektions- und Sterberate von Weißen und Schwarzen. Und die entsetzlichen Mängel in der Krankenversorgung nach über dreißig Jahren Unterfinanzierung. Und die furchtbare Inkompetenz so vieler Staaten. Und die eklatante Ausweitung der Macht von Überwachungs-, Polizei- und Militärbehörden in fast allen Ländern. Und die Diskriminierung im Bildungsbereich zwischen denen, die Zugang zum Internet haben, und denen, die keinen haben. Und die Gefahr furchtbarer Gewalt, der so viele Frauen* ausgesetzt sind. All dies und noch viel mehr, während gleichzeitig die Eigentümer*innen von Amazon und Zoom und so viele andere Technikunternehmen beeindruckende Profite einfahren und der Aktienmarkt, angetrieben vom Vorgehen der Zentralbanken, den schamlosen Transfer des Reichtums von Arm zu Reich vorantreibt. Und unser Zorn wächst und unsere Ängste und unsere Verzweiflung und unsere Entschlossenheit, dass dies nicht so sein muss, dass wir DIESEN ALBTRAUM NICHT WAHR WERDEN LASSEN DÜRFEN. Und dann öffneten sich die Türen und der Damm brach. Unser Zorn und unsere Hoffnungen brachen auf die Straßen hervor. Wir hören George Floyd, wir hören seine letzten Worte, „Ich kriege keine Luft“. Die Worte drehen sich in unserem Kopf immer weiter. Wir haben nicht das Knie eines mordenden Polizisten in unserem Nacken, aber auch wir kriegen keine Luft. Wir kriegen keine Luft, denn der Kapitalismus tötet uns. (…) Der Kommunismus ist kein Nomen, das oktroyiert werden soll, sondern ein Verb, das zu erschaffen und wieder zu erschaffen ist. Und die Zapatist*innen erschaffen die Welt vieler Welten. Und so wie die landlosen Bauern und Landarbeiter ihre Slums verlassen und auf das Land zurückgehen und mit der Heilung der Beziehung zu anderen Formen des Lebens beginnen, so machen sich die Stadtbewohner*innen daran, urbane Saaten zu kultivieren, die Imker*innen Honig ernten zu lassen und einen städtischen Lebensraum zu schaffen, der allen ein lebenswertes Leben ermöglicht, dabei die Trennung zwischen Stadt und Land niederreißend. Und die Fledermäuse und Wildtiere gehen zurück in ihre Lebensräume. Und die Kapitalist*innen krabbeln in ihre Lebensräume zurück, unter die Treppen. Und die Arbeit, kapitalistische Arbeit, die schreckliche Maschine, die Reichtum und Armut produziert und unsere Leben zerstört, gelangt an ihr Ende und wir beginnen, das zu tun, was wir wollen, wir beginnen, eine andere Welt zu erschaffen, begründet auf der gegenseitigen Anerkennung unserer Würden…“ Artikel von John Holloway externer Link in der Übersetzung durch Lars Stubbe vom 23. Juni 2020 als Vorveröffentlichung zu Sozial.Geschichte Online 28 (2020)
  • Narrative und Szenarien der Nach-Corona-Welt
    „Wird durch die Corona-Krise das Ende des Kapitalismus eingeläutet – oder erlebt er ein „Jetzt erst recht“-Comeback? Fest steht: Die jetzigen Erzählungen werden beeinflussen, wie es weitergeht. (…) Viele Menschen fragen sich, ob die Corona-Krise ein Gelegenheitsfenster für einen gesellschaftlichen Wandel darstellen könnte. Nicht nur individuell kann eine persönliche Krise eine Chance eröffnen – auch in Wissenschaft und Gesellschaft ergeben sich strukturelle Veränderungen oft aus vorangegangenen Krisenerfahrungen. So hebt etwa der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn in seinem Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) die besondere Bedeutung von Krisen hervor: Nach Kuhn bilden die meisten Wissenschaften ein „disziplinäres System“, ein Paradigma aus. Verkürzt gesagt, denkt der „Mainstream“ einer Wissenschaft innerhalb „seines“ Paradigmas und blendet dabei Widersprüchlichkeiten weitgehend aus oder wehrt Kritik aus anderen Theorieschulen zunächst ab. Im Laufe der Zeit treten jedoch Probleme auf, die das bestehende Paradigma vor Rechtfertigungsdruck stellen können, so dass sich der Raum für neue Theorien eröffnet, was bei der „normalen“ Wissenschaft jedoch auf Widerstand stößt. Die Rechtfertigungskrise kann daher auf drei Arten enden: Das alte Paradigma wird doch irgendwie mit dem neuen Problem fertig. Das Problem wird „archiviert“ und zukünftigen Generationen überantwortet. Oder es setzt sich ein neues Paradigma durch. Dass Krisen auch wirtschaftspolitisch einen Paradigmenwechsel befördern können, lehrt ein Blick in die Geschichte (…) Krisen bringen jedoch nicht „automatisch“ Veränderungen mit sich. Sie werden von Menschen und Institutionen mit Diskursmacht vorangebracht. (…) Dass sich bestimmte Ideen durchsetzen, ist dabei als Zusammenspiel – auch zufälliger – historischer, kultureller und gesellschaftspolitischer Konstellationen zu verstehen. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Macht der Sprache. (…) In welche Richtung sich die Gesellschaft „nach Corona“ hin entwickeln wird, ist offen. Nicht zuletzt hängt dies davon ab, welche Ideen und Narrative sich jetzt durchsetzen und wer sprachliche Deutungsmacht über die Krise entwickeln kann. Es stellt sich jedoch die Frage, ob wir uns ein weiteres Mal Problemverschiebung in Sachen Klimaschutz oder gesellschaftlichem Zusammenhalt leisten können. Oder ob jetzt die Zeit gekommen ist, über einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel ernsthaft nachzudenken.“ Essay von Valentin Sagvosdkin und Hannes Böhm bei Makronom am 8. Juni 2020 externer Link (beide Autoren sind Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik)
  • In Verteidigung des Lebens. Über die Corona-Pandemie, die sozialökologische Großkrise und die Möglichkeit eines neuen Sozialismusbegriffs
    Die Corona-Pandemie hat die schon länger heraufziehende sozialökologische Großkrise vorweggenommen und verweist auf eine letztlich antagonistische Beziehung von Kapital und Leben. Dieser Widerspruch wirft die Frage auf, ob antikapitalistische Alternativen nicht grundsätzlich als »Projekte des Lebens« neu gedacht werden müssen. In diesem Sinne plädiert der Autor für einen Sozialismusbegriff, der zwar weiterhin die Eigentumsfrage als zentrales Machtverhältnis benennt, aber auf einem Care-Paradigma beruht, wie es in queerfeministischen Debatten skizziert wird – der Sorge um Menschen, Leben und soziale Beziehungen.“ Abstract zum Artikel von Raul Zelik in der PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft – vom Juni 2020 externer Link
  • Corona und die sozialen Fragen 
    Von Hong Kong aus hat sich im April ein Graffito verbreitet: „There can be no return to normal because normal was the problem in the first place.“ Das klingt nicht schlecht, die Frage ist aber, ob den Protagonisten solcher Sprüche eigentlich klar ist, was sie da sagen. (…) Würden die Betroffenen dies als eine praktisch erfahrene Wahrheit ihrer Lebensumstände festhalten, könnten sie einen gewissen Widerspruch zu ihrem Appell an ‚Vater Staat‘ bemerken, möglichst schnell die alten Zustände wiederherzustellen, in denen die aktuelle Notlage doch ihren Ursprung hat. Leider führt sie ihre Betroffenheit in der Regel in die falsche Richtung. Nicht in den normalen marktwirtschaftlichen Lebensumständen, in denen sie sich auch schlechten Erfahrungen zum Trotz im Prinzip aufgehoben fühlen, sondern in einer exzeptionellen Virus-Epidemie und in den gesundheits- und ordnungspolitischen Gegenmaßnahmen sehen sie den Grund der Misere – und suchen nach Schuldigen. (…) Über den Lohn hinaus und auch ohne Corona, also etwa im Normalzustand des Jahres 2018, zeichnen sich z.B. hinsichtlich der Renten, die man sich von einer lebenslangen Arbeit für Entgelt gemeinhin als auskömmlich verspricht, prekäre Verhältnisse ab: „20 Millionen rentenversicherte Arbeitnehmer und Selbstständige verdienten weniger als das Durchschnittsjahresgehalt, [mit dem sie] einen Entgeltpunkt erwerben. Dieser bringt derzeit rund 33 Euro Monatsrente im Westen und knapp 32 Euro im Osten ein. Nach 40 Arbeitsjahren mit Durchschnittsverdienst kommt man aktuell auf eine Brutto-Monatsrente von 1.322 Euro (West) oder 1.276 Euro (Ost).“ Für zwei Drittel der Rentenversicherten erweist sich also ihr Arbeitsleben absehbar als nicht hinreichend, um sich damit eine Durchschnittsrente von 1300 Euro brutto zu ergattern. Was lehrt das über den Lohn als Mittel des Lebens? (…) „Wegen Corona“ erfährt die Öffentlichkeit einmal mehr von den schäbigen Arbeits- und Lebensbedingungen der knapp 50.000 „Fremdarbeiter“ in den deutschen Fleischfabriken. Zum Ausgleich kommen auch die Nöte ihrer Arbeitgeber zur Sprache, deren Wortführer betonen, Betriebe würden Pleite gehen oder nach Osteuropa abwandern, wenn sie ihre Akkord-Schlachter im Werkvertrag besser bezahlen und in Einzelzimmern unterbringen müssten. Das ist doch auch eine beispielhafte Auskunft darüber, wie sich ein lohnendes Geschäft mit Nahrungsmitteln und der Lohn derer, die sie produzieren, als Lebensmittel ausschließen. Wenn die deutschen Dumpinglöhne entsprechende Jobs in Belgien, Frankreich, Holland und Dänemark überflüssig gemacht bzw. in die BRD geholt haben (tagesschau 3.6.20), so zeigt dies außerdem, dass für die Erfolge des Standorts Deutschland nicht nur die Hightech des Auto- und Maschinenbaus erfordert ist, sondern auch Methoden des „Manchesterkapitalismus“ noch ganz brauchbar sind. (…) Die wirklichen Gründe für eine Zunahme der Misere, welche die abhängig Beschäftigten und andere „einfache Leute“ vom Fortgang der Corona-Krise eventuell zu erwarten haben, finden sich in den ökonomischen und politischen Maßnahmen, mit denen Kapital und Staat dieselbe europaweit zu bewältigen suchen. Auszüge aus dem entsprechenden „Diskurs“: Die Industrie fordert parallel zur Bekanntgabe ihrer Entlassungspläne – und ihrer Bereitschaft, auch an einer klimarettenden Energiewende verdienen zu wollen -, den „Lasten-Abbau im Energie-, Wettbewerbs- und Umweltrecht“. Aus der Regierungspartei, die bei den Wählerumfragen in der Krise am meisten profitiert, kommt der Vorschlag, den Mindestlohn wieder abzusenken. Der Chef der Wirtschaftsweisen verbietet „Freibier für alle“ und erklärt einen Corona-Bonus für Familien zu „rausgeschmissenem Geld“. (…) Wie sehr die Arbeitseinkommen in Deutschland und weltweit unter Krisendruck geraten, wird man sehen. Der marktwirtschaftlichen Logik nach ist zu erwarten, dass die Arbeitgeber ihre verringerten Umsätze und Gewinne kostenbewusst in einer Kombination aus Lohnsenkung, Entlassungen und Änderung der Arbeitsbedingungen zu ihren Gunsten an ihre Arbeitnehmer weiterreichen. Vom „Angebot“ an Beschäftigte, sogar von deren Bereitschaft, auf Lohn zu verzichten, um den Arbeitsplatz zu sichern, hört man nicht nur bei Lufthansa. (…) Es ist absehbar, dass die Rückkehr zur Normalität – nach der Seite der Krisenabwicklung hin wie bezüglich der ins Auge gefassten Produktionsfortschritte – Personalkosten einsparen und ökonomisieren, also tendenziell überflüssige Arbeitsbevölkerung schaffen wird. Dies ist übrigens auch der dem Kapital immanente Weg, eine eventuelle Knappheit von Arbeitsvermögen (s.o.) zu überwinden. Eine substanzielle Arbeitszeitverkürzung könnte dem entgegenwirken, müsste aber, will man sie nicht bloß von Arbeitszeitmodellen der Unternehmen in deren Interesse abhängig machen, sozusagen erkämpft werden. Und hier treffen Gewerkschaften, wie beschrieben, wieder auf die verspürte Zwickmühle. (…) Wenn aber das System der Lohnarbeit, von dem die Arbeiter so recht und schlecht leben, nur dadurch am Laufen zu halten ist, dass der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ dazu lauter noch schlechtere Ausnahmen durch öffentliche Zuschüsse organisiert, etabliert sich vielleicht eine moderne Ergänzung der „sozialen Frage“, die niemals alt wird.“ Artikel von Georg Schuster vom 08. Juni 2020 bei telepolis externer Link (Woran man sich erinnern sollte – Teil 6)
  • Manifest COROPITALISMUS – Nichts wird so bleiben 
    Wenn die aktuelle Corona-/Covid-19-Pandemie eines offenbart, dann dieses: Kein Land ist vorbereitet. Es ist nicht abzusehen, wie die Pandemie ausgeht, wie viel Tod und Leid sie hinterlässt, wann sie beendet sein wird. Was wir jedoch momentan schon wissen ist, dass die politische Klasse der meisten Länder in der jüngeren Vergangenheit höchst fahrlässig gehandelt und in hohem Maße versagt hat. Diejenigen, die sich jetzt als Retter und ‚Krisenmanager‘ aufspielen, haben der Privatisierung öffentlicher Güter auf allen Ebenen Vorschub geleistet. Nicht eine der sozialen Infrastrukturen ist vom Kahlschlag verschont geblieben. Politisches Versagen: Exemplarisch zeigt sich diese extrem schädliche und zerstörerische Politik im Gesundheitswesen. Hier kann genau wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen bestaunt werden, was angerichtet wurde: unzureichende Bezahlung des Personals und das Anwachsen von Niedriglohnjobs, zu lange und personell ausgedünnte Schichten, Qualifizierungsmängel, Rekrutierungsprobleme u.v.a.m. (…) Auf mehr oder weniger generöse wie pathetische Weise bedankt sich die politische Kaste beim Personal der Krankeneinrichtungen für deren aufopferungsvolle Arbeit. Ohne irgendein Schuldeingeständnis oder Reue, ohne eine Zusage für bessere Bezahlung und für notwendige systemische Verbesserungen. Die sich anbahnende humanitäre Katastrophe sollte uns Anlass sein, über Grundlegendes nachzudenken und Fragen dazu zu stellen, ob unsere Gesellschaften sozial und wirtschaftlich adäquat verfasst bzw. organisiert sind und wie und wo sie dringend verändert werden müssen. Es ist wirklich an der Zeit, sich Gedanken über einen neuen Gesellschaftsvertrag zu machen, weil in der jetzigen Situation ebenso wie bei der Klimakatastrophe überdeutlich wird, was alles schief läuft. Hierbei muss auch über den Kapitalismus geredet werden. Das ist, so wurde es uns tagtäglich eingetrichtert, die einer ‚freien‘ Welt angemessene ökonomische Funktions-weise. Im Verein mit der parlamentarischen Demokratie soll er quasi die Mutter aller Freiheit sein. Wir wollen hier nicht darüber fabulieren, inwieweit die weltweite Epidemie durch ihn direkt angestoßen wurde. Was wir aber schon sagen können, ist, dass er wie ein Brandbeschleuniger wirkt. (…) Mit Pierre Bourdieu sind wir der Ansicht: „Es gibt keine wirkliche Demokratie ohne wahre politische Gegenmacht.“ D.h. wir dürfen unsere Geschicke und unser Leben nicht mehr der politischen Klasse anvertrauen und allein auf die parlamentarische Demokratie hoffen. Wir müssen als Vereinigung der Bürger selbst aktiv sein und Aktionsformen finden, um unsere Interessen durchzusetzen…“ Manifest von „Europäische Citoyens“ vom April 2020 
  • Coronakapitalismus. Oder: Was ist die Aufgabe der Linken in der Pandemie? 
    „Zeit der Krise, Zeit für Aktionen statt für Analyse? Eben nicht, argumentieren die Genoss*innen der IL Münster und fragen, was uns Corona über den neoliberalen Kapitalismus und staatliche Herrschaft lehrt. (…) Konkrete Forderungen aufzustellen, wie zum Beispiel Geflüchtete dezentral statt in Sammelunterkünften unterzubringen, die Bedingungen für Pflegende zu verbessern oder Maßnahmen so zu gestalten, dass sie nicht auf Kosten derer ausgetragen werden, die schon vor Corona sozial schlechter gestellt waren, mag richtig und wichtig sein. Doch müssen wir verstehen, in welche gesellschaftlichen Kontexte die Corona-Pandemie hineinwirkt und welche politischen, ökonomischen und ideologischen Orientierungen den Umgang mit der Pandemie bedingen sowie mit welchen Mitteln sie in der Pandemie weiter fortgeschrieben, modifiziert und legitimiert werden. Es kann also nicht um den »richtigen« Umgang mit der Pandemie in einer befreiten Gesellschaft gehen, sondern darum, den realen Umgang unter den bestehenden Verhältnissen zu kritisieren. Diese Kritik am realen Umgang mit der Pandemie unter den bestehenden Verhältnissen kann vor der bundesrepublikanischen Linken, vor uns selbst also, nicht halt machen: Denn auch in unseren Reaktionen auf die Corona-Pandemie spiegelt sich schließlich der gesellschaftliche Diskurs. (…) Die erste Aufgabe besteht darin, Corona politisch zu diskutieren. Wir haben es mit ungewöhnlich tiefgreifenden und umfassenden staatlichen Entscheidungen zu tun, ohne dass eine Diskussion darüber stattfindet. Ein paar Virolog*innen geben den Ton an, als gäbe es eine vermeintlich objektive Wissenschaft. Doch sind es politische Entscheidungen, die auf der Grundlage höchst beschränkten Wissens über ein neuartiges Virus getroffen werden, aber über das Leben Hundert¬tausender entscheiden können. (…) Die Analyse des staatlichen Umgangs mit der Pandemie muss seinen politischen Inhalt aufdecken. Nach einem Zick-zack-Kurs wurde am 12. März klar: »Flatten the Curve«! Eine Überlastung des Gesundheitswesens sollte vermieden werden – genau jenes Gesundheitssystems, das durch neoliberale Einsparungen schon längst an seine Grenzen gekommen war. Die staatliche Sorge gilt der »Volksgesundheit« oder, in der Sprache des neoliberalen Managements: »public health«. Niemand sollte das mit der Sorge um die Gesundheit eines jeden Einzelnen verwechseln, wie Bundestagspräsident Schäuble klarstellte, als er darauf hinwies, dass der Schutz des Lebens kein absoluter Wert sei. Die Schädigung der Wirtschaft darf nicht weiter gehen, als unbedingt erforderlich. Der Kampf gegen ein Virus, das die Atemwege der Menschen befällt und schädigt, darf »der Wirtschaft« nicht auf Dauer die Luft zum Atmen nehmen. (…) Selten wie nie wird deutlich, wie diese Gesellschaftsordnung einerseits den Einzelnen auf die Verfolgung seiner Interessen in Konkurrenz zu anderen verweist und andererseits der Staat als ideeller Gesamtkapitalist regulierend eingreift, soweit dies zur Aufrechterhaltung des »Normalzustands« erforderlich ist. Der Staat beschränkt die Möglichkeiten, die jeweiligen Partikularinteressen zu verfolgen, in dem Maße, in dem er das für das weitere Funktionieren der Gesamtgesellschaft als notwendig erachtet. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, auch mit Zwang, mindert er den Profit des Kapitals, um Aufgaben zu übernehmen, die er für das Funktionieren des Kapitalismus für notwendig hält. Den staatlichen Zwang erlebt der Einzelne als die Beschränkung seiner individuellen Interessen. Er wird aufs Gehorchen (Mundschutz, Abstandsregeln) verwiesen und zugleich in seiner Eigenverantwortlichkeit angerufen. Ansonsten muss er sich durchschlagen. Der Widerspruch zwischen staatlichem Zwang und persönlicher »Freiheit« kann in dieser Gesellschaftsordnung nicht aufgelöst werden. Dazu muss sie praktisch überwunden werden…“ Teil 1 des Beitrags von und bei Interventionistische Linke Münster vom Mai 2020 externer Link – siehe auch Teil 2:

    • Coronakapitalismus. Oder: Was ist die Aufgabe der Linken in der Pandemie? Teil 2
      „… Autoritäre Formierung und die Krise der parlamentarischen Demokratie beherrschen die politische Lage in der BRD bereits seit Jahren. Zur autoritären Formierung gehören die neuen Polizeigesetze und ihre Normalisierung eines militarisierten Sicherheitsdiskurses sowie der gigantische Aufstieg der AfD, vor allem die Übernahme vieler ihrer politischen Argumentationsfiguren in den Diskurs der sogenannten bürgerlichen Parteien (z.B. in der Geflüchtetenpolitik). Der Krise der parlamentarischen Demokratie als Begründungsideologie der herrschenden Blöcke in der BRD wird schon seit geraumer Zeit mit der Aushöhlung des bürgerlichen Rechts entgegengearbeitet. Dazu gehört z.B. das sogenannte Feindstrafrecht, also die Möglichkeit von Strafverfolgung und präventiven Maßnahmen gegen sogenannte »Gefährder«. Darin zeigt sich zugleich eine gesamtgesellschaftliche Situation, insofern die neuen Polizeigesetze eine in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Position widerspiegeln, wonach Rechtsverhältnisse als überflüssig erscheinen. (…) Der Ausnahmezustand zeigt die Verhältnisse anders auf als der kapitalistische Alltag. Das gilt auch für den Ausnahmezustand durch Covid-19. Die Verhältnisse werden durch das autoritäre Eingreifen des Staates sichtbarer. (…) Nur wenn wir verstehen, dass es um mehr geht als das Virus, nur wenn wir anfangen die Logik der Veränderungen, die der neoliberale Kapitalismus wie die staatliche Herrschaft darin durchlaufen, zu durchschauen und im Zusammenhang der Veränderung der modernen Gesellschaften und ihrer Subjekte zu begreifen, können wir Kritikfähigkeit zurückgewinnen und schrittweise Wege einer wirklich radikalen Antwort auf die Situation finden. Eine solche Antwort geht über die Anwaltschaft für benachteiligte Gruppen hinaus: sie bemängelt nicht einfach diese oder jene Versäumnisse staatlichen Handelns, sondern stellt infrage, welchen Logiken und damit welcher Rationalität das staatliche Handeln insgesamt folgt. Denn diese Rationalität ist, obwohl oder gerade weil sie auf (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, niemals einfach neutral oder objektiv, sondern immer schon an ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und an Diskurse geknüpft, die ihrerseits nicht frei von Machteffekten sind. Erst diese Machteffekte in ihrer umfassenden Wirkungsweise zu erkennen, macht es möglich, strategisch nach Perspektiven zu suchen, wie sie in Frage gestellt, angegriffen und schließlich überwunden werden können.“ Teil 2 des Beitrags von und bei Interventionistische Linke Münster vom Mai 2020 externer Link
  • Unsere Normalität kehrt nicht zurück
    „Der erste Impuls zu Beginn des coronabedingten Lockdowns bestand in einer Suche nach historischen Analogien – 1914, 1929, 1941? Doch in den Wochen, die seither ins Land gegangen sind, ist eines immer deutlicher geworden: die historische Neuartigkeit des Schocks, den wir gerade erleben. (…) Die westlichen Ökonomien stehen damit einem weitaus tieferen und brutaleren ökonomischen Schock gegenüber als sie ihn je zuvor erfahren haben. (…) Selbst wenn Produktion und Beschäftigung wieder begonnen haben, werden wir uns über Jahre mit den finanziellen Altlasten beschäftigen. In der Hitze des Augenblicks kommt es selten zum engagierten Streit über Finanzpolitik, da man sich in der Krise leicht aufs Geldausgeben einigen kann. Aber dieser Kampf wird kommen. Wir erleben die größte je in Friedenszeiten erfolgte Zunahme an Staatsschulden. (…) Die Geschichte zeigt uns allerdings, dass es radikalere Alternativen gibt. Eine bestünde in einem Ausbruch der Inflation, obschon unter den vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen nicht offenkundig ist, wie sich dies bewerkstelligen ließe. Eine andere wäre ein Ablassjahr, was ein höflicher Name für das Nichtzahlen von Staatsschulden ist (was weniger drastisch ist, als es klingt, solange es die Schulden bei der Zentralbank betrifft). Manche haben sogar vorgeschlagen, die Zentralbanken sollten aufhören, staatliche Schuldscheine zu kaufen und den Regierungen stattdessen einfach ein gigantisches Kassenguthaben gutschreiben. (…) Es ist möglich, dass es im Anschluss an den Lockdown zu einem Wiederanstieg der Ausgaben kommt. Aber wird das anhalten? Die naheliegendste Reaktion auf einen Schock, wie wir ihn gerade erleben, ist der Rückzug. Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen seit 2008 war der Schuldenabbau von Privathaushalten in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Konsument, die größte Nachfragequelle der Weltwirtschaft, ist deutlich besonnener geworden. Unternehmensinvestitionen waren schwach, ebenso das Produktivitätswachstum. Die Konjunkturabschwächung beschränkte sich nicht auf den Westen, sondern erfasste auch die Schwellenländer. Wir nannten es eine „säkulare Stagnation“. Wenn die Antwort von Unternehmen und Privathaushalten auf den beispiellosen Corona-Schock in einer Flucht in die Sicherheit besteht, dann wird dies die Kräfte der Stagnation vergrößern. Und wenn die staatliche Antwort auf die in der Krise akkumulierten Schulden in Austerität besteht, wird das die Lage noch verschlimmern. Es ist daher richtig, eine aktivere und visionärere staatliche Politik zu fordern, die einen Weg aus der Krise weist. Das aber wirft natürlich die entscheidende Frage auf: Welche Form wird diese Politik annehmen – und welche Kräfte werden sie kontrollieren?“ Beitrag von Adam Tooze in der Übersetzung von Steffen Vogel aus Blätter 5/2020 externer Link
  • [Manifest für ein Wirtschaften nach der Pandemie] Arbeit: Demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten – Work. Democratize, Decommodify, Remediate
    „Arbeitende Menschen sind sehr viel mehr als bloße „Ressourcen“. Dies ist eine der zentralen Lehren aus der gegenwärtigen Krise. (…) Wenn man sich ernsthaft fragt, wie die Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes diese Beiträge ihrer Mitarbeitenden in Krisenzeiten anerkennen könnten, ist die Antwort: Demokratisierung. Gewiss, wir müssen die gähnende Kluft der Einkommensungleichheit schließen und die Mindestlöhne erhöhen – aber das allein reicht nicht aus. Nach den beiden Weltkriegen war der unbestreitbare Beitrag der Frauen zur Gesellschaft ein wichtiger Faktor dafür, ihnen das Wahlrecht zuzugestehen. Jetzt ist es aus den gleichen Gründen an der Zeit, den Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmern Stimmrechte in den Firmen zu verleihen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es in Europa die Vertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmern durch Betriebsräte. Diese Vertretungsorgane haben jedoch oft nur eine schwache Stimme in der Unternehmensleitung und sind den Entscheidungen der von den Aktionärinnen und Aktionären ernannten Führungsriegen untergeordnet (…) – aber sie reichten nicht aus, um echte Teilhabe in den Unternehmen zu schaffen. (…) Fragen wie die Wahl des – oder auch der! – CEO, die Festlegung wichtiger Strategien und die Gewinnverteilung sind zu wichtig, um sie den Aktionärinnen und Aktionären allein zu überlassen. Diejenigen, die ihre Arbeit, ihre Gesundheit, ja, ihr Leben, in eine Firma investieren, sollten auch das kollektive Recht haben, derartigen Entscheidungen zuzustimmen oder ein Veto einzulegen. (…) Diese Krise zeigt auch, dass Arbeit nicht als Ware behandelt werden darf, dass nicht Marktmechanismen allein das Sagen über die Entscheidungen haben können, die für unsere Gesellschaften so zentral sind. (…) Die Rentabilitätslogik kann nicht alles entscheiden, und bestimmte Bereiche müssen vor unregulierten Marktkräften geschützt werden, während gleichzeitig jedes Individuum Zugang zu einer Arbeit, die mit der eigenen Würde vereinbar ist, haben sollte. (…) Wir sollten jetzt nicht mit der gleichen Naivität wie 2008 vorgehen, als wir auf die Wirtschaftskrise mit einer Rettungsaktion ohne Auflagen reagierten, die die Staatsverschuldung in die Höhe trieb, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Wenn unsere Regierungen in der gegenwärtigen Krise eingreifen, um Unternehmen zu retten, dann müssen auch Unternehmen in die Pflicht genommen werden, die allgemeinen Grundbedingungen der Demokratie erfüllen. Unsere Regierungen müssen ihre Hilfe für Unternehmen von bestimmten Änderungen in deren Strategien abhängig machen – im Namen der demokratischen Gesellschaften, denen die Regierungen dienen und durch die sie konstituiert werden, und im Namen ihrer Verantwortung, unser Überleben auf diesem Planeten zu sichern. (…) Machen wir uns nichts mehr vor: Die meisten Kapitalanlegerinnen und -anleger werden sich, wenn sie sich selbst überlassen sind, weder um die Würde der Beschäftigten kümmern, noch werden sie den Kampf gegen die ökologische Katastrophe führen. Es gibt eine Alternative: Demokratisieren wir die Unternehmen, dekommodifizieren wir die Arbeit, hören wir auf, Menschen als Ressourcen zu behandeln – damit wir uns gemeinsam um die Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten kümmern können.“ Internationales, mehrsprachiges Manifest für ein Wirtschaften nach der Pandemie vom 15. Mai 2020, unterzeichnet von über 3.000 Wissenschaftlern externer Link (deutsche Übersetzung Lisa Herzog) – Weitere Übersetzungen in 22 Sprachen findet man unter #DemocratizingWork externer Link
  • Nein zur Rückkehr ins „Normale“
    „Es liegt auf der Hand: Wenn die Wirtschaft einmal heruntergefahren ist, wenn es schon diesen Bruch gibt – dann liegt darin auch die Chance, sie anders wieder hochzufahren. Die Debatte darüber, wie dies geschehen soll, ist eröffnet. Im just veröffentlichten globalen Manifest De-growth: Neue Wurzeln für die Wirtschaft fordern mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen, Experten, Künstlerinnen und Aktivisten eine radikale Umgestaltung jenseits des Wachstumsparadigmas. In einem offenen Brief in Le Monde plädieren mehr als 200 Prominente und Wissenschaftler, darunter Juliette Binoche, Robert De Niro, Joaquin Phoenix, Penelope Cruz und Madonna, dafür, bitte nicht mehr nach „Normal“ zurückzukehren, sondern stattdessen unsere Konsumgesellschaft und -ökonomie „grundlegend zu verändern“. Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zeigt, dass 65 Prozent internationaler Bürgerinnen (57 Prozent der Deutschen) dazu bereit wären, die Konjunkturerholung dem Klimaschutz unterzuordnen. Gesellschaftlich und kulturell ist die Zeit für den nachhaltigen Wirtschaftswandel längst reif. Leider aber hinkt die aktuell etablierte Wirtschaftspolitik diesem Zeitgeist weit hinterher. (…) Kurz gesagt, wir befinden uns mit unserer derzeitigen Nachhaltigkeitsstrategie weitestgehend auf dem Holzweg. Um einen bevorstehenden ökologischen Zusammenbruch abzuwenden, müssen wir, daran führt kein Weg vorbei, schnellstmöglich den Kurs wenden und ein ökonomisches Modell entwickeln, das ohne fortlaufendes Wirtschaftswachstum auskommt. (…) Das klingt schwierig, und das ist es auch. Derzeit ist alles – von gängigen Geschäftsmodellen bis zu kollektiven Rentenversicherungen – auf ewiges Wachstum ausgerichtet. Wir sind es gewohnt, Wachstum zu feiern. Um nun nicht schon beim Gedanken an mögliche Schwierigkeiten den Kopf in den Sand zu stecken hilft es, sich zwei Sachverhalte zu vergegenwärtigen: Erstens ist unsere gesellschaftliche Fokussierung auf Wachstum ein relativ junges Phänomen – ein Nachkriegskonstrukt. (…) [Z]weitens, das BIP sagt nichts über die Qualität oder gerechte Verteilung unserer Wirtschaftsleistung aus. (…) Ebenfalls gleichgültig ist dem BIP, dass die heutige Haupttriebfeder unseres Wohlstandswachstums, die fossile Energie, unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstört. (…) Es ist höchste Zeit, dass Industrienationen sich von dieser gefährlichen Logik emanzipieren. Das bedeutet auch den Abschied von veralteten Wirtschaftstheorien, die ihren Ursprung in Zeiten der Frühindustrialisierung – bei Adam Smith und John Stuart Mill – haben. Dabei fällt auf, dass selbst besagte Ökonomen endloses Wachstum nicht für möglich hielten, sondern stattdessen an das zukünftige Erreichen einer stationären Wirtschaft glaubten. (…) Wenn wir Modelle der Zukunft mit Parametern der Gegenwart bemessen, dann gelingt uns keine Emanzipation…“ Beitrag von Miriam Meissner vom 14. Mai 2020 bei ‚der Freitag‘ externer Link
  • Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Care-Ökonomie: Ein Plädoyer in Zeiten von Corona
    Die Corona-Pandemie verdeutlicht die massiven Missverhältnisse im Bereich der Care-Arbeit. Mit vier Ansatzpunkten argumentiert das Netzwerk Care Revolution für eine Transformation: Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, Ausbau des Sozialstaats, dezentrale demokratische Strukturen und Gemeinschaftsprojekte für ein anderes Leben. (…) Schon vor dem neuartigen Corona-Virus bildete Care-Arbeit ein lebensnotwendiges Fundament der Gesellschaft. Ohne die vielen Menschen, die tagtäglich Kinder erziehen, unterstützungsbedürftige Angehörige pflegen oder Menschen in Not helfen, würde diese sofort zusammenbrechen. Sorgearbeit wird sowohl alltäglich unentlohnt in Familien als auch in Care-Berufen, etwa durch Pflegekräfte oder Erzieher*innen, geleistet und primär von Frauen ausgeführt. Nach wie vor werden Umfang und Bedeutung dieser Care-Bereiche massiv unterschätzt, obwohl vorliegende Zahlen zeigen, dass knapp zwei Drittel aller Arbeitsstunden in der BRD entlohnte und unentlohnte Care-Arbeit sind. In Zeiten von Corona ändert sich dies allerdings teilweise. Insbesondere Pflegekräfte und Ärzt*innen erhalten große Aufmerksamkeit, da beinahe alle Menschen die Abhängigkeit von diesen Berufsgruppen unmittelbar spüren. Aber selbst in dieser zugespitzten Situation, in der von Seiten des Staates viel Geld in die Hand genommen wird, um den Virus zu bekämpfen, erfährt die familiäre Sorgearbeit kaum Unterstützung. (…) So führen selbst in Zeiten einer Pandemie, in der die Rettung menschlichen Lebens im Vordergrund steht, große Teile der Care-Arbeit, weiter ein Schattendasein. Im Zentrum stehen stattdessen Unternehmen, die profitorientiert für den Markt produzieren. Bereits in den ersten Wochen des Shutdown verkündete die Regierung, möglichst alle Unternehmen erhalten zu wollen. Dies macht zunächst wenig Hoffnung auf Veränderung. Ich sehe allerdings gleichzeitig viele Menschen, die in der Corona-Pandemie bewusster erfahren, wie stark alle von der Sorgearbeit von Pflegekräften und Ärzt*innen abhängen. Ferner wird breit geteilt, dass Gesundheit keine Ware sein soll. Auch wird deutlich, dass das gesamte System der Kontakteinschränkung ohne die Eltern gar nicht aufrechtzuerhalten wäre. Ich sehe gleichzeitig, wie viele Menschen aufatmen, dass derzeit wenigstens etwas weniger Treibhausgase in die Luft geblasen werden. Sie hoffen, dass die Rezession jetzt auch eine Chance für ein ökologisches Umsteuern darstellt. Diese Entwicklungen machen Mut. Und doch wird auch nach der Corona-Pandemie jeder Schritt hart umkämpft sein, der darauf abzielt, die Rahmenbedingungen für Care-Arbeit deutlich zu verbessern. Erforderlich ist deswegen eine Transformationsstrategie, in deren Zentrum der Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Care-Ökonomie steht. Dabei verstehe ich unter Care-Ökonomie erstens die Orte, an denen entlohnte oder unentlohnte Sorgearbeit ausgeführt wird, also Institutionen wie Krankenhäuser oder Kindertagesstätten, aber auch Familien. Zur Care-Ökonomie gehört jedoch zweitens auch der Blick auf grundlegende menschliche Bedürfnisse in Verbindung mit nachhaltigem Wirtschaften. Mit der Konzentration auf Sorge als Prinzip des gesellschaftlichen Handelns können somit weitere lebensnotwendige Bereiche wie Mobilität, Landwirtschaft oder Wohnungsbau achtsam gestaltet werden, so dass die ökologische Zerstörung gebremst werden kann. (…) Für eine solche transformative Politik sehe ich vier Ansatzpunkte: Zunächst ist eine drastische Verkürzung der allgemeinen Erwerbsarbeitszeit erforderlich; gleichzeitig ist der Ausbau des Sozialstaats mit auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten wichtig, die Menschen mit Sorgebedarf oder auch hohen Sorgeaufgaben unterstützen; dafür wiederum sind drittens demokratische Strukturen vor Ort notwendig, so dass die Bedürfnisse tatsächlich aller Menschen wahrgenommen werden. Und viertens zeigen von unten aufgebaute Gemeinschaftsprojekte oder Commons bereits heute, dass ein anderes Leben möglich ist. Mit diesen hier umrissenen Schritten einer Care Revolution lässt sich zunächst eine solidarische und nachhaltige Care-Ökonomie auch innerhalb noch bestehender kapitalistischer Strukturen aufbauen…“ Beitrag von Gabriele Winker (Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution) am 19. Mai 2020 externer Link im Blog des transcript Verlages „Die Corona-Gesellschaft“ – Dieser Text ist ein Auszug aus einem längeren Beitrag in der Buchpublikation »Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft«, herausgegeben von Christian Keitel, Michael Volkmer und Karin Werner, die Ende Juli 2020 im transcript Verlag erscheint.
  • Corona im Kapitalismus: Ende des Neoliberalismus?
    „… Krisen sind – nicht nur der griechischen Ursprungsbedeutung des Wortes nach – Momente der Entscheidung. In ihnen fällt das Urteil, wie tragfähig die von ihnen betroffene Lebensform ist. Auch die Corona-Krise stößt uns nicht einfach nur zu; selbst da wo sie als unverfügbare Naturkatastrophe von außen über uns hereinzubrechen scheint wird sie zur gesellschaftlichen Krise sofern sie auf bestehende soziale Institutionen, Praktiken und Strukturen trifft. Als solche ist sie immer auch das Produkt unserer kapitalistischen (Re)Produktions- und Lebensweise und fördert tiefere Dysfunktionalitäten zutage. Umso mehr hängt davon ab, wie die Krise genau gefasst wird (…) Eine Pandemie führt jede Gesellschaftsform an ihre Grenzen, aber mit Blick auf die spezifisch kapitalistischen Dimensionen der Krise, stellt sich die Frage nach Schlüssen, die aus der jetzigen Situation gezogen werden sollten. Dass die Corona-Krise bestehende Probleme und Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus verstärkt und wie unter einem Brennglas hervortreten lässt, hat zu Prognosen Anlass gegeben, der Neoliberalismus finde in der gegenwärtigen Krise sein Ende. Tatsächlich werden in der Krise bis eben noch scheinbar selbstverständlich vorherrschende Auffassungen etwa zur Staatsverschuldung oder die Logiken der Ökonomie mit Verweis auf ein höheres Gut schlagartig außer Kraft gesetzt, selbst von der staatlichen Übernahme von Industriebetrieben war sehr schnell die Rede. Doch wie steht es tatsächlich um die gesellschaftlichen Alternativen? Welches sind die Konzepte, die im Zuge des gesellschaftlichen Schocks durchgesetzt werden können? Haben gegenüber Lösungen, die auf den starken Staat setzen, Möglichkeiten einer demokratischen Vergesellschaftung von zentralen sozialen Institutionen überhaupt eine Chance, sich zu entwickeln? Oder wird die Krise in erster Linie den Finanzmärkten nutzen und der Neoliberalismus geht gestärkt daraus hervorgehen, so dass uns nach dem Abklingen der Infektionswellen einfach eine Rückkehr zum Status quo ante bevor?…“ In Context diskutieren am 14. Mai 2020 bei KTB Alex Demirović und Ulrike Herrmann über die Corona-Krise externer Link (Videolänge: 54:41 Min.)
  • Grundrechte, Gesundheit und Klassenunterschiede: Linke Politik in der Krise 
    Politik sucht den Ausstieg aus dem Corona-Shutdown, das Kapital macht entsprechenden Druck, Impfgegner und Verschwörungstheoretikerinnen malen das Gespenst einer Diktatur an die Wand: Einige Überlegungen zu den laufenden Corona-Debatten in Politik und Medien. (…) Jetzt eröffnet sich ein Feld der öffentlichen Diskussion, das wir nicht ungenützt lassen dürfen. Erschreckend ist aber, dass die Öffnung dieser Diskursräume von vielen Linken nicht dazu genutzt wird, um über die Verfasstheit der Gesellschaft nachzudenken und Formen linken Handelns auszuloten. Stattdessen rekurrieren einige Linke auf einen diskursiven doppelten Rückwärtssalto: Das Ausmaß der Pandemie wird heruntergespielt und die Einschnitte der Grundrechte überzeichnet. Bezeichnend ist, dass einige Linke, wohl aus dem Bedürfnis heraus, sich Klarheit in dieser unübersichtlichen Gemengelage zu verschaffen, nicht davor zurückschrecken, Argumente der Rechtsradikalen übernehmen. Schlichtweg gruselig ist die Attitüde mit der sich etwa Anselm Lenz und Co zu Verteidigern des Grundgesetzes hochstilisieren, Bündnisse mit kenfm und Organe von Verschwörungstheoretikern wie Rubikon eingehen und die Mär einer Gleichschaltung der Berichterstattung durch die Medien wiederholen. (…) Die Hoffnung, dass die aktuelle Krise den Neoliberalismus quasi per Automatismus zu Fall bringen wird, ist schlichtweg falsch; die Interpretation, Staatshilfen seien bereits ein Eingeständnis der Unausweichlichkeit eines Systemwechsels, eine Chimäre. (…) Die (Schein-) Debatte über Kurven, Modelle und pseudo-wissenschaftliche Erkenntnisse verdeckt die eigentliche Herausforderung: über die Handlungsfelder linker Politik nachzudenken, die Krise zu nutzen, um die kapitalistische Produktionsweise infrage zu stellen. Drei Themenkomplexe, über die wir nachdenken sollten, sind durch die Krise noch einmal deutlich geworden: die Ausbeutungsverhältnisse in der Arbeitswelt, die Auseinandersetzung mit den Kräfteverhältnissen und die Klassenverhältnisse. Die Krise verstärkt bestehende Widersprüche und Spaltungen, die die Gesellschaft schon seit Jahre prägen (prekäre und regulär Beschäftigte, Männer und Frauen). Deutlich geworden ist das paradoxe Gefälle zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung prekärer Berufe und ihrer mangelnden Anerkennung vermittels der Gehälter. (…) Die Rettungsprogramme und die Ausweitung der Hilfen für Arbeitslose, KurzarbeiterInnen und Selbstständige werden die Debatte um Kürzungen und Umstruktierung staatlicher Haushalte verschärfen, Vorschläge zur Sanierung öffentlicher Haushalte mittels erheblicher Umverteilung werden garantiert bereits erstellt. (…) Entscheidend wird hier sein, die Kräftverhältnisse auszuloten, die nicht nur Schlimmeres verhindern, sondern grundlegende Veränderungen herbeiführen können. (…) Letztlich ist diese Krise auch eine Chance, die Klassenverhältnisse in Deutschland stärker in den Fokus zu nehmen. Die Auflösung der Klassen und die Verunmöglichung klassischer linker Politik sind das Narrativ, das letztlich grundlegende Veränderungen ausschließt. Tatsächlich hat aber gerade die Arbeitsteilung in der Krise die zugrundeliegenden Klassenunterschiede noch einmal auf den Punkt gebracht. (…) Hoffnung sollten wir uns auch nicht bzgl. des systemüberwindenden Potentials zivilgesellschaftlichen Engagements machen. Zivilgesellschaftliche Solidarität ist kein Anzeichen für eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ist vielmehr Ausdruck der Fähigkeit der Gesellschaft, im Alltag aber eben auch in Krisen Unterstützung zu leisten, meistens im Nahbereich und ohne den Anspruch, allgemeinere Fragen aufzuwerfen. Zivilgesellschaftliche Solidarität generiert auch nicht, wie etwa Jutta Allmendinger behauptet, eine Bringschuld seitens des Staates, die Verhältnisse nach der Krise nachhaltig zu verändern. Im Gegenteil, oftmals springt sie dort ein wo Institutionen nicht präsent sind oder schlichtweg versagen. (…) Solidarität, die nicht nur auf Krisen reagiert, sondern auch in der Normalität agiert und sich politisch artikuliert, lebt von und in gewachsenen Milieus, die, auch keine neue Erkenntnis, gerade im Kapitalismus gezielt zerrüttet worden sind. Darüber können auch die unzähligen staatlichen Programme zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements nicht hinwegtäuschen. Sinnvoll wäre auch eine ehrliche Bestandsaufnahme über die Verwurzelung der Linken in der Zivilgesellschaft, denn solidarisches Handeln kann neue Formen des Miteinanders und der Politisierung begründen. (…) Deutlich wird auch, dass jede der einzelnen Diskurs- und Handlungsachsen eine Vielzahl von potentiellen Bündnismöglichkeiten eröffnet. Voraussetzung ist allerdings die Etablierung eigener Diskursfelder, die die Formulierung konkreter Ansätze und Alternativen ermöglicht. Wenig hilfreich sind Bündnisse mit Rechten, Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern. Wenig hilfreich sind aber auch der Rückfall in traditionelle Kampagnenpolitiken oder die Erwartung, dass sich die Umstände alleine aus einer Einsicht in die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des aktuellen Systems von alleine verändern werden.“ Artikel von Miguel Montero vom 14. Mai 2020 bei Blickpunkt WiSo externer Link – ein guter Überblick über die aktuelle Debatte
  • Antikapitalistische Politik in Zeiten von Corona 
    „… Als ich am 26. Januar 2020 zum ersten Mal vom Coronavirus las, das in China auf dem Vormarsch war, begann ich sofort über dessen Auswirkungen auf die globale Dynamik der Kapitalakkumulation nachzudenken. Ich weiß aus meiner Forschung zu Wirtschaftsmodellen, dass Störungen und Unterbrechungen in der Kontinuität des Kapitalflusses Abwertungen zur Folge haben und dass diese, wenn sie weit verbreitet und tiefgreifend sind, den Ausbruch einer Wirtschaftskrise bedeuten. (…) Das bestehende Modell der Kapitalakkumulation ist, so scheint es mir, bereits in großen Schwierigkeiten. Es gibt eine breite Welle von Protestbewegungen (von Santiago bis Beirut), von denen viele auf den Umstand abzielen, dass das vorherrschende Wirtschaftsmodell für die breite Masse der Bevölkerung nicht wirklich funktioniert. Dieses neoliberale Modell beruht zunehmend auf fiktivem Kapital und einer enormen Ausweitung des Geldangebots sowie auf Schuldenbildung. Es steht bereits jetzt vor dem Problem, dass die tatsächliche Nachfrage nicht ausreicht, um die Beträge, die das Kapital zu produzieren vermag, auch zu erwirtschaften. Wie könnte also das vorherrschende Wirtschaftsmodell mit seiner nachlassenden Legitimität und empfindlichen Gesundheit die unvermeidlichen Auswirkungen dessen, was eine Pandemie zu werden droht, abdämpfen und überleben? (…) Ich lehne schon seit langem die Annahme ab, die »Natur« sei etwas, das außerhalb von Kultur, Wirtschaft und alltäglichem Leben besteht. Ich nehme eine eher dialektische und relationale Sichtweise auf das metabolische Verhältnis zur Natur ein. Das Kapital modifiziert die Umweltbedingungen seiner eigenen Vermehrung, tut dies aber vor dem Hintergrund unbeabsichtigter Folgen (wie dem Klimawandel) und autonomer und unabhängiger evolutionärer Kräfte, die die Umweltbedingungen stetig verändern. Von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es so etwas wie eine wirklich natürliche Katastrophe nicht. Viren mutieren die ganze Zeit, das ist sicher. Aber die Faktoren, die eine Mutation lebensbedrohlich machen, hängen von menschlichem Handeln ab. (…) Es gibt einen bequemen Mythos, der besagt, dass Infektionskrankheiten Klassen oder andere soziale Barrieren und Grenzen nicht kennen. Wie in vielen solcher Weisheiten steckt auch in diesem ein Fünkchen Wahrheit. Während der Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert war die Überschreitung der Klassenschranken so dramatisch, dass eine Bewegung für eine öffentliche und sich professionalisierende sanitäre Grundversorgung und Gesundheit entstand, die bis heute existiert. Ob diese Bewegung dem Schutz aller oder nur der Oberschicht dienlich sein sollte, war nicht immer klar. Heute hingegen erzählen die Klassenunterschiede und die sozialen Auswirkungen der Krise eine andere Geschichte. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden durch die »normalen« Diskriminierungen verstärkt, die überall zu sehen sind. So ist zum Beispiel die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich um die stetig steigende Zahl der Kranken kümmern muss, in den meisten Teilen der Welt typischerweise klar geschlechts- und ethnienspezifisch markiert. Sie spiegelt die klassenspezifischen Arbeitskräfte, die z.B. in Flughäfen oder anderen Logistik-Sektoren zu finden sind. Diese »neue Arbeiterklasse« bildet die vorderste Front und trägt die Doppelbürde, dass sie einerseits zu den Beschäftigten zählt, die sich der größten Gefahr aussetzt, sich durch ihre Arbeit mit dem Virus zu infizieren, und andererseits wegen der durch den Virus erzwungenen wirtschaftlichen Sparmaßnahmen ohne jegliche Rücklagen entlassen zu werden…“ Beitrag von David Harvey übersetzt von Nima Astani bei Jacobin am 6. Mai 2020 externer Link
  • Corona-Gerechtigkeit – 60 zivilgesellschaftliche Gruppen stellen Forderungskatalog vor – Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit und Ökologie während der Corona-Pandemie und danach 
    „60 sozial- und klimapolitische Gruppen veröffentlichen heute 24 Forderungen für eine sozial-gerechte und ökologische Bewältigung der Covid-19-Pandemie. Zu den Unterzeichner*innen gehören u.a. die Feministische Vollversammlung Köln, verschiedene Klima- und Tierrechtsgruppen sowie der Bundesverband der BUNDjugend. Das Bündnis setzt sich dafür ein, Corona-Maßnahmen in Zusammenhang mit anderen Krisen zu setzen, wie beispielsweise der Klimakrise und dem Pflegenotstand. „Die Corona-Krise zeigt uns die Mängel unseres jetzigen Wirtschaftssystems“, heißt es in dem Forderungskatalog. „Dies ist der richtige Moment, unsere Wirtschaft nachhaltig, gerecht und krisenfest aufzustellen.“ Das Querschnittspapier umfasst einerseits kurzfristige Forderungen wie z.B. die Evakuierung von Großunterkünften und dezentrale Unterbringung von Geflüchteten. Andererseits enthält es langfristige Maßnahmen wie die Vergesellschaftung des Gesundheitswesens, oder den Schutz von Ökosystemen und Artenvielfalt, um zukünftige Pandemien zu vermeiden. Das Bündnis fordert außerdem, die derzeitigen Eingriffe zu nutzen, um anderen bestehenden Krisen entgegen zu wirken. Dazu gehört beispielsweise die Kopplung von wirtschaftlichen Rettungspaketen an ökologische und soziale Kriterien. (…) „Die unfassbar schlechten Arbeitsbedingungen und die fehlende Wertschätzung im Pflege- und Grundversorgungsbereich werden in der Gesellschaft nicht mehr als selbstverständlich hingenommen“, freut sich Alex Kurz von der Feministischen Vollversammlung Köln. „Nun müssen dringend strukturelle Veränderungen folgen. Dazu gehören grundlegende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und dauerhaft höhere Löhne insbesondere für die zumeist von Frauen* und Migrant*innen geleisteten Arbeiten in den Bereichen Pflege, Einzelhandel, Müllentsorgung, Gebäudereinigung und Landwirtschaft.“…“ Pressemitteilung vom 30. April 2020 bei Ende Gelände 2020 externer Link mit Link zum Forderungskatalog
  • Solidarität statt Fügsamkeit: Digitale Plattform sammelt Menschen für Alternativen zu staatlichen Auflagen in der Krise
    Eine Katze mit einer coronagerechten Maske ist das Symbol der Plattform Coview19. Dort finden sich nicht nur Informationen über den Verlauf der Pandemie. Den Gründer*innen der Plattform, die anonym bleiben wollen, geht es vielmehr um einen solidarischen Umgang in der Coronakrise. Es handelt sich um eine Initiative, »um auf die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 und die begleitenden Maßnahmen zu reagieren – digital und vor Ort«, heißt es auf der Website von Coview19 (https://coview.info externer Link ). Die Idee dazu ist Anfang März in Wien entstanden. »Damals wurde gerade das Veranstaltungsverbot in Österreich bekannt gegeben, und es dämmerte den Ersten, welche harten Maßnahmen wohl in den folgenden Wochen verkündet werden«, erklärt eine Mitbegründerin der Plattform gegenüber »nd«. Die Idee einer Watchgroup in Corona-Zeiten ist auch deshalb entstanden, weil die Befürchtung bestand, dass die starken Eingriffe seitens der Regierung mit starken Repressionen und Machtmissbrauch einhergehen könnten. (…) Aktuelle Fälle werden auf der Plattform gesammelt. Obwohl die Nachrichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz überwiegen, betonen die Coview19-Macher*innen den globalen Charakter ihres Projekts. »Wir verstehen uns daher als transnationale Initiative«, erklärt die Mitbegründerin. Alle Texte sind auf der Plattform in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht. Weitere Sprachen, darunter Spanisch, Französisch und Dänisch, sollen dazukommen. (…) Doch auch die sozialen Verwerfungen in Zeiten von Corona stehen im Fokus der Plattform. »In den letzten Wochen verloren Millionen von Menschen ihre Jobs, überall auf der Welt. Prekär Beschäftigte hat es sofort und am härtesten getroffen. Ohne gewerkschaftliche Unterstützung oder Organisierung wurde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen«, beschreibt die Unterstützerin der Plattform Erfahrungen, die aktuell Millionen in verschiedenen Ländern machen. Coview19 will dazu beitragen, solidarische Lösungen in dieser Krise zu finden, und stößt damit auf Resonanz. »Es melden sich täglich Menschen, die uns entweder von Repression, Missständen oder besorgniserregenden Entwicklungen schreiben oder die sich direkt in die Arbeit von Coview einbringen möchten«, erklärt die Aktivistin…“ Artikel von Peter Nowak vom 28.04.2020 in ND online externer Link
  • Klassenpolitik und das Virus
    Angesichts der großen Veränderungen im Alltag vieler Menschen werden auch in der Linken die Abgesänge an den Kapitalismus laut. Doch das Heraufbeschwören einer Krisenstimmung wird unsere Klasse umso mehr enttäuschen, wenn die Normalität der Ausbeutung zurückkehrt. Eine verantwortungsvolle Klassenpolitik sollte sich nicht auf die Gelegenheit des Virus verlassen, sondern auf Ihre Kritik unserer Lebensweise an ihren Wurzeln verweisen können. (…) Warum sollte unsere moderne Konsumgesellschaft auch in eine bedrohliche Krise stürzen, nur weil unsere Klasse für ein paar Wochen damit aufhörte, neue Autos zu bauen, die nur ungenutzt auf der Straße stehen? Häuser niederzureißen und wieder aufzubauen, nur um Anlagemöglichkeiten für Privatinvestoren zu verbessern? Nein, Verwerfungen wie zu Kriegszeiten stehen im Spätimperialismus nicht in Aussicht. Wenn wir darauf hoffen, dass es ein ‚Zurück zum Normalzustand‘ nicht geben kann und wird, machen wir es uns zu einfach. Stattdessen müssen wir uns der Herausforderung stellen, dass die herrschende Produktions- und Lebensweise sowohl vor als auch während der Krise trotz allem auch in unserer Klasse eine ganz erhebliche Akzeptanz erfährt. Diesen Zustand dürfen wir nicht ignorieren und hoffen, dass von hier aus eine gerade Brücke zu ihrer Mobilisierung führt. Anstatt den Krisenjargon der bürgerlichen Soziologen zu übernehmen, anstatt zu versuchen, die Epidemiologie und die Gesundheitsministerien mit unglaubwürdigen Forderungen zu übertrumpfen, sollten wir unsere Kritik nicht nur auf das Ereignis richten, sondern auf den Zustand, der dem Ereignis vorausgeht. Ob der Kapitalismus und seine politischen und finanziellen Organe in eine ernste Zwangslage geraten, oder der Betrieb einfach wieder voll eröffnet wird und möglicherweise noch gestärkt in einen neuen Aufschwung übergeht, ist noch nicht abzusehen. Besonders der ideologische Druck, dass jetzt nach einer Ruhephase wieder verstärkt produziert werden müsse, wird unsere Klasse angreifen, flankiert von einer aufgeputschten Kontrollmaschine, die sich nicht ohne weiteres in ihre Kasernen zurückziehen wird. Vermeintliche Hilfsprogramme werden gerade genau soweit greifen, die Betroffenen in noch größere Abhängigkeit von Krediten und Rückzahlungen zu bringen. (…) Wir wollen nicht nur der Widerstand sein, der das Kapital durch die Krise und auf einen moderneren Kurs lenkt – sondern die Macht, die selbst die Kontrolle über Produktion und Reproduktion, Kapital und Arbeit, Wohnen und Leben übernimmt. Das dürfen wir auch in Krisenzeiten nicht vergessen.“ Gastbeitrag von Florian Geisler vom 27.4.20 bei Klasse gegen Klasse externer Link
  • Viel muss sich ändern – Corona hat es nur (für jede*n) sichtbar gemacht
    „… Die mit dem ökonomischen Stillstand verbundene Sorge von Unternehmen, Politik und Beschäftigten um den Einbruch des Absatzes und der Gewinne: Eine auf Absatzsteigerung und Einnahmegewinnen basierende Wirtschaft ist immer und per se gleichermaßen zerstörerisch und fragil. Rohstoffe werden ausgebeutet, Ressourcen vernichtet. Produkte werden erzeugt, die niemand braucht. Beschädigte Produkte werden, anstatt sie zu reparieren, weggeworfen. Als veraltet geltende, ebenfalls, statt sie zu aktualisieren (exportiert als Müll oder verkauft in sog. Entwicklungsländer). Dieses Wirtschaftssystem ist ein auf der Produktion von Müll und Umweltzerstörung basierendes System, dessen Schäden die zu tragen haben, die sie nicht verursacht haben. Und doch wird versucht, mit riesigen Summen und vermutlich voreilig dieses zerstörerische System wieder zum Laufen zu bringen, auch wenn damit Infektionen und Menschenleben riskiert werden. Folgende Veränderungen halte ich für notwendig:
    1.
    Nötig ist eine Energie, Ressourcen und Umwelt sparende Produktion langlebiger und reparabler Erzeugnisse zur Befriedigung der Grundbedürfnisse Aller. (Auch Smartphones, Laptops und Drucker müssen langlebig und reparabel sein.) 2. Nötig ist, neben dem Erlernen der Fähigkeit, einfache Reparaturen vorzunehmen, auch (in allen Schulen) ein Erlernen handwerklicher und alltagstauglicher Fähigkeiten (z.B. Kochkenntnisse statt Fast Food). 3. Kinder und Jugendliche müssen ihre Begabungen und Interessen entdecken und ausbilden können, die nicht allein und in erster Linie der Erwerbsarbeit dienen (…) 4. Nur eine Transformation der vorrangig auf Güterproduktion und Gewinn ausgerichteten Wirtschaft zu einer auf die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse, Umwelt und Klima schonenden Wirtschaft kann zur Herstellung von gerechten, den Bedürfnissen aller Menschen entsprechenden Lebens- und Arbeitsverhältnissen beitragen. 5. Alle Güter der allgemeinen Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand. Welche gesellschaftlich notwendigen Güter und Dienstleistungen (Schulen, Kitas, Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Müllabfuhr, Büchereien und kulturelle Einrichtungen etc.) zentral zu organisieren und herzustellen sind und welche dezentral, muss auf kommunaler, auf Kreis- oder Landesebene unter Beteiligung engagierter Bürger*innen und von Fachleuten, geprüft und transparent neu entschieden werden. Da, wo eine Privatisierung in der Vergangenheit erfolgte, ist diese rückgängig zu machen. 6. Die allgemeine Mobilität muss durch die kostenfreie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Abschaffung des privaten PKW-Besitzes gewährleistet werden. Flüge müssen auf umweltschonende Langstreckenflüge beschränkt werden. 7. Wohnen: Zu den durch die Corona-Krise verschärften Problemen gehört der Zugang zu Wohnraum. Wer die Möglichkeit hat, in einer geräumigen Wohnung mit Garten zu leben, kann die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit besser ertragen als diejenigen, die angewiesen sind auf eine kleine Wohnung ohne Balkon oder Garten, erst recht als Familie oder allein erziehend mit kleinen Kindern. (…) 8. Demokratie: Unter Corona-Bedingungen müssen wir erleben, dass versucht wird, „durchzuregieren“ (…) Die Beratung der Bundes und Landesregierungen: Während der vergangenen Wochen konnten wir erleben, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eingrenzung des Virus, begleitet wurden von Empfehlungen durch Virologen: Drosten, Streeck, Robert-Koch-Institut, Leopoldina, ohne dass informiert wurde, ob und wenn ja, durch welche Interessenvertreter ihre Arbeit begleitet wird. (…) Es ist dringend nötig, demokratische Strukturen zu erweitern. Vorschläge liegen vor: So der einer Stärkung der demokratischen Institutionen durch die Beteiligung von Bürger*innen (z.B. per Losverfahren) von der kommunalen Ebene aufwärts, sowie die öffentlich ausgewiesene Heranziehung von Wissenschaftlern u.a. in der Klima-, Verkehrs- und Gesundheitspolitik. Die Hauptlast und Risiken auch der Corona-Krise tragen Frauen. Ihre Arbeit wird endlich als systemrelevant anerkannt. Doch entsprechend entlohnt wird sie auch weiterhin nicht, abgesehen von angekündigten einmaligen Zusatzzahlungen. 9. Kooperation und über die nationalen Grenzen hinaus gehende Vernetzung: Wie in der Klimabewegung gibt es auch in der sozialen Bewegung weltweit zahlreiche Projekte, getragen von engagierten Personen und Gruppen der Zivilgesellschaft. So sind z.B. in Griechenland als Folge der Austeritätspolitik vielerorts solidarische Projekte der Gesundheitsversorgung sowie der Hilfe für Geflüchtete entstanden. Mindestens innerhalb Europas sollte es unser Anliegen sein, Verbindungen herzustellen und Wege des Austauschs, der Zusammenarbeit und der Unterstützung zu schaffen. Es darf nicht Viren und Konzernen überlassen bleiben, grenzüberschreitend und international zu agieren.“ Diskussionsbeitrag vom 23. April 2020 von Gisela-Ingrid Weissinger bei Care Revolution externer Link, sie ist aktiv bei Care Revolution Dortmund, zum Aufruf „Gemeinsam aus der Corona-Pandemie lernen – für solidarische und nachhaltige Lebensweise“ externer Link (s.u.)
  • Corona schafft den Kapitalismus ab
    „Ich kann meine Kritiker schon unken hören, während ich die ersten Zeilen dieses Artikels tippe. Doch an diese Leute geht der Text nicht. Der Text wendet sich an alle, die spüren, dass Veränderung in der Luft liegt, die sich fragen, wohin die Reise geht und was kommen kann, die, die die Fantasie haben und die Welt von morgen in ihren Köpfen. Ich will euch Hoffnung geben, und zwar mit Fakten. Und ich will, dass ihr mit genau der gleichen Entschlossenheit ein Ende des Kapitalismus propagiert, wie Milton Friedman und Konsorten seinerzeit den Neoliberalismus herbeiredeten. (…) Corona ist der Impfstoff des Organismus Erde gegen das Virus Mensch. Jaja, das klingt furchtbar zynisch und negiert scheinbar all das Leid derer, die jetzt halt leiden. Aber wenn man genauer hinschaut, so entdeckt man, dass das Leid schon vorher da war. Es betraf nur noch nie alle von uns. Corona ist das Ergebnis unseres kapitalisierten Lebens, was in den vergangenen 200 Jahren enorme Schäden auf dem Planeten hinterlassen hat. Was wir vergessen haben, während wir diese Kugel ausbeuteten, ist, dass wir Teil von ihr sind. Alles, was wir tun, hat Konsequenzen. Diese sind nicht immer sofort spürbar und meistens spüren ganz andere sie, als diejenigen, die sie auslösen. Corona spielt uns jetzt vor, was wir mit dem Klimawandel lange übersehen, bzw. verdrängt haben. Die Gefahr ist da, sie ist ganz nah, greifbar und doch wieder nicht, denn wir sehen sie nicht. Handeln wir jetzt so oder so, sehen wir in zwei bis vier Wochen die Ergebnisse, und zwar an uns selbst. Die Kurve in Deutschland geht wieder nach oben, weil seit knapp zwei Wochen in der Politik Lockerungen diskutiert werden, die dem Bürger suggerieren „Alles nicht so schlimm.“ Der Kapitalismus und die aufgepumpte Wirtschaft werden als alternativlos betrachtet. Milliarden gehen an Großkonzerne, die vorher Steuern gespart haben. Die Prämie für Pflegende und Ärzte hingegen droht zu platzen, weil kein Geld dafür da ist. Ich sag euch was, es ist ein Haufen Geld da. Es haben nur die falschen Leute…“ Beitrag vom 23. April 2020 von und bei Victory Viktoria externer Link
  • Transnationales Feministisches Manifest 2020 … um gemeinsam aus der Corona-Krise herauszukommen und das System zu verändern.
    „Im gegenwärtigen Moment umarmen sich die Feminist*innen der Welt noch mehr. Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem: Im Angesicht dieser neuen weltweiten, gesundheitlichen, wirtschaftlichen und Ökosystemkrise kapituliert die globale feministische und transfeministische Bewegung nicht vor der Isolation und wird ihre Kämpfe trotz der Einschränkungen, die in unseren Gebieten durchgesetzt wurden, nicht verstummen lassen. Überall auf der Welt weigern sich Frauen und Queers, sich der durch die globale Pandemie noch zugespitzten Gewalt zu unterwerfen. Gestärkt durch die Kraft der internationalen feministischen Streiks der letzten Jahre, beginnen sie sich zu organisieren und ihre rebellischen Praxen miteinander zu verflechten. Diese Krise offenbart und verschärft die Gewalt, die Hierarchien und die strukturellen Wurzeln der Unterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit des kapitalistischen und kolonialen Patriarchats, gegen das wir schon immer gekämpft haben und auch weiter kämpfen werden. Gerade in den Spannungen und Brüchen, die durch diese Krise eröffnet werden, entstehen neue Formen des Widerstands und der Solidarität, denen wir angehören, denen wir uns anschließen wollen und denen wir durch unsere kollektive Stimme Resonanz auf globaler Ebene verschaffen wollen. Damit wir gemeinsam aus der Isolation herauskommen und die vorherrschenden Paradigmen untergraben können, durch die Bekräftigung feministischer, transfeministischer und antipatriarchaler Kenntnisse, Forderungen und Praxen. Das Coronavirus trifft uns alle, aber die Auswirkungen der Pandemie unterscheiden sich und das noch deutlicher, wenn wir sie aus einer grenzübergreifenden Perspektive betrachten, die von unseren Positionen als FLINT* ausgeht. (…) Wir rufen alle, die patriarchale Gewalt, Ausbeutung, Rassismus und Kolonialismus ablehnen, dazu auf, sich zu engagieren und sich uns anzuschließen, damit der weltweite feministische Kampf bereichert und gestärkt wird. Denn vereint überstehen wir nicht nur die Pandemie, sondern können alles ändern…“ aus dem mehrsprachigen Aufruf des transnationalen feministischen Bündnisses vom April 2020 bei Frauenstreik.org externer Link
  • Die Situation ist nicht »offen«, sondern scheiße. In der Corona-Krise sehen manche Linke eine Chance – vielleicht aus Vergesslichkeit? 
    „… Doch wer sich an die Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 erinnert, wird pessimistischer werden. Auch damals wurden weitreichende Maßnahmen ergriffen, Unternehmen vorübergehend unter staatliche Obhut gestellt und Milliarden in Produktion und Konsum gepumpt. Nach der Krise blieben Schuldenberge – und gewaltige Rückzahlungsforderungen. »Die Reichen sollen für die Krise zahlen« blieb ein frommer Wunsch. Auch 2008/2009 wurde das Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus bis weit in konservative Medien salonfähig. Doch was folgte, war kein neuer Anlauf zum Sozialismus. Auch wenn wenige Jahre später an vielen Orten der Welt große Protestbewegungen entstanden – Aufstände in den arabischen und nordafrikanischen Ländern, die Diktatoren stürzten, Platzbesetzungen in Europa, Occupy Wall Street in New York –, erfolgreich waren sie selten. Stattdessen würgte die Transformation der Weltwirtschaftskrise in eine Krise der Staatsschulden durch die EU und die Bundesregierung die Aufbruchversuche in südeuropäischen Ländern ab. Die 2008/2009 gemachten »Schulden«, mit denen in Wahrheit die Schulden von Banken und Unternehmen auf die Gesellschaft umverteilt worden waren, wurden zum ultimativen Erpressungsinstrument. (…) Dass Linke die Niederlagen der Zeit nach der letzten großen Krise bis heute nicht politisch verarbeitet haben, ist ein schweres Versäumnis. Wenn in der Corona-Krise jetzt wieder optimistische Parolen präsentiert werden, als hätte es die Erfahrungen der letzten zehn Jahre nicht gegeben, droht sich das Trauma zu wiederholen. (…) Sobald die politische Einschätzung dominiert, dass das Virus »unter Kontrolle« ist, wird die Wirtschaftskrise das alles bestimmende Thema. Längst bereiten Politiker*innen die Bevölkerung auf die bevorstehenden Sparrunden vor (…) Um vor allem im Interesse der Wirtschaft eine möglichst zügige Rückkehr zur Normalität zu ermöglichen, werden nun die ersten Beschränkungen gelockert. Hierbei sollen neue Überwachungs- und Kontrollinstrumente über die Mobilität der Bevölkerung und weitgehende Beschränkungen von Versammlungen und Zusammenkünften außerhalb der Lohnarbeit helfen. Auch das Arbeitsrecht gerät unter Beschuss, wie sich in den »systemrelevanten« Sektoren zeigt, wo, wie in Krankenhäusern, Arbeitszeitbeschränkungen geschliffen geschleift und Personaluntergrenzen aufgehoben werden. Für Linke ist all das keine große Chance, sondern eine große Gefahr. Wir verfügen weder über alternative Vorschläge zur Bewältigung der Epidemie, noch – dank des Verbots öffentlicher Versammlungen – über Mittel, egal welchen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die große Betriebsamkeit, die unter (publizierenden) Linken ausgebrochen ist, ist in erster Linie ein Versuch, dem Gefühl der Ohnmacht zu entgehen, den Verlust der eigenen erlebten Handlungsfähigkeit zu kompensieren. (…) Für Antworten auf die Corona-Krise in Europa müsste daraus folgen, die nationale Beschränkung linker Krisenpolitik zu vermeiden und von Anfang an Netzwerke für die Organisierung über Ländergrenzen hinweg zu knüpfen. Denn die Politik nach Corona wird in einem noch stärker national zerrütteten Europa stattfinden, in dem deutsche Kapitalinteressen aber weiterhin dominant sein werden. Bisher scheint sich in den deutschen Gewerkschaften allerdings wieder der krisenkorporatistische Schulterschluss mit den Unternehmen anzukündigen. Ihre Tarifrunden haben sie ausgesetzt oder verschoben. In Zeiten des Stillstands lässt es sich schlecht streiken, und bei Protesten im Gesundheitsbereich oder in der Lebensmittelproduktion befürchtet man einen öffentlichen Aufschrei. Wenn es um Erfahrungsräume geht, ist auch ein Blick auf die Aufstände und Protestbewegungen ratsam, die im letzten Jahr viele Länder erschütterten…“ Artikel von Jan Ole Arps, Nelli Tügel und Paul Dziedzic vom 21. April 2020 aus dem ak #659 externer Link
  • Die Krise von unten: Miteinander, am besten ohne Staat
    „… Während der Coronapandemie gibt es auch Positives zu berichten: Auf der ganzen Welt spriessen Hilfs- und Unterstützungsangebote aus dem Boden – darunter auch Graswurzelprojekte für ArbeiterInnen und Marginalisierte. Mit dabei sind mancherorts auch anarchistische, antiautoritäre und antikapitalistische Gruppen und Initiativen – und dies ist wohl kein Zufall: Schon vor der Pandemie beriefen sie sich auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, setzten auf Selbstbestimmung und propagierten den Aufbau von «Solidarität von unten». So etwa in Griechenland, wo nach der Finanzkrise 2008 und durch die EU-Spardiktate das staatliche Gesundheitssystem und der Wohnungsmarkt nahezu zusammenbrachen. In der Folge entstanden zahlreiche autonome Selbstverwaltungsstrukturen, wie anarchistische Gesundheitszentren oder besetzte Unterkünfte für Geflüchtete. Strukturen, die nun auch während der Coronakrise funktionieren: So zeugen Bilder auf Twitter und Onlinemedien von einer Aktion der anarchistischen Gruppe Rouvikonas Ende März, in der sie einem Athener Pflegeheim dringend benötigte lebensnotwendige Güter und Hygieneprodukte wie Latexhandschuhe, Toilettenpapier oder Putzmaterialien lieferten. Das Heim hatte wegen Versorgungsengpässen öffentlich um Hilfe gerufen. (…) In Neapel verbringt Giuliano Granato von der radikal-linken Bewegung Potere al Popolo (die Macht der Bevölkerung) täglich Stunden am «roten Telefon». «Anfang März registrierten wir plötzlich vermehrt Anrufe von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich bei uns über die Zustände am Arbeitsplatz beschwerten. In den Fabriken wurden keinerlei Schutzmassnahmen umgesetzt, Abstandsregeln nicht eingehalten, Masken waren nicht vorhanden», sagt der 34-Jährige am Telefon. Potere al Popolo wurde Ende 2017 im Hinblick auf die nationalen Wahlen im März 2018 gegründet (…) und ist heute – nachdem der Einzug ins Parlament nicht klappte – ein breites Netzwerk von BasisaktivistInnen und sozialen Bewegungen und keine klassische Partei. (…) Das Prinzip der «gegenseitigen Hilfe», auf das sich viele solcher Projekte beziehen, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Peter Kropotkin, Philosoph und Vordenker des kommunistischen Anarchismus, definierte das Prinzip in seinem 1902 erschienenen Buch «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt» als Gegenpol zum sozialdarwinistischen Grundsatz «Überleben des Stärkeren». (…) Gesundheit am Arbeitsplatz, Lebensmittelversorgung, medizinische Nothilfe, Wohnungssicherheit – die gegenseitige Hilfe hat viele Facetten. Ob ihre Dynamik über die Coronapandemie hinaus erhalten bleiben wird? Loick wünscht sich, dass sich eines Tages die gesamte Gesellschaft an den Tätigkeiten orientieren würde, die die Menschheit wirklich für ein gutes Leben braucht. Denn: «Ohne gegenseitige Hilfe gibt es keine Gesellschaft. Ohne Wettbewerb und Ausbeutung schon.»“ Beitrag von Lorenz Naegeli, Jan Jirát (Text) und Alexander Elsaesser, Opak (Illustration) aus WOZ Nr. 17/2020 vom 23. April 2020 externer Link
  • Und nach dem Virus? Risiken und Nebenwirkungen – Widerstand im Jahr der Seuche
    „… Vor einigen Tagen überstieg die Zahl der Coronavirus-Toten in New York City die Zahl der Todesopfer der Anschläge vom 11. September 2001. Wann immer Expertinnen und Politiker den 11. September beschwören, weiß mensch, dass sie die Bühne für etwas schockierendes und einschüchterndes vorbereiten. Die Anschläge vom 11. September dienten der Rechtfertigung des Patriot Act, außerordentlichen Auslieferungen und Folterungen, der Besetzung Afghanistans und des Irak; und dies ebnete den Weg für eine Reihe weiterer Katastrophen, darunter den Aufstieg des Islamischen Staates. Während am 11. September 2977 Zivilist*innen getötet wurden, tötete der darauf folgende »Krieg gegen den Terror« mindestens hundertmal so viele Zivilist*innen. Wenn der Vergleich mit dem 11. September etwas zeigt, dann, dass die Reaktion des Staates auf die Pandemie weitaus verheerender sein wird als das Virus selbst. Schauen wir uns die Gefahren an – und die Logik derer, die die staatliche Reaktion vorantreiben wollen, um sich auf die nächste Phase der Krise vorzubereiten. Es ist nicht unvermeidlich, dass das, was dabei herauskommt, Tyrannei sein wird; im Gegenteil, es könnte auch ein Umsturz sein. (…) Von Projekten der gegenseitigen Hilfe und wilden Streiks bis hin zu Mietstreiks und Gefängnisrevolten – überall auf der Welt gibt es bereits mutige Widerstandsbewegungen. Aus diesen Bemühungen müssen Netzwerke entstehen, die dem neuen Totalitarismus entgegentreten und ihn besiegen können. Der Einsatz war noch nie so hoch wie heute. Nach Leben statt Überleben zu streben, bedeutet, auf Garantien zu verzichten. Wer voll und ganz leben will, muss manchmal sein Leben riskieren. Es geht um Bedeutung, die hier auf dem Spiel steht, mehr noch als um Sicherheit. Was willst du? Kostenlose Tests und Behandlung von COVID-19 für alle und eine umfassende medizinische Versorgung? Dass die Maschinen in der Fabrik deines Arbeitgebers zur Herstellung von Beatmungsgeräten anstelle von Automobilen verwenden werden? Dass du die medizinischen Materialien aus deinem Pflegeberuf frei nutzen kannst, um auch jene zu behandeln, die nie Zugang zu angemessener medizinischer Behandlung hatten? Die Möglichkeit haben, deine Fähigkeiten und Ressourcen und deine Kreativität zum Nutzen aller einzusetzen – statt sie dem Diktat des Marktes unterwerfen zu müssen? Den wirtschaftlichen Druck abschaffen, der die Menschen dazu zwingt, das Risiko einzugehen, das Virus zu verbreiten und zum globalen Klimawandel beizutragen? In der Lage sein, in andere Länder zu reisen, ohne die Viertel der Städte, die du besuchst, zu gentrifizieren? Dich frei auf Festen mit vielen Menschen versammeln, ohne Angst vor Pandemien oder Polizei? Dass wir aufeinander aufpassen und uns gegenseitig unterstützen? Beantworte diese Fragen für dich selbst, liebe*r Leser*in, und lasst uns auf Grundlage unserer wildesten Träume eine gemeinsame Sache finden. Wir werden am Ende dieses Albtraums mit dir auf die Straßen gehen – entschlossen, allen Albträumen ein Ende zu bereiten.“ Beitrag vom 10. April 2020 vom und beim Netzwerk Crimethinc externer Link (mehrsprachig)
  • Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? Wie weiter in und nach der Corona-Krise
    „Die gegenwärtige Krise ist eine neuartige Form von Krise und kann durchaus als eine Art Vorzeichen für kommende Krisen verstanden werden. Denn sie ist nicht allein das Ergebnis der inneren Dynamik der Wirtschaft wie im Fall der Finanzkrise, die vorhersehbar war und von vielen Linken auch vorhergesehen wurde. Bei der heutigen Krise handelt sich um das, was in der Linken als Vielfachkrise thematisiert wurde:Der gestörte, krisenhafte Stoffwechselprozess zwischen Gesellschaft und Natur kommt nicht nur als Klimakrise zum Tragen, sondern auch durch die Verbreitung von Krankheitserregern. Die Corona-Krise ist insofern zwar exogen verursacht, als jede Form von Gesellschaft darauf reagieren und wirtschaftliche und soziale Prozesse für eine gewisse Zeit begrenzen müsste. Aber sie ist eben auch Teil der kapitalistischen Dynamik, die die gesellschaftlichen Naturverhältnisse in tiefgreifende Krisen bringt. Die raumgreifende Produktions- und Lebensweise schränkt die Lebensräume anderer Spezies immer weiter ein, so dass beispielsweise Viren verstärkt auf Menschen überspringen oder auch bakterielle Krankheitserreger immer häufiger übertragen werden. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, weniger Natur in Wert zu setzen, d.h. die Ausbreitung von Produktions-, Siedlungs- und landwirtschaftlichen Nutzflächen mit Monokulturen und Massentierhaltung auf Kosten des Natur- und Artenschutzes einzudämmen, die CO2-Neutralität mit aller Entschiedenheit und generell eine sozial-ökologische Transformation in allen Lebensbereichen voranzutreiben. (…) Die gegenwärtige Krise wird nicht schnell vorüber ziehen. Umso wichtiger ist eine realistische Einschätzung der politischen Situation und der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, nur so lassen sich mögliche Handlungsfelder für die Linke identifizieren. Zu einer Diskussion darum möchte dieses Papier einen Beitrag leisten. (…) Der Staat gibt jetzt sehr viel Geld für verschiedene Rettungsmaßnahmen aus. Jedoch werden diese nicht ansatzweise mit einer Investitionsoffensive für einen dringend notwendigen sozial-ökologischen Strukturwandel und für eine Ökonomie sozialer Infrastrukturen verbunden. Auch hier bieten sich diskursiv Möglichkeiten, linke Alternativen für eine Investitionsoffensive ins Gespräch zu bringen. (…) Vor dem Hintergrund der Corona-Krise ist der Schritt, dass Portugal nun alle dort lebenden Migrant*innen legalisiert und mit einer Krankenversicherung ausgestattet, nur logisch. Das muss der praktische Maßstab auch für die anderen europäischen Länder sein. (…) Angesichts der drohenden Gefahren durch die Gegenkräfte gilt es zugleich keine falschen Hoffnungen für eine linke Offensive zu hegen. Wir benötigen ein wenig Voluntarismus gegen die Krisendepression, aber kritischen Realismus für den langen Atem. Die Corona-Krise erinnert uns, wie zerbrechlich das Leben ist, jedes Leben, und was eigentlich alles wirklich „systemrelevant“ ist. Vielleicht nicht der günstigste politische Moment für die Linke, aber ein Gelegenheitsfenster für eine neue Solidarität.“ Diskussionsbeitrag vom Institut für Gesellschaftsanalyse & Friends vom April 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link mit Link zur 44-seitigen Langfassung des Textes
  • Nicht jede Krise ist eine Chance
    Die Corona-Krise legt offen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Ob sie unter den jetzigen Bedingungen eine bessere wird, ist allerdings zu bezweifeln. (…) Steckt in der Corona-Krise dennoch eine Chance? Manche Debatten in den Sozialwissenschaften, aber auch in gesellschaftlichen Öffentlichkeiten legen das nahe. Ich halte von solchen Einschätzungen nichts. Werden sie aus der Bauchnabelperspektive privilegierter Professoren mit hohen Einkommen und schönen Wohnungen geführt, wirken sie bestenfalls peinlich. Nur wer sich selbst dauerhaft auf der sicheren Seite wähnt, kann den Shutdown als günstige Gelegenheit zu Entschleunigung und der Abkehr von Wachstumszwängen interpretieren. Werden die Bauchnabelperspektiven saturierter Milieus generalisiert, können all jene, die unter den Einschränkungen massiv leiden, das wohl nur als zynisch empfinden. (…) Offensichtlich ist jedoch, dass eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus derzeit nur in vagen Umrissen existiert. Deshalb ist es grundfalsch, dem Wünschbaren den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftsszenarios zu verleihen. (…) Nur wenn diese Freiheiten künftig strikt an soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, entsprechende Ziele zu verwirklichen. Das heißt konkret: Die Zivilgesellschaften müssen in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss nehmen können, was wozu und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, und es geht um Klimagerechtigkeit nicht nur in der ökologischen, sondern auch in der sozialen Dimension. (…) Ohne Profifußball lässt es sich auch für Fußballfans über längere Zeiträume hinweg sehr gut leben, nicht aber ohne Bäckerinnen, Landwirte, Arzthelferinnen, LKW-Fahrer und hilfsbereite Nachbarn. Wir alle brauchen eine gut funktionierende soziale Infrastruktur. Die muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auf der Welt. Für eine soziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um aus einer verheerenden Katastrophe doch noch Spielraum für Weichenstellungen zugunsten progressiver Gesellschaftsentwicklungen zu gewinnen. Für allzu großen Optimismus gibt es indes keinen AnlassArtikel von Klaus Dörre vom 17.04.2020 im Jacobin Magazin externer Link
  • Aufruf „Gemeinsam aus der Corona-Pandemie lernen – für solidarische und nachhaltige Lebensweise“
    Die CoronaPandemie verdeutlicht, wie wenige Ereignisse zuvor, das Zerstörungspotential dieser unter den Bedingungen des Kapitals globalisierten und beschleunigten Welt. Kriege und Naturkatastrophen, das alltägliche Sterben an Unterernährung oder auf der Flucht können viele im globalen Norden ignorieren, jetzt trifft es alle – wenn auch selbst in CoronaZeiten Reichtum einen besseren Schutz ermöglicht. Das Leiden anderer auszublenden, sind wir trainiert. Denn das  Grundprinzip des beinahe weltweit herrschenden Systems ist Konkurrenz – zwischen Unternehmen um den höchsten Profit, zwischen Lohnabhängigen um Jobs und Aufstiegschancen, zwischen Eltern um Plätze in Kitas, zwischen Wohnungssuchenden um knapp gehaltene Wohnungen. Bei der Bekämpfung des CoronaVirus ist allerdings nicht Konkurrenz gefragt, sondern Solidarität. In einer zutiefst arbeitsteiligen und global vernetzten Welt kann die Eindämmung einer Pandemie nur in intensiver Zusammenarbeit gelingen – weltweit ebenso wie in den Nachbarschaften. Auch wenn Hamsterkäufe oder der Diebstahl von Masken aus Kliniken zeigen, wie machtvoll Konkurrenz und antrainierte Rücksichtslosigkeit sind – wir sehen vor allem, wie schnell, phantasievoll und entschlossen jetzt Handlungen der Solidarität aufblühen. (…) Solidarisch zu handeln bedeutet aber auch, die Strukturen zu bekämpfen, die uns gegeneinander ausspielen. Es bedeutet, dieses Wirtschaftssystem zu verändern, das immer weitere Bereiche des Lebens zu einer Ware macht, Krankenhäuser und Altenheime in Renditeobjekte verwandelt und die Grenzen für geflüchtete Menschen, selbst für unbegleitete Kinder, schließt. Was   wir benötigen, ist eine Wirtschaft, die in der Lage ist, auch in Zeiten der Not und der Verunsicherung die Bedürfnisse aller möglichst weitgehend zu befriedigen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Menschen ermöglicht, sich mit Zeit umeinander zu kümmern, und die solidarisches Handeln fördert – nicht nur in Zeiten von Corona, sondern immer und überall. Derzeit ist der glatte Fortgang der Kapitalverwertung für einen Moment ins Stocken geraten. Und wie immer in Krisen leiden die Armen und Schwachen. Gleichzeitig zeigt sich gerade, was wir brauchen und worauf wir nun wirklich verzichten können (…) Wir wollen bereits heute darum kämpfen, dass nach Corona Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen die finanziellen und personellen Ressourcen erhalten, die sie benötigen. Das bedeutet auch, dass alle in der Pflege Beschäftigten, auch die gegenwärtig irregulär in Privathaushalten Arbeitenden, gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Wir wollen eine Abschaffung der Fallpauschalen und ein Ende der Privatisierungen. Wir wollen die Institutionen in die Hände der Allgemeinheit zurückführen, damit alle Beteiligten in demokratischen Strukturen gemeinsam Prioritäten festlegen. Genauso möchten wir in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge vorgehen. So zeigt sich die Bedeutung von Bildung und Erziehung gerade jetzt, wenn die Schulen und Kitas geschlossen sind und spürbar wird, welch wichtige Arbeit Lehrer_innen und Erzieher_innen leisten. (…) Wichtig ist uns darüber hinaus, dass die öffentliche Daseinsvorsorge nicht weiter reichen Ländern vorbehalten sein kann, sondern wir müssen den exklusiv angeeigneten Reichtum global teilen, damit eine gute soziale Infrastruktur in allen Regionen der Welt aufgebaut werden kann. Viele haben auch schon lange gespürt, dass ein gutes Leben nicht von privaten Autos und von Flugreisen abhängt und auch nicht vom Übermaß an Konsumgütern, die weltweit produziert werden, um insbesondere im globalen Norden genutzt zu werden – je reicher die Menschen, desto höher der Verbrauch fossiler Energieträger. Bei vielen ist ein Aufatmen zu spüren, dass wir derzeit wenigstens etwas weniger Treibhausgase in die Luft blasen. (…) Deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass mit staatlichen Subventionen wieder Fluglinien und Autoproduzenten durch die Krise gebracht werden. Stärken wir stattdessen die gesundheitliche Versorgung, die Bildung für alle, Familien und Nachbarschaften, die gemeinsame Nutzung von Gütern, den nachhaltigen Konsum. Dabei gilt es, wenigstens jetzt zu beachten, dass uns nicht mehr TreibhausgasEmissionen sowie natürliche Rohstoffe zustehen als den Menschen im globalen Süden. Hier ist weltweite Solidarität gefragt. Wir wollen also solidarisch leben, nicht mehr auf Kosten anderer, nicht mehr zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen beitragen. Wir möchten die Sorge umeinander, die in Familien, Nachbarschaften und CareEinrichtungen geleistet wird, und die Produktion der wirklich notwendigen Dinge in den Mittelpunkt stellen. Es geht uns darum, dass Zeit für Schönes und Wohltuendes bleibt. Dafür braucht es ein Umdenken, aber es braucht auch ein ganz anderes System, einen system change. (…) Die allerersten Schritte scheinen uns jedoch teilweise schon lange und breit diskutiert. Jetzt ist die Zeit, sie durchzusetzen: 1. Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, damit jeder Mensch eine existenzielle Absicherung hat und gemeinsam mit anderen neue solidarische und nachhaltige Lebensweisen ausprobieren kann. 2. Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit auf zunächst maximal 30 WochenStunden, damit alle genug Zeit haben für Sorgearbeit, soziales und politisches Engagement. Ein geringeres Erwerbsarbeitsvolumen fordert uns auch heraus, Prioritäten festzulegen, zu entscheiden, welche Branchen schrumpfen und welche, wie beispielsweise die CareBereiche, weiter ausgebaut werden können. 3. Umfassender Ausbau der sozialen Infrastruktur bei gleichzeitigem Aufbau von demokratischen Strukturen in Städten, Dörfern und größeren Regionen, damit Menschen über die Bedingungen ihres Lebens gemeinsam entscheiden können. Globale solidarische Regeln, die sich in einer weltweit veränderten Arbeitsteilung, Schuldenstreichung, globalen Umverteilung der finanziellen Ressourcen, einer Öffnung der EU für Schutzsuchende und die Auflösung aller Flüchtlingsunterkünfte niederschlagen. (…) Lasst uns anfangen – auch jetzt, wo wir uns nur virtuell treffen können. Und sobald Corona überstanden ist, lasst uns die Plätze erobern und dann die Stadtteile und Betriebe. Lasst uns kämpfen, bis wir eine Wende in Richtung einer Gesellschaft eingeläutet haben, in der ein gutes Leben für alle Realität wird, in der wir Solidarität statt  Konkurrenz leben können.“ Aufruf von Aktivist_innen des Netzwerks Care Revolution externer Link zu den Konsequenzen aus der Corona-Pandemie vom 14. April 2020 beim Netzwerk Care Revolution
  • Gegen Staat, Kapital und Patriarchat – die Krise heißt Kapitalismus
    Supermärkte, Bäckereien, Pflegeheime, Krankenhäuser: es sind vor allem wir lohnabhängigen Frauen, die in der Corona-Epidemie in erster Reihe stehen. Es sind vor allem die Berufssparten, die mies bezahlt und auch im allgemeinen äußerst prekär sind. Und der Applaus von den Balkonen und Fenstern der Republik bringt keine Steigerungen auf dem Lohnzettel, bessere Personalschlüssel oder eine Abkehr der unsäglichen „Fallpauschale“ in den durchprivatisierten Krankenhäusern. Im Gegenteil: 12 Stunden Schichten sind möglich weil der ausgerufene Katastrophenfall das Arbeitsschutzgesetz aushebelt und die Personalschlüssel wurden in den Krankenhäusern und der Pflege sogar gänzlich ausgesetzt. Wieder einmal setzen die DGB-Gewerkschaftsspitzen darauf, gemeinsam mit der Regierung und den Unternehmen partnerschaftlich zusammen zu arbeiten und massive Einschnitte hin zu nehmen, die letzten Endes die Lasten der Krise auf uns alle umwälzen, um die Wirtschaft und das dazugehörige Wirtschaftssystem zu retten. Eben genau das Wirtschaftssystem, das uns erst in die heutige Situation gebracht hat. (…) Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren, so funktioniert Kapitalismus. Für uns gibt es nur eine Lösung: organisieren, solidarisch sein und als lohnabhängige Klasse das einfordern, was uns zusteht. Krankenhäuser und Pflege vergesellschaften! Genauso wie die Herstellung und die Verteilung der Lebensmittel eine kollektive Aufgabe sein muss, die sich nach den Bedürfnissen der Menschen richtet und nicht nach dem Profit, der damit zu machen ist. (…) Das alles sind keine Probleme, die von der Covid19-Pandemie verursacht worden sind, nein, sie verdeutlicht nur, was schon so lange falsch läuft: ein Wirtschaftssystem ausgerichtet an Profitinteressen anstatt an den Bedürfnissen der Menschen und mit ihm verwoben eine patriarchale Struktur, die Frauen ihren klaren Platz in der Gesellschaft zuweist: Vieles konnten wir in all den Kämpfen in all den Jahren aufbrechen aber nach wir vor gilt es, Kapitalismus und Patriarchat als Ganzes zu zerschlagen. Weder das eine noch das andere brauchen wir. Beides ist für uns als lohnabhängige Frauen eine existenzielle wie auch physische Gefahr. Wir können uns auf keinen Staat, auf keine ChefInnen, auf keine RichterInnen oder sonst wen verlassen. Wir verlassen uns auf unsere gegenseitige Solidarität und bauen Netzwerke auf. Wir organisieren uns an unseren Arbeitsplätzen – gerade in den prekären Bereichen und wir erzeugen Druck – nicht trotz dieser Pandemie sondern genau wegen ihr…“ Beitrag vom 14. April 2020 von organisierte autonomie (OA) externer Link
  • Neue Kultur der Solidarität: Wie soll linke Wirtschaftspolitik auf soziale Ungleichheit reagieren? 
    „… Nur ein Mindestlohn in existenzsichernder Höhe, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Außerdem ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung nötig, soll Armut verhindert werden. Damit der Mindestlohn zur Verringerung von Armut und sozioökonomischer Ungleichheit beitragen kann, sollte er zu einem »Lebenslohn« (living wage) fortentwickelt werden, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Baldmöglichst, also nicht erst »perspektivisch«, wie vom SPD-Parteitag im Dezember 2019 beschlossen, muss der Mindestlohn auf 12 Euro steigen. (…) Tarifverträge müssen durch Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung wieder ihre gesellschaftliche Normsetzungswirkung entfalten, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, alle sachgrundlosen Befristungen beseitigt und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder stärker reguliert werden. (…) Wenn man Inklusion als gesellschaftspolitisches Kernparadigma begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat das Ziel sein, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Bürger/innen beziehungsweise Wohnbürger/innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht. Dafür bietet sich eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung an. (…) Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. (…) Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, muss die sozioökonomische Ungleichheit verringern und mehr Steuergerechtigkeit verwirklichen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig. (…) Umverteilung von oben nach unten ist dringend notwendig, reicht allerdings nicht aus, weil sich die sozioökonomische Ungleichheit selbst im Falle einer konsequenteren Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen permanent reproduzieren würde. Deshalb muss die Umverteilung längerfristig durch eine Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems ergänzt werden. Nur wenn die Eigentumsfrage gestellt und durch die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrie ebenso wie der Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung und eine Verstaatlichung von Banken und Versicherungen beantwortet wird, lässt sich die Ungleichheit dauerhaft verringern.“ Vorschlag von Christoph Butterwegge beim OXI-Blog am 11. April 2020 externer Link (Text aus der gedruckten OXI vom März 2020)
  • Coronakrise: «Ideen, die zuvor als sozialistisches Teufelszeug galten, werden unter Applaus durch die Parlamente gepeitscht»
    „Die Pandemie bedroht das Leben und die wirtschaftliche Existenz von Millionen – und doch verweist die globale Krise auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. (…) Bei vielen Texten, die in diesen Tagen erschienen, hat man sich als LeserIn verwundert die Augen gerieben, weil die AutorInnen nur das zu wiederholen schienen, was sie eigentlich immer sagen. (…) Aber wäre es nicht viel angemessener, sich darüber zu wundern, was sich innerhalb weniger Tage alles geändert hat? Es hat den Anschein, als würde die schon lange heraufziehende grosse ökologisch-ökonomische Krise durch die Pandemie beschleunigt und verdichtet werden. (…) In vielerlei Hinsicht verweist die Reaktion auf die Pandemie auch auf die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Davon, dass sich in allen Städten spontan Solidaritätsnetzwerke gründen, um NachbarInnen zu versorgen, ist in den meisten Zeitungen schon die Rede gewesen. Wieder einmal zeigt sich, dass in Krisenmomenten der erste menschliche Reflex nicht der Hobbes’sche Bürgerkrieg aller gegen alle, sondern die Hilfsbereitschaft ist. (…) Die Tatsache, dass sich die Gesellschaft dem Markt verweigert und die Prioritäten – zumindest für ein paar Tage – anders setzt, ist keine Kleinigkeit. (…) In den USA wird «Helikoptergeld» verteilt – was die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in ganz anderem Licht erscheinen lässt. (…) Zumindest für einen Augenblick ist die bedürfnisorientierte, demokratische Planung der Wirtschaft, die den Kern jedes sozialistischen Projekts ausmacht, eine reale Option. (…) Das alles sind natürlich trotzdem keine guten Nachrichten, denn die Covid-19-Pandemie bringt Millionen Menschen fürchterliches Leid. (…) Nichts ist gut, und doch sollten wir erkennen, in welchem Moment wir uns befinden:  (…) Erstens, dass das Hamsterrad, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann. (…) Zweitens erleben wir parallel zur Renaissance von Grenzschliessung und Nationalismus die reale Verbindung unter uns Menschen. Ein Virus, das sich von Körper zu Körper reproduziert, hat sich innerhalb weniger Wochen durch Körper auf dem ganzen Planeten gearbeitet. Das ist unsere reale Distanz zu einer Fabrikarbeiterin in Wuhan: Jene Sequenz Ribonukleinsäure, gegen die ihr Körper noch vor drei Wochen kämpfte, hat nun uns erreicht – nur ein paar Handschläge und Umarmungen weiter. Das dritte allerdings scheint mir das Wichtigste: Schlagartig wird uns bewusst, dass es am Ende immer nur um das Leben geht und jede gesellschaftliche und ökonomische Ordnung eingebettet bleibt in ein «Netz des Lebens», wie es der marxistische Umweltökonom Jason W. Moore genannt hat. Für dieses Netz, das wir niemals völlig kontrollieren werden, tragen wir Sorge – weil es die Grundlage unseres Daseins ist. Wie wäre es, wenn wir unsere Gesellschaft auch dementsprechend organisierten?. (…) Die Pandemie ist ein Scheideweg – entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung.“ Beitrag von Raul Zelik vom 02. April 2020 aus der WOZ Nr. 14/2020 externer Link
  • Grenzenlose Solidarität. Die Pandemie stellt die neoliberale Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend in Frage. Jetzt die richtigen Lehren zu ziehen, ist für eine gemeinsame Zukunft existentiell
    „… Grenzenlose Solidarität, die ganz bewusst alle Menschen umfasst, führt schlussendlich gerade im Hinblick auf die Zeit nach der Pandemie zu einem zentralen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Thema zurück, das zu lange von der Bühne der politischen Aufmerksamkeit verschwunden ist: die soziale Frage. Denn nur eine Gesellschaft, die über eine moderate Ungleichheit verfügt, ist eine solidarische Gesellschaft. „Der Neoliberalismus betrachtet den Wettbewerb als das bestimmende Merkmal der menschlichen Beziehungen“, stellte der Guardian-Journalist George Monbiot fest. In Zeiten der Pandemie aber sollten wir von liebgewonnenen Leistätzen des Neoliberalismus Abschied nehmen und eine neue solidarische Gesellschaft weltweit aufbauen, die das Verhältnis zwischen Menschen und schlussendlich auch zwischen Nationen nicht mehr durch Konkurrenz definiert, sondern durch Solidarität. Somit wird Covid-19 zum Test, ob wir in einem dauerhaften neoliberalen Wettbewerb leben wollen, der stets nach Siegern giert und Verlierer fordert (und in Zeiten einer Pandemie zwangsläufig die Anzahl der zu beklagenden Toten erhöhen wird) oder ob sich die Menschen als lernfähig erweisen und die Forderung der Zeit verstehen: grenzenlose Soldarität…“ Artikel von Andreas von Westphalen vom 1. April 2020 bei Telepolis externer Link
  • Autonome Perspektiven auf Wirtschaft, Staat, Coronavirus. Zum Verhältnis von Staat – Corona – Wirtschaft und etwas zur autonomen Gesundheitsvorsorge
    Der Coronavirus und die von ihm ausgelöste Lungenkrankheit Covid-19 stürzen die Menschen auf der ganzen Welt in Chaos und Unglück. Noch nie dürften so viele Menschen zugleich unter Kontakt- und Ausgangssperren und -verboten gelitten haben wie derzeit – aktuell dürften es etwa 25% der Weltbevölkerung sein – Tendenz steigend. Ebenfalls dürfte es eine ganze Weile her sein, dass in den Zentren der sogenannten westlichen Welt kranke und hilfsbedürftige Menschen keinen Platz mehr im Krankenhaus bekommen können, dass ihre Operationen hinausgezögert werden und dass eine Krankheit einen beträchtlichen Teil des Krankenhauspersonals infiziert und so die Versorgungslage weiter verschlechtert. (…) Vielmehr ist das Thema hier die Frage, wieso der Staat gerade jetzt ein solches Interesse an der Gesundheit der Menschen in der Gesellschaft an den Tag legt, wo ihm ansonsten das Ableben von Menschen wenig oder gar nicht interessiert, ganz gleich ob es sich um vermeidbares Unheil wie Krankheit, Krieg, Hungertod, Selbstmord und Straßenverkehr oder das Sterben in unvermeidbaren Naturkatastrophen handelt. Dazu betrachten wir zum einen das Verhältnis vom Staat zur Gesundheit der Menschen und damit zusammenhängend auch das Verhältnis vom Staat zur Wirtschaft. Dazu sei gesagt, dass wir uns Staat, Gesellschaft und Wirtschaft hier in ihrem strukturellen Verhältnis zueinander anschauen und damit nicht die tatsächlichen jeweiligen Regierungen und Firmen, welche die Strukturen ausfüllen, ebensowenig wie die subjektiven Blickwinkel der Menschen in Machtpositionen, sofern sie nichts zur Strukturerhellung beitragen. Daran anschließend wollen wir noch einen kleinen Beitrag zur autonomen Gesundheitsvorsorge beitragen. Keinesfalls wird es dabei darum gehen, wie und wie oft sich Hände zu waschen sind oder dergleichen, allgemeine Hygieneregeln hierzu sind seit Beginn der Pandemie mehr als ausreichend auf dem Tisch. Vielmehr geht es darum, der gesundheitlichen Verstümmelung entgegenzuwirken, die derzeit durch den autoritären Vorstoß verursacht wird und eben auch darum, zu enthüllen, dass das permanente Wiederholen gesundheitlicher Hinweise keineswegs die Gesundheit fördert, sondern vielmehr Ausdruck der notwendigen Verblödung der Gesellschaft durch den Staat im Interesse seines Machterhalts ist. (…) Die Menschen, die der Staat formt, um sie an die Wirtschaft weiterzugeben, brauchen bestimmte Qualitäten. Dies sind zum einen ganz konkret fachliche Qualitäten (wie etwa Lesen, Rechnen, Schreiben können), zum anderen ganz allgemeine Qualitäten (wie Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, usw.), damit der Arbeitsprozess in dem sie arbeiten sollen, reibungslos verläuft. Gesundheit ist eine dieser Qualitäten, was bedeutet, dass die Menschen, die der Staat für die Wirtschaft vorbereitet, um sie an sie weiterzugeben, im besten Falle „gesund“ sind. Gesund zu sein heißt in der Perspektive von Staat und Wirtschaft, dass jemand die an ihn gestellten Anforderungen möglichst reibungsfrei ausführen kann, also etwa nicht zu schwach, zu ungeschickt oder eingeschränkt ist, wie auch dass diese möglichst pausenfrei ausgeführt werden kann, jemand also ohne Unterbrechung zu seiner Arbeit erscheint. Die Zeit, die jemand nicht arbeitet, soll im besten Fall ausreichen, um alle Probleme, die ein Mensch an Körper und Geist hat, zu beheben. Ein darüber hinausgehendes Interesse an der Gesundheit der Menschen in der Gesellschaft besteht unmittelbar nicht. (…) Unter dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob denn Staat und Wirtschaft derzeit überhaupt ein strukturelles Interesse daran haben, die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, beziehungsweise die Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesellschaft zu begrenzen. Covid-19 scheint das Potential zu haben, viele Menschen zu töten, ohne dass es dafür Krieg geben müsste, zudem werden vor allem alte Leute davon getroffen. Wieso aber nimmt zum einen die Wirtschaft dann derzeit Schaden und wieso unternimmt der Staat Maßnahmen, die dem Zweck dienen, die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern beziehungsweise zu verlangsamen? Antworten wir zuerst auf die Frage nach der Wirtschaft: Wenn der Tod von vielen Menschen kein genereller Schaden für die Wirtschaft ist, wieso herrscht an den Börsen weltweit dann derzeit eine solche Panikstimmung? Dies liegt daran, dass hier das strukturelle Interesse der Wirtschaft an ihrem eigenen Erhalt und das konkrete Interesse der Akteur*innen in der Wirtschaft auseinanderfallen. Denn die Produktion von Konsumgütern orientiert sich zu einem Teil am zu erwarteten Absatz (…) Gegenüber der Wirtschaft hat der Staat völlig andere Interessen an einem glimpflichen Ausgang der Corona-Krise. Das Sterben der Menschen ist ihm im weitesten Sinne völlig gleichgültig, sofern es sich um ein Sterben handelt, dass zum einen der Wirtschaft nicht allzusehr schadet und zum anderen um ein Sterben, dass stillschweigend verläuft, also ohne große Klagen aus der Gesellschaft heraus, wie etwa bei den schlimmeren Grippewellen oder dem Sterben an Tuberkulose und dergleichen, oder aber dem Verhungern von Menschen in ausgebeuteten Regionen der Welt. Sofern das Sterben gesellschaftlich akzeptiert wird, ist das verlöschende Leben dem Staat keinen Cent wert. Problem macht es bloß, wenn das Sterben mit allzuhoher gesellschaftlicher Aufmerksamkeit bedacht wird und dies ist in Bezug auf die Corona-Krise passiert. Dies bringt den Staat in ein Legitimationsproblem (…) Der Staat reagiert darauf zum einen, in dem er die Kommerzialisierung der Krankenhäuser (gute Pflege bekommt, wer dafür gut zahlt) temporär zurückbaut (der Staat zahlt für jedes Krankenbett). Zum anderen aber hat er sich einen besonderen Kniff einfallen lassen und zwar die Schuld für die Probleme mit der Corona-Krise an die Gesellschaft zu verweisen. Dies geschieht, indem ein Bild erzeugt wird, das Problem sei, dass sich Teile der Gesellschaft nicht an die im Sinne der Gesundheit veranlassten autoritären Maßnahmen halten würden. Demnach ist das Problem nicht mehr, dass Kranke nicht die nötige Behandlung erfahren können, sondern dass gesunde Menschen die Verbreitung des Virus voranbringen. (…) Was derzeit passiert, ist wesentlich mehr als das Verbreiten einer Lungenkrankheit zu verhindern, es ist die Intensivierung der Isolation und Einsamkeit zwischen den Menschen, welche schon vor der Corona-Krise der Fall war. Das Mittel zur Intensivierung, welches vom Staat gegen die Menschen eingesetzt wird, ist Angst. Angst aber ist bisweilen eine schlechte Ratgeberin und in diesem Fall führt sie dazu, dass bis weit in die linksradikale Bewegung hinein das Befolgen in ihrer Wirkung nicht wirklich fassbaren Maßnahmen bejaht wird…“ anonymer Beitrag vom 01.04.2020 bei indymedia externer Link – ein Beitrag, dessen Schlussfolgerungen wir nicht unbedingt teilen (was tendenziell für alle unsere Verlinkungen der Fall sein kann) – und darin unser Zitat zur Corona-Krise: „Was nützt einem Gesundheit, wenn man ansonsten ein Idiot ist“ – Adorno
  • Die Schwächen des Systems
    Der Bonner Philosoph Markus Gabriel sieht die derzeitige Situation in einem größeren Kontext und als Chance zum Umdenken: „Wenn wir nach dem Virus so weitermachen wie vorher, kommen viel schlimmere Krisen“ (…) Das Coronavirus ist nicht nur irgendeine Infektionskrankheit, sondern eine virologische Pandemie. Das Wort „Pan-Demie“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet: Das ganze Volk. In der Tat ist das ganze Volk, alle Menschen gleichermaßen, betroffen. Doch genau das haben wir noch nicht verstanden, wenn wir glauben, es sei sinnvoll, die Menschen jetzt in Grenzen einzusperren. Warum sollte das Virus davon beeindruckt sein, dass die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich zu ist? Warum ist Spanien eine Einheit, die man jetzt gegen andere Länder abgrenzen muss, um das Virus einzudämmen? Nun, die Antwort, die man erhalten wird, lautet: Weil die Gesundheitssysteme national sind und der Staat sich in seinen Grenzen um die Kranken kümmern muss. Das ist richtig, doch zugleich das Problem. Denn die Pandemie betrifft alle Menschen. Sie beweist, dass wir alle durch ein unsichtbares Band, unser Menschsein verbunden sind. Vor dem Virus sind alle Menschen gleich. Ja: Vor dem Virus sind alle Menschen überhaupt Menschen (…) Das Coronavirus offenbart die Systemschwächen der herrschenden Ideologie des 21. Jahrhunderts. Dazu gehört der Irrglaube, dass wir durch naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt alleine schon menschlichen und moralischen Fortschritt vorantreiben können. Dieser Irrglaube verführt uns dazu zu glauben, die naturwissenschaftlichen Experten könnten allgemeine soziale Probleme lösen. Das Coronavirus soll das jetzt vor aller Augen beweisen. Doch das wird sich als gefährlicher Irrtum herausstellen. Ja, wir müssen Virologen konsultieren. Nur sie können uns helfen, das Virus zu verstehen und einzudämmen, um Menschenleben zu retten. Doch wer hört ihnen zu, wenn sie uns sagen, dass jährlich mehr als zweihunderttausend Kinder an von Viren ausgelöstem Durchfall sterben, weil sie kein sauberes Wasser haben? Warum interessiert sich niemand für diese Kinder? Die Antwort ist leider eindeutig: Weil sie nicht in Deutschland, Spanien, Frankreich oder Italien sind. (…) Das Virus offenbart lediglich dasjenige, was längst der Fall ist: Dass wir eine völlig neue Idee einer globalen Aufklärung brauchen. Hier kann man einen Ausdruck Peter Sloterdijks verwenden und neu deuten: Wir brauchen keinen Kommunismus, sondern einen Ko-Immunismus. Dazu müssen wir uns gegen geistiges Gift impfen, das uns in Nationalkulturen, Rassen, Altersgruppen und Klassen einteilt, die gegeneinander in Konkurrenz treten. Wir schützen gerade in einem Akt bisher ungeahnter Solidarität in Europa unsere Kranken und Alten. Dafür sperren wir unsere Kinder ein, schließen unsere Bildungseinrichtungen und erzeugen einen medizinischen Ausnahmezustand. Dafür werden Milliarden von Euros investiert, um anschließend die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Doch wenn wir nach dem Virus so weitermachen wie vorher, kommen viel schlimmere Krisen: schlimmere Viren, deren Entstehen wir gar nicht verhindern können; die Fortsetzung des Wirtschaftskriegs mit den USA, in dem sich die EU gerade befindet; die Verbreitung von Rassismus und Nationalismus im Kampf gegen die Migranten, die zu uns fliehen, weil wir ihren Henkern die Waffen und die Wissenschaft für Chemiewaffen geliefert haben. Und vergessen wir sie nicht: die Klimakrise, die viel schlimmer ist, als jedes Virus, weil sie das Ergebnis der langsamen Selbstausrottung des Menschen ist. (…) Wir müssen  die Infektionsketten des globalen Kapitalismus erkennen, der unsere Natur zerstört und die Bürger der Nationalstaaten verdummt, damit wir hauptberuflich zu Touristen und Konsumenten von Waren werden, deren Herstellung auf Dauer mehr Menschen töten wird, als alle Viren zusammengenommen. Warum löst eine medizinische, virologische Erkenntnis Solidarität aus, nicht aber die philosophische Einsicht, dass der einzige Ausweg aus der suizidalen Globalisierung eine Weltordnung jenseits einer Anhäufung von gegeneinander kämpfenden Nationalstaaten ist, die von einer stupiden, quantitativen Wirtschaftslogik angetrieben werden?…“ Artikel von Markus Gabriel vom 21. März 2020 im General-Anzeiger online externer Link – Markus Gabriel, 1980 in Remagen geboren, ist Philosoph und lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.
  • Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise 
    Ein vehementer Angriff erschüttert derzeit den Globus: das Corona-Virus, das tödliche Konsequen-zen mit sich bringen kann, versetzt viele Menschen in Angst und Panik und stellt scheinbar alle sozialen Gewissheiten in Lichtgeschwindigkeit auf den Kopf. Auch die Welt der Autor_innen steht derzeit Kopf – der folgende Text versammelt einige Gedanken, Perspektiven und Forderungen, ist aber nur bedingt stringent und deckt sicher nicht alle relevanten Themenfelder ab. Neben der ambi-valenten Rolle des Staates in der Corona-Krise wollen wir auch auf die Ebene des Subjektes einge-hen und zum Ende einige politische Forderungen formulieren. (…) Mit diesem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat die Bundesregierung Kompetenzen der Länder an sich gezogen, weitreichende (digitale) Überwachungsbefugnisse installiert sowie die Gesundheitsämter zur Umsetzung verschärfter Ausgangssperren und Ortsverbote befähigt. Nur ein Beispiel von Mehreren, das zeigt, wie Grundrechte wie das Recht auf Bewegungsfreiheit und auf informationelle Selbstbestimmung derzeit ohne wirklichen Widerspruch beschnitten werden. Zugleich verfolgt die Bundesregierung eine offen nationalistische Politik, die ebenfalls loyal von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird. Anfang März hatte ausgerechnet der Exportwelt-meister Deutschland ein zweiwöchiges Verbot des Exports medizinischer Schutzausrüstung ins Ausland erlassen. Dieses Verbot wurde in der zweiten Märzhälfte durch eine EU-Verordnung gekippt, die nun wieder einen Export ermöglicht – allerdings nur innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zudem wurden in den letzten Wochen immer mehr Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands geschlossen. Offenbar ging Berlin im Alleingang vor und hat damit das Schengener Abkommen ausgehebelt, zum Ärger der offiziellen Politik Frankreichs und Italiens. Nicht einmal deren diplomatische Kritik an der Bundesregierung wird hierzulande noch zur Kenntnis genommen (…) Im Zuge der autoritären Formierung der letzten Jahre wurde auch ein weiterer Akteur der Exekutive weiter gestärkt: die Polizei. Sie mauserte sich oft zum eigenständigen politischen Player, etwa in der Hetze gegen linke Bewegungen (vgl. Connewitzer Silvesternacht). Die Polizei wird nun auch die bundesweiten Ausgangsbeschränkungen durchsetzen und es wird zu beobachten sein, wie sie hier agiert. Erste Erfahrungen aus Frankreich zeigen eine hohe Aggressivität der flics und eine Fokussierung auf die Stadtteile der sozial Benachteiligten. In Deutschland scheint bisher allein die starke Polizei-Präsenz auf der Straße schon einschüchternd auf die Untertanen zu wirken. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Personengruppen wie PoC, Wohnungslose und Drogenkonsument_innen, die vorher schon im Fokus der Repression standen, nun noch stärker polizeilich drangsaliert werden. Parallel zu den repressiven Formaten werden von der Politik ungewöhnlich umfangreiche Finanz-Programme aufgelegt, die sich an Banken und Unternehmen richten, aber auch einige Härten der Corona-Krise für kleine Selbstständige, Mieter_innen etc. auffangen sollen. Plötzlich fällt etwa die Vermögensprüfung auf Grundsicherung weitgehend weg, die lange ein fester Pfeiler des Verar-mungsprogramms HartzIV war. Jedoch wurden diese Erleichterungen wohl vor allem installiert, um die kommende Antragsflut überhaupt durch die Jobcenter bewältigen zu können, sowie um möglichen sozial unerwünschten Folgen der Verarmung breiter Schichten (Anstieg von Suiziden und selbstschädigendem Verhalten, erhöhte Kriminalität, Verrohung etc.) entgegen zu wirken. (…) Der Staat zeigt sich so betrachtet zugleich als starker und als ohnmächtiger Staat, der die Unversehrtheit der Menschen nicht garantieren kann, da er unter dem Primat des Kapitals steht. Selbst jetzt, wo in Deutschland beinahe das komplette soziale Leben still gelegt wird – sogar Friedhöfe wurden geschlossen – wird die Arbeitspflicht nicht ausgesetzt. Die deutsche Ontologie der Arbeit macht den Gedanken, dass nun einmal die Produktion komplett stillstehen muss, offenbar undenk-bar. Das führt zu absurden Szenen, wenn etwa die Polizei Menschen, die allein im Park sitzen, verwarnt, und wenige Meter weiter aber Bauarbeiter_innen in engen Gruppen zusammenstehen oder ein Meeting in geschlossenen Büroräumen stattfindet. Die Ausgangsbeschränkungen gelten also „nicht der wertschöpfenden Tätigkeit, sondern der Lust. Dabei stehen die einzelnen Spaziergänger … wohl kaum im Verhältnis zu den Virenherden Büro und Produktionsstraße.“ Von der Linken sollte daher „auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geblickt werden und die Kapitalisten zur Rechenschaft gezogen werden, da hier Arbeiter entweder Gesundheit oder Lohn riskieren.“ Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, reagieren die Gewerkschaften jedoch vorwiegend handzahm. Ein von weiten Kreisen geteilter Aufruf zum Generalstreik wie in Italien ist hierzulande kaum vorstellbar. (…) Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft eben noch lange kein valides Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal auf Pause zu stellen. Wie in den schon lange währenden Diskursen um „Priorisierung“ im Gesundheitswesen und die Frage nach der Bezahlbarkeit künstlicher Hüftgelenke für alte Menschen zeigt sich hier auch ein sozialdarwinistisches Element: die für das Kapital sowieso nicht oder nur marginal verwertbaren „Risikogruppen“ sollen dem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. (…) Im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, scheint die Linke konfus und indifferent angesichts der eklatanten sozialdarwinistischen Menschenverachtung des Kapitals. (…) In der Krise spitzen sich auch jenseits des engen Terrains des Gesundheitswesens die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Die Spaltung in Deutsche und Migrant_innen verschärft sich etwa, wenn als asiatisch gelesene Menschen auf der Straße angegriffen werden – aber auch die strukturelle Benachteiligung, wenn etwa lebensnotwendige offizielle Informationen zu Corona vorwiegend in deutscher Sprache verfügbar sind. Die Spaltung zwischen Staatsbürger_innen und Geflüchteten verschärft sich zudem insbesondere durch deren rechtliche Schlechterstellung und Lager-Unterbringung, welche die Ansteckungsgefahr wie auch die Dimensionen der Quarantäne exponentiell verschärft. Die Spaltung von Besitzenden und Besitzlosen verschärft sich, wenn sich etwa Vermögende auf Landsitze zurückziehen und Privatkliniken in Anspruch nehmen können, während arme Menschen auf beengtem (urbanen) Raum miteinander leben müssen. Oder gar als Obdachlose kaum noch Zugang zu Essen, Geld, Finanzen und Übernachtungsmöglichkeiten finden. Und wenn auch einige – bei Weitem nicht alle – der als „systemrelevant“ deklarierten Berufe wie die Pflege oder Supermarktpersonal weiblich codiert sind, verschärft sich in der Krise auch der patriarchale Charakter der Gesellschaft. (…) Die Regression auf infantile Verhaltensmuster aus der Kindheit, die derzeit haufenweise stattfindet und tatsächlich Trost und Geborgenheit inmitten des Chaos stiftet, findet auf nationaler Ebene ihre Entsprechung im Putzfimmel und dem Klopapier-Hamstern: die Deutschen regredieren in der Krise kollektiv auf den analen Charakter, auf die ursprüngliche Gemeinschaftserfahrung des deutschen „Volkes“ von Sicherheit, Sauberkeit, Ordnung und Arbeit/Produktion. Dem entspricht das Ressentiment gegen die lustorientierten und ausschweifenden (angeblichen) Corona-Parties, deren Teilnehmende sich nicht Merkels Ruf nach „Verzicht und Opfer“ (22.03.2020) fügen wollen. (…) Wie könnte ein linksradikales Programm aussehen? – Generalstreik in allen Sektoren, die nicht von akuter Relevanz sind! Da wo weiterhin gearbeitet werden muss, um die gesellschaftliche Reproduktion und die Überwindung der Pandemie zu ermöglichen, müssen die Bedingungen radikal und sofort verbessert werden (…) Sofortige radikale Aufstockung der (intensiv-)medizinischen Kapazitäten, um die drohende Überlastung des Systems und den Einsatz der „Triage“ abzuwenden! (…) Miet-Generalstreik! (…) Bedingungsloses Grundeinkommen von 3.000 Euro für Alle! (…) Besetzung allen Leerstand, Hotels, Büroräume! (…) Antinationale Perspektiven verbreiten! (…) (Psychische) Gesundheit als Handlungsfeld ernst nehmen und kostenlose Gesundheitsversorgung für Alle! (…) Emanzipatorische Trauerarbeit entwickeln! (…) Sachzwänge überwinden und am Lustprinzip festhalten!…“ Text vom 27.3.2020 von und bei der gruppe 8. mai externer Link
  • Corona-Pandemie – eine historische Wende – Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen, Produktion kurzzeitig und geplant runterfahren!
    „… Eine historische Zeitenwende unabsehbaren Ausmaßes hat eingesetzt. (…) Wir erfahren den moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus, der Regierungen  und der EU. (…) Die Profite gehen vor. Das Resultat entfaltet sich nun. Sie und die ganzen Gesellschaften, wir alle, sind fortan Getriebene der Eigendynamik, deren Ausgang nicht absehbar ist. (…) Die Regierungen und die EU sind nicht in der Lage, die für die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie können das nicht, weil sie sich dem Primat der Kapitalakkumulation und der Wettbewerbsfähigkeit unterwerfen. Anstatt die erforderlichen Einschnitte in alle Sektoren der Wirtschaft vorzunehmen, die für die gesellschaftliche Versorgung nicht notwendig sind, ziehen sie es vor, eine unbestimmte Anzahl  Menschen sterben zu lassen. Auf der Grundlage dieser Diagnose stellen wir in diesem Beitrag zwei Thesen zur Diskussion. Erstens argumentieren wir, dass die Coronakrise ein historisches Ausmaß globaler Reichweite annehmen wird. Die Gewissheiten, die unsere Gesellschaften seit 1945 kennen, werden der Vergangenheit angehören. Die anrollende Wirtschaftskrise wird brutale Verteilungskämpfe mit sich bringen und große geopolitische Verschiebungen begünstigen. Die Gesundheitskrise und die Wirtschaftskrise entwickeln sich im Kontext der sich rasch verschärfenden globalen Klimakrise. Das Zusammentreffen dieser Krisenprozesse wird zu überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen und  zugleich solidarische Verhaltensweisen hervorrufen und neue Widerstandspotentiale ermöglichen. Zweitens trifft diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen. (…) Darum gilt es unter den derzeit erschwerten Kommunikationsbedingungen rasch eine Diskussion über eine umfassende ökosozialistische Perspektive aufzunehmen und konkrete organisatorische Projekte vorzubereiten. Die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung muss jetzt oberste gesellschaftliche Priorität sein. Zugleich gilt es bereits jetzt über die akute Gesundheitskrise hinauszudenken und sich für  die folgenden ökonomischen wie politischen Verwerfungen vorzubereiten. Eine solidarische Praxis der  Selbstorganisation eröffnet die Möglichkeit Prozesse und starke Bewegungen zur gesellschaftlichen  Aneignung wesentlicher Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Infrastruktur zu initiieren (…) Die Corona Krise ist eine Warnung: das kapitalistische System wird weitere Krisen hervorrufen. Die  Weltwirtschaft rutscht rasant in eine tiefe Krise. Die Umverteilungskonflikte und geopolitischen Rivalitäten werden sich zuspitzen. Rosa Luxemburg warnte 1916 während des Ersten Weltkriegs eindringlich vor der Barbarei, wenn es nicht gelänge einen sozialistischen Umbruch herbeizuführen. Heute  stehen wir weltweit abermals vor dem Abgleiten in die Barbarei, wenn es nicht gelingt eine ökosozialistische Alternative zu verwirklichen. (…) Mit dem vorliegenden Text wollen wir mit Menschen in sozialen Bewegungen, Gewerkschafter*innen,  mit Beschäftigten im Gesundheitswesen und allen, die nach Alternativen jenseits des Kapitalismus suchen, in Diskussion treten…“ Aktualisierter 35-seitiger Beitrag vom 24. März 2020 von Verena Kreilinger und Christian Zeller von ‚Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative‘ externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=171781
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