Den Betrieb übernehmen – Von der Krisenbearbeitung zu gesellschaftlicher Transformation
Den Betrieb übernehmen
Von der Krisenbearbeitung zu gesellschaftlicher Transformation – Gisela Notz*
Anlässlich ihres neu erschienen Buchs »Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt« haben wir Gisela Notz gebeten, uns ihre Überlegungen und Einschätzungen zu Betriebsübernahmen heute in Kurzform zu schildern. Unerwartete Aktualität hat dies durch den Versuch der Schlecker-Frauen bekommen, den Betrieb in Genossenschaftsform fortzusetzen. (siehe Artikel von Christina Frank)
Bei Betriebsbesetzungen, Streiks und Versuchen, Betriebe in Selbstverwaltung zu übernehmen, handelt es sich meist um – noch – vereinzelte Reaktionen der ArbeitnehmerInnen auf drohende Betriebsschließungen. Sie sind mehr oder minder militante Aktionen von Lohnabhängigen, denen die Entlassung droht. Zunächst denkt man dabei an Betriebsübernahmen, durch die versucht wurde, Betriebe, die von der Schließung bedroht sind, in Selbstverwaltung zu übernehmen, und zwar durch die ursprünglichen Belegschaften selbst. Bisher gibt es in Deutschland nur einzelne Erfahrungen mit dieser Form der Arbeitsplatzsicherung. »Den Betrieb übernehmen« kann aber auch heißen, dass die Belegschaft selbst einen Betrieb mit selbstverwalteten Strukturen gründet. Im Folgenden werde ich einige Beispiele aufzeigen.
Die Glashütte Süßmuth
Prominentes Beispiel für eine Betriebsübernahme, die heute schon Geschichte ist, ist die Glashütte Süßmuth in Immenhausen, einer beschaulichen Kleinstadt nördlich von Kassel, die bis 1970 dem Unternehmer und Künstler Richard Süßmuth gehörte, der sie von seinem Vater 1946 übernommen hatte. Die Belegschaft übernahm die Hütte, nachdem sie, nach anfänglichem Aufwärtstrend, durch die schlechte Geschäftsführung und unternehmerisches Unvermögen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Andere Arbeitsplätze hätten die Beschäftigten in der strukturschwachen Region kaum gefunden. Der Arbeitgeberverband boykottierte das Unternehmen, auch die Gewerkschaften teilten keinesfalls vorbehaltlos die Begeisterung des zuständigen »beherzten« Sekretärs, doch die Belegschaft soll gejubelt haben: »Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen haben wir in diesem Betrieb beseitigt.« Schließlich waren die 260 Beschäftigten »Arbeitereigentümer« und fortan ihre eigenen Arbeitgeber. Träger der Selbstverwaltung wurde der »Verein der Beschäftigten der Glashütte Süßmuth«, dessen Ziel und Zweck »Die Verwirklichung der Selbstverwaltung in der Glashütte Süßmuth durch die dort beschäftigten Arbeiter und Angestellten« war. Fast 20 Jahre lang hat sich das Modell mit kleinen Modifizierungen gehalten, dann wurde die »privatwirtschaftliche« Note wieder hergestellt. Zweifelsohne war die politische Situation 1970 eine andere als 1989. Angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die Notwendigkeit, Unternehmen nach den Grundsätzen kapitalistischer Wirtschaft auszurichten, kaum mehr in Frage gestellt wird, wie das 1970 zumindest in Ansätzen der Fall war, konnte nicht mit breitem Widerstand der Beschäftigten gegen die Re-Kapitalisierung gerechnet werden. Die Diffamierungen im Blick auf die »Genossenschaftshütte«, die den Träumen »bolschewistischer Westland reiter« (»Der Selbständige«, April 1970) entsprungen sei, waren von Anfang an zahlreich. Hinzu kamen ökonomische Probleme, die die Banken ausnutzten, indem sie dem unerfahrenen Kunden horrende Zinsen abknöpften. Allerdings konnte auch eine Re-Kapitalisierung die Glashütte und die Arbeitsplätze nicht retten, 1996 wurde die Hütte stillgelegt.
Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod
Der Beweis, dass Betriebsübernahmen nicht funktionieren können, wurde damit nicht erbracht. Immer wieder gab es Versuche, so z.B. 1983 bei den Voith-Werken in Bremen. 50 ehemalige Beschäftigte konnten die drohende Schließung verhindern und gründeten die AN Maschinenbau- und Umweltschutzanlagen GmbH als selbstverwalteten Betrieb. AN ist ein Beispiel dafür, dass Betriebsübernahmen mit einer Konversion in gesellschaftlich nützliche Produkte einhergehen können. AN stand jetzt für »Arbeitnehmer« im Firmennamen und stellte ökologische Produkte (Blockheizkraftwerke, Anlagen zur anaerobischen Vergärung und Windkraftanlagen) her. Das Vorhaben konnte gelingen, weil es durch den Betriebsratsvorsitzenden, den Innovationskreis der Hamburger IG Metall und den SPD-geführten Bremer Senat unterstützt wurde. Nach einigen Turbulenzen wurde der Betrieb 1997 zur AN Windenergie. Bis zur 2005 erfolgten Übernahme durch die Siemens Power Generation war AN Windenergie einer der deutschen Marktführer im Windenergiesektor. Die Zahl der Beschäftigten war zwischen 1997 und 2005 von 60 auf 270 angewachsen. Beschäftigungspolitisch war die Betriebsübernahme ein Erfolg. Allerdings gibt es die beiden anderen Produktlinien nicht mehr. Und das Selbstverwaltungsmodell war seit 1989 schrittweise zurückgenommen worden. Die ursprünglichen Ziele der Selbstverwaltung wie selbstbestimmtes Arbeiten, Einheitslohn, Abkehr vom Profitprinzip und die Herstellung von sozial nützlichen und ökologisch vertretbaren Produkten wurden im Laufe der Zeit mehr oder weniger über Bord geworfen. [1]
Das wichtigste Beispiel für Produktkonversion kann unter dem Stichwort »Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod« zusammengefasst werden (Mike Cooley 1988). Der 1976 durch Mike Cooley vorgestellte »Lucas-Plan« sah vor, statt Waffen sozial nützliche Güter herzustellen. Das waren z.B. von den Beschäftigten selbst entwickelte, gut ausgetüftelte Konzepte für die Herstellung von Solarheizsystemen, künstlichen Nieren oder einem Straßen-Schienen-Bus. So sollten nicht nur die Arbeitsplätze erhalten werden, sondern die Produktion auf gesellschaftlich nützliche Produkte umgestellt werden. Die Vorschläge des Alternativplanes wurden von der Konzernleitung nicht angenommen. 1981 wurde Mike Cooley entlassen. Die Botschaft für die Ablehnung des Planes, der nicht nur durch die Friedensbewegung, sondern auch durch die Labour-Partei – weniger durch die Gewerkschaften – unterstützt wurde, war eindeutig: Das Kommando über das, was im Konzern produziert wird, geben wir, die Konzernleitung. Die Gewerkschaften und mit ihnen die Labour-Führung ließen das Projekt fallen. Die Spitze der Technikergewerkschaft TASS stand dem basisdemokratischen Ansatz der Lucas-ArbeiterInnen höchst skeptisch gegenüber. Deren Initiative entsprach ihren Vorstellungen vom »demokratischen Zentralismus« nicht. Auch mit dem Ansatz einer sinnvollen, nicht zerstörerischen Arbeit, die den Menschen dient, konnten die Trade Unions wenig anfangen.
Das revolutionäre Fahrrad
In jüngster Zeit war es Bike Systems in Nordhausen – eine Fahrradfabrik, die 1989 den Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft nicht geschafft hatte, im Oktober 2007 von der Belegschaft besetzt und anschließend in Selbstverwaltung übernommen wurde –, dem großes Interesse von Öffentlichkeit und Medien entgegengebracht wurde. (Siehe express, Nr. 08-09/2007; Nr. 05/2008) Die ArbeiterInnen hatten in dem bereits geschlossenen Betrieb in Eigenregie und ohne Chef die Produktion von Fahrrädern wieder aufgenommen und die bekannt gewordenen knallroten »Strike Bikes« mit der schwarzen Katze als Emblem produziert. Sie bekamen Aufträge und Solidaritätsbekundungen aus aller Welt. Die Freie Arbeiterinnen und Arbeiterunion (FAU), andere selbstverwaltete Betriebe und Menschen aus sozialen Bewegungen unterstützten sie von Anfang an. Nach dem Bericht eines Kreuzberger Kollegen, wollte die zuständige IG Metall in Nordhausen von den Aktionen nichts wissen. Die IGM soll die Belegschaft zwei Monate hingehalten und versucht haben, sie zum Aufgeben überreden. Zur Eröffnung erschienen neben PressevertreterInnen VertreterInnen der sowie »weitere Gewerkschaften aus anderen Ländern«. Erst als sicher war, dass die Kampagne Erfolg haben würde, haben sich PolitikerInnen mit den roten Fahrrädern fotografieren lassen, und die IGM Leipzig lud zu einer Pressekonferenz ein, bei der allerdings die FAU, die die Werbung für Strike Bike und den Verkauf der Räder unterstützt hatte, ausgeschlossen worden war. Beinahe 2000 Räder wurden in alle Welt verkauft. Doch der Plan, eine Genossenschaft mit Einlagen der Mitarbeiter zu gründen, scheiterte schließlich am Geld. Die Thüringer Landesregierung zeigte kein Interesse, sie sah keine Möglichkeit, auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Im Oktober 2007 wurde die Streik-Bike-Produktion beendet, viele Beschäftigte verließen die Firma. Einige der verbliebenen ArbeiterInnen gründeten die Strike Bike GmbH und produzierten auf dem verlassenen Gelände weiter. Doch 2011 mussten die wenigen letzten Gesellschafter Insolvenz anmelden.
»Befreite Inseln im Kapitalismus?«
Nach jüngsten Meldungen wurde der Textilversand Hessnatur, der ökologisch und ›fair‹ hergestellte Produkte vertreibt, Ende Juni 2012 an den Private Equity Fonds Capvis verkauft und nicht, wie die MitarbeiterInnen, viele StammkundInnen und UnterstützerInnen erhofft hatten, an die Genossenschaft hnGeno. (Siehe express, Nr. 06/2011)
Insbesondere nach solchen Niederlagen stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, »befreite Inseln im Kapitalismus« zu schaffen. Doch nicht nur im Hinblick auf die gravierenden ökonomischen und sozialen Probleme, die die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise mit sich bringt, ist ein Umdenken notwendig. Betriebsübernahmen können eine reale Chance darstellen, nicht nur das Interesse der Arbeitenden an ihren Arbeitsplätzen zu befriedigen, sondern darüber hinaus Möglichkeiten für sinnvolle Arbeit unter weniger entfremdeten Arbeitsbedingungen für die Herstellung von sozial nützlichen Produkten zu schaffen. Wesentliche Erfolge bei den vorgestellten und vielen weiteren Betriebsübernahme-Projekten dürften eher in den Politisierungseffekten liegen. Meist handelte es sich um betriebspolitisch kaum aktive Belegschaften, die sich innerhalb kürzester Zeit solidarisierten und mobilisierten. Sie machten die Erfahrung, erfolgreich selbstständig agieren und arbeiten zu können, ohne Chefs und Hierarchien. Ihnen kann man nicht mehr erklären, dass das unmöglich ist. Eine Voraussetzung für das Gelingen solcher Vorhaben ist vor allem die Unterstützung der zuständigen Gewerkschaften, die jedoch oft schwer zu bekommen ist, und das Herstellen einer breiten Öffentlichkeit. Wichtig wären Versuche von und Erfahrungen mit Betriebsübernahmen in Betrieben, die nicht in den roten Zahlen stehen. Doch gerade das ist oft nicht der Fall.
Die Glorifizierung von Produktivgenossenschaften als Mittel gegen Erwerbslosigkeit ist allerdings kritisch zu sehen. Der Ab- und Umbau des Sozialstaats kann nicht alleine durch Selbstverwaltung und Eigenverantwortung kompensiert werden. Wo die Arbeitsmarktpolitik versagt hat und auch Arbeitsförderbetriebe, soziale Betriebe und vergleichbare Modelle es nicht geschafft haben, Erwerbslose in großer Zahl zu integrieren, kann auch die alternative Wirtschaft nicht als Allheilmittel wirken. Das heißt nicht, dass die Förderung von kollektiven Zusammenschlüssen im Rahmen einer aktiven Regional- und Strukturpolitik sinnvoller sein kann als die Förderung von Ich-AGs und anderen Formen individualisierter Produktion und Reproduktion, mit denen viele »Existenzgründer« nicht nur überfordert sind, sondern durch die sie auch in höchst prekäre Arbeitsformen geraten.
Ein richtiges Leben im Falschen?
Auch wenn Adornos Frage nach der Möglichkeit eines ›richtigen Leben im Falschen‹, die er in den zwischen 1944 und 1947 im kalifornischen Exil entstandenen »Minima Moralia« stellte, unterschiedlich beantwortet wird, kann es nicht richtiger sein, den Versuch, Betriebe zu übernehmen, zu besetzen oder selbst zu gründen, gar nicht erst anzugehen. Das sieht auch Adorno so, für den es keinesfalls gleichgültig war, wie man sein Leben gestaltet. Er plädiert nicht für Resignation und Nichtstun, solange nicht ›das ganze Leben‹ verändert ist. Wenn es schon kein richtiges Leben im Falschen geben könne, so doch immerhin ein »stellvertretendes«, eine Gegenvergesellschaftung. Es gelte, so zu leben, »wie man dem eigenen Erfahrungsbereich nach sich vorstellen könnte, dass das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen Menschen beschaffen sein müsste«. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass sich die Spielräume für derartiges Agieren unter sich verschärfendem Krisendruck deutlich verringern. Daher gilt nach Adorno weiterhin: »Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft«. Das schließt nicht aus, Fenster in eine andere Welt innerhalb des kapitalistischen Systems im Hier und Jetzt zu öffnen und »Anschauungen in neue Kreise zu tragen, wo sie sich fruchtbar auswirken können« (Rudolf Rocker).
Dass das Experimentieren mit real utopischen Inseln im Hier und Jetzt möglich ist, beweisen Projekte der alternativen Ökonomie, wie sie seit Ende der 1960er Jahre reihenweise gegründet worden sind. Sie entstanden im engen Zusammenhang mit der StudentInnen-, Ökologie- und Frauenbewegung als Gemeinschaftsprojekte, die den politischen Anspruch verfolgten, demokratische, möglichst selbstbestimmte Betriebsorganisationen zu schaffen sowie humane Arbeitsprozesse und eine ökologisch verträgliche und gesellschaftlich nützliche Produktion zu ermöglichen. Lebens- und Arbeitsprojekte, selbstverwaltete Betriebe, Genossenschaften und Kommunen gehörten dazu. Zum Teil bestehen sie heute noch, und immer wieder gibt es erfolgreiche Neugründungen.
Bestimmen, woher der Wind weht
Ein Beispiel für Projekte der 1990er Jahre ist die FrauenEnergieGemeinschaft »Windfang eG«. 20 Ingenieurinnen hatten die Nase voll, dass Männer meist die Augen verdrehten, wenn sie »Frauen und Technik« zusammenbringen wollten, und sie beschlossen 1992, den Spieß umzudrehen: »Während Männer oft viel Wind um nichts machen, wollten sie Wind machen, um einen Beitrag zu einer Energiewende zu leisten.« (Bollwahn, B. 2008) Eine Genossinnenschaft schien ihnen die demokratischste Unternehmensform: Hierarchien, wie sie in kapitalistisch organisierten Unternehmen üblich sind, lehnten sie ab, und Aktienjunkies wollten sie ebenfalls nicht sein. Sie wollten bestimmen, woher der Wind weht. In der Zwischenzeit bauen sie auch Solaranlagen, zum Beispiel die Photovoltaik-Anlage auf dem Dach des Frauenmuseums in Bonn.
Es gibt noch viele weitere Beispiele (nicht nur) aus dem Ingenieursbereich.
Angesichts der aktuellen Debatten um den (scheinbar) verloren gegangenen Gemeinschaftssinn müssten Konzepte, die auf Kooperation und Überwindung von Konkurrenz setzen, Hochkonjunktur haben. Sie öffnen Fenster in eine Gesellschaft, in der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Karl Marx) – auch wenn heute utopisches Denken nicht gerade hoch im Kurs steht und Visionen unter dem Verdikt konkreter Machbarkeit stehen.
* Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Redakteurin der Zeitschrift LunaPark21, sie lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt-, Familien-, Frauen- und Sozialpolitik, Alternative Ökonomie und historische Frauenforschung. Letzte Buchveröffentlichungen: »Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt«, Stuttgart: Schmetterling 2011; »Feminismus«, Köln: PapyRossa 2011 (s. auch »Vermischte« in dieser Ausgabe)
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/12, express im Netz unter: www.express-afp.info , archiv.labournet.de/express
1) Herbert Klemisch / Kerstin Sach / Christoph Ehrsam: »Betriebsübernahme durch Belegschaften«, Düsseldorf 2010, S. 17 ff.