Renten: Das Problem ist nicht die Demografie – die gängigen Lügen – und wer nicht betroffen ist
„Wären Löhne in den letzten Jahrzehnten wie die Produktivität gestiegen, gäbe es die aktuelle Debatte nicht, meint unser Autor. Die gängigen Lügen – und wer nicht betroffen ist. Das herrschende Renten-Narrativ lautet bekanntlich: „Die Renten“ sind gefährdet, weil immer mehr Rentnerinnen und Rentner von immer weniger Beschäftigten finanziert werden müssen. Und mit den Babyboomern, die in den nächsten Jahren in die Rente gehen, werde es noch dramatischer. Deshalb müsse das Arbeitsleben verlängert und es müsse noch mehr privat etwa mit Aktienanlagen vorgesorgt werden. Schauen wir uns den Lügenkomplex rund um die Demografie genauer an…“ Beitrag von Werner Rügemer vom 27. Oktober 2023 in Telepolis (Teil 1) – siehe mehr daraus, auch aus dem Teil 2 und mehr dazu:
- Das Renten-Wunder! Der Demografie-Kollaps bleibt aus! Ist jetzt doch alles gut bei der Rentenversicherung?
„… Den Fettdruck für die müden Augen findet man im Original-Artikel, den Dirk Hoeren verfasst hat. »Tatsächlich liegt der Beitrag seit sieben Jahren schon bei 18,6 Prozent – und soll das bis einschließlich 2027 so bleiben. Die Chefin der Deutschen Rentenversicherung, Gundula Roßbach, zu BILD: „Es ist gelungen, den Beitragssatz entgegen den Prognosen über einen längeren Zeitraum stabil zu halten.“« Und nicht nur die zuständige Versicherungsanstalt streut die gute Nachricht unter das Volk. »Auch der Sozialbeirat der Bundesregierung stellt in seinem jüngsten Gutachten fest, dass die Entwicklung der Rentenfinanzen auch längerfristig „günstiger als in den Vorjahren angenommen“ ausfällt.« Und es ist nicht nur der Beitragssatz, der sich besser darstellt als erwartet – auch die Rentner und Rentnerinnen hat es viel besser getroffen (…) Aber die Demografie? Ist nicht über viele Jahre im Brustton der unerschütterlichen Überzeugung vorhergesagt worden, dass die vor unseren Augen ablaufende demografische Entwicklung (Immer mehr und dann auch noch immer länger lebende Alte und immer weniger werdende Junge!) dazu führen muss, dass wir die Renten nicht mehr werden finanzieren können? Oder wenn man nichts ändert, dass die ausgedünnten Jahrgänge der Jüngeren unter dem Joch sie überfordernder Zwangsabgaben für die vielen Alten werden darben müssen? Und dann das: »Der von vielen Experten vorhergesagte Alters-Kollaps fällt aus. Das Statistische Bundesamt hat in seiner neuesten Bevölkerungsvorausberechnung bisherige Annahmen korrigiert. Zwar soll der Anteil der Älteren an der Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten steigen, aber längst nicht so dramatisch wie bisher gedacht.« Und die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung wird dann abrundend mit diesen Worten zitiert: „In den nächsten Jahren wird die demografische Belastung deutlich weniger zunehmen als bisher erwartet.“ (…)
Die empirische Basis des angeblichen Renten-Wunders ist zum einen der Rentenversicherungsbericht 2023 der Bundesregierung sowie die Stellungnahme zu diesem Bericht im Jahresgutachten 2023 des Sozialbeirats. (…)
das sollte einen doppelt zur Vorsicht mahnen: Zum einen natürlich gegen die seit langem bekannten und bewusst vorangetriebenen Instrumentalisierungen „der“ demografischen Entwicklung, über die man ganz andere Ziele verfolgt (wie Kürzungen bei Sozialleistungen oder eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters), wozu man dann wahrhaftige Schreckensgemälde an die Wand geworfen hat und wirft, um darüber eine Legitimationsgrundlage zu beschaffen, auf der man dann gegen eine umlagefinanzierte Rentenversicherung polemisieren und auch agieren kann…“ Beitrag vom 6. Dezember 2023 von und bei Stefan Sell - Renten: Das Problem ist nicht die Demografie
Weiter aus dem Beitrag von Werner Rügemer vom 27. Oktober 2023 in Telepolis (Teil 1): „… Erste Lüge: Es gibt gar kein allgemeines „Rentenproblem“
Es gibt wichtige Berufsgruppen, die haben überhaupt kein Rentenproblem: Im Gegenteil, ihre Renten sind hoch, sie sind gesichert, und sie steigen ständig. Und das ist ganz unabhängig davon, wie viele Rentner und wie viele Beschäftigte es in diesen Berufen gibt: Beamte, Abgeordnete, Ressortleiter öffentlich-rechtlicher Medien. (…) Und das nochmal größere Renten-Unrecht steckt in einer weiteren Berufsgruppe. Es geht um die Renten der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder in privaten und auch staatlichen und Landes- und Kommunal-Unternehmen. Das sind übrigens auch abhängig Beschäftigte, Angestellte: Ihre Einkommen, Boni, Vorzugsaktien, private Zusatzleistungen und die Pensionszusagen sind in den letzten Jahren schneller als die Einkommen ihrer abhängig Beschäftigten gestiegen – übrigens auch deshalb, weil sie die Einkommen der unteren Ränge der abhängig Beschäftigten und damit auch deren Renten kräftig gesenkt haben. (…) Diesen Beratern für die Privatisierungen, auch für die private Altersvorsorge, für die Sozialkürzungen, für die Deindustrialisierung im Rahmen der jetzigen Kriegshaushalte geht es so gut wie noch nie. Sie können dann frühzeitig mit hohen Renten das verarmte Deutschland von ihren bequemen Altersruhesitzen aus der Ferne begutachten – wenn wir das zulassen.
Durchschnittliche „gesetzliche“ Rente: Armutsrente
Die durchschnittliche Rente der unteren Ränge der gesetzlichen Rente beträgt 1.152 Euro. (Stand 2022). Damit liegt diese Rente genau an der Armutsgrenze, die gegenwärtig in Deutschland 1.148 beträgt, während die durchschnittliche Beamtenrente dreimal so hoch ist, 3.170 Euro pro Monat! Die Armutsrente bleibt auch so, wenn wir das nach Männern und Frauen und nach West- und Ostdeutschland aufschlüsseln: Die durchschnittliche Rente in Westdeutschland beträgt bei Männern 1.218 Euro, bei Frauen 809 Euro. Ostdeutschland: für Männer 1.143 Euro, für Frauen 1.072 Euro. Also alles unter der Armutsgrenze.
Höchstrente für Beamte fünfmal höher
Natürlich haben einige Millionen dieser Rentner eine höhere Rente. Vier Millionen Männer und zwei Millionen Frauen bekommen zwischen 1.200 und 1.500 Euro, also von knapp unter der Armutsgrenze und etwas darüber. Die höchste gesetzliche Rente bei 2.400 Euro wird von 1,2 Prozent der Männer und 0,1 Prozent der Frauen erreicht. Aber diese wenigen gesetzlichen Höchstrenten liegen immer noch weit unter der durchschnittlichen Beamten-Rente. Denn die ist dreimal so hoch. Und während die Höchstrente der Arbeitnehmer bei 2.400 Euro liegt, liegt die Höchstrente der Beamten knapp fünfmal so hoch: bei 11.500 Euro pro Monat. (…) Wir können also den ersten Lügenkomplex so zusammenfassen: Es gibt überhaupt kein allgemeines Rentenproblem und kein Demografie-Problem. Die etwa vier Millionen staatlichen wie privaten Besser- und Bestverdiener haben überhaupt kein Rentenproblem. Diese ebenfalls gesetzlichen Renten sind hoch, sie werden mit der bisherigen und jetzigen Regierungs- und Konzernpolitik noch höher, auch völlig unabhängig von der Zahl derer, die in diesen Berufsgruppen noch arbeiten. Und diese Besser- und Bestverdiener erhalten eine umso höhere Rente, je mehr sie dazu beitragen, die Renten der Mehrheitsbevölkerung zu senken.
Zweite Lüge: Auch die Best-Renten sind gesetzliche Renten
Das Rentenproblem existiert also nur für die unteren Ränge der abhängig Beschäftigten. Also für diejenigen mit der sogenannten gesetzlichen Rente. Dieser Begriff der „gesetzlichen Rente“ ist irreführend: Denn wie wir gesehen haben, bekommen auch die Beamten, Berufssoldaten, Abgeordneten, politischen Ruhestandsbeamten, Regierungsmitglieder und auch die Konzernvorstände eine gesetzlich geregelte Rente. Die ist aber um Klassen besser. Im Umkehrschluss heißt das: Der Gesetzgeber kann auch für die unteren Ränge der abhängig Beschäftigten gesetzlich für bessere Renten sorgen, das sogenannte Rentenproblem lösen. (…)
Dritte Lüge: Es gibt nicht weniger, sondern immer mehr Arbeitnehmer
Von der gezielten begrifflichen Verwirrung abgesehen: Das Problem hängt überhaupt nicht daran, dass es immer weniger abhängig Beschäftigte der unteren Ränge gibt, die aus ihrem Arbeitseinkommen in den Rententopf einzahlen. Im Gegenteil: Die Zahl der abhängig Beschäftigten der unteren Ränge ist in den letzten drei Jahrzehnten ständig gewachsen…“ - Renten: Wo Niedriglöhne und Gender-Pay-Gap ausgeblendet werden
„Wäre die Demografie das Problem, sollten Kinder kein Armutsrisiko sein. Das sollten sie auch sonst nicht. Unser Autor plädiert für Kitas statt Kriegshaushalte.
Vierter Lügenkomplex: Rentenarmut ist nicht genderneutral
Die Behauptung, vor allem die Demografie sei der Grund für das Rentenproblem, ist auch in einer weiteren Hinsicht falsch: Frauen sind von der Arbeitsarmut und der nachfolgenden Rentenarmut ungleich härter betroffen als Männer. Wer niedrige Geburtenraten für das Problem verantwortlich macht, sollte ein Interesse daran haben, dass Kinder für Frauen nicht zum Armutsrisiko werden. Genau das ist aber der Fall. (…)
12,9 Prozent der Frauen haben eine Rente unter 300 Euro, 21,8 Prozent zwischen 300 und 600 Euro, 23,7 Prozent zwischen 600 und 900 Euro, 23,5 Prozent zwischen 900 und 1.200 Euro. Insgesamt bekommen also 81,9 Prozent der Rentnerinnen eine Armutsrente. Bei den Männern bekommen dagegen „nur“ etwa die Hälfte eine Armutsrente, nämlich 47,4 Prozent. Diese menschenrechtswidrige Arbeitsarmut der Frauen und ihre nachfolgende menschenrechtswidrige Rentenarmut, wo Deutschland in der EU übrigens der Führungsstaat ist: Aber da bleiben die Frauen-Vorkämpfer stumm, die sich weltweit für die sexuelle Gender-Gerechtigkeit einsetzen. Denn wo bleibt die Lohn- und Rentengerechtigkeit? Die ökonomische Gewalt gegen Millionen Frauen wird von den Propagandisten der neuen „westlichen Werte“ überhaupt nicht thematisiert. (…)
Fünfter Lügenkomplex: Weitere gesetzliche Rentensenkungen
Die Demografie-Behauptung ist auch in weiterer Hinsicht falsch: Die gesetzlichen Renten der unteren Ränge der abhängig Beschäftigten wurden und werden nicht nur durch die Niedriglöhnerei der vier Hartz-Gesetze abgesenkt, sondern durch weitere direkte und indirekte Maßnahmen. So wurde die sogenannte Rentenformel zweimal zulasten der unteren Ränge der gesetzlichen Rentner geändert. Sie legt die Höhe der Rente im Verhältnis zu den im Arbeitsleben eingezahlten Rentenbeiträgen fest, gemessen in „Entgeltpunkten“. (…)
Zum Vergleich: Beamte haben Anspruch auf eine Rente in Höhe von 71,75 Prozent, und zwar in Bezug auf ihr letztes Einkommen vor dem Renteneintritt, und zudem, ohne dass sie von ihrem Arbeitseinkommen Anteile für ihre Rente eingezahlt haben. Und die Beamten bekommen ihre 71,75 Prozent schon nach 40 Dienstjahren – während die „Arbeitnehmer“ 45 Arbeitsjahre vorweisen müssen, um ihre kümmerlichen 48,3 Prozent zu ergattern.
Nachträgliche Besteuerung
Eine weitere gesetzliche Senkung ist folgende: Seit 2004, beschlossen durch die SPD/Grüne Mehrheit, werden die Renten besteuert, was bis dahin nicht der Fall war. Diese neue Besteuerung bzw. Kürzung der Renten ist salamitaktisch auf 35 Jahre gestreckt, jedes Jahr ein paar Prozentchen mehr, damit es möglichst niemand merkt, bis zum Jahr 2040.
Merkel und von der Leyen: Keine Rentenbeiträge mehr für Erwerbslose
Den Allerärmsten geht es bei dieser Politik am allerschlechtesten: Für die arbeitslosen Hartz IV-Empfänger wurde der anfänglich noch gezahlte, ohnehin niedrige Rentenbeitrag dann unter Kanzlerin Merkel schließlich vollständig gestrichen, und zwar unter direkter Verantwortung der damaligen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, der späteren Verteidigungsministerin und heutigen Präsidentin der Europäischen Kommission.
Sechster Lügenkomplex: Indirekte Rentensenkungen
Die Renten der unteren Ränge der abhängig Beschäftigten wurden und werden zudem indirekt abgesenkt. So verzögerten die Merkel-Regierungen ein Jahrzehnt lang bis 2015 die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. (…)
Zusätzlich werden in dieser kapitalfrommen Politik jährlich im Durchschnitt etwa eine Milliarde registrierte Überstunden geleistet, die nicht bezahlt werden und für die also auch keine Rentenbeiträge eingezahlt werden. Hinzukommen seit einigen Jahren die ebenfalls unbezahlten Überstunden, die gar nicht registriert werden. Sowohl die Merkel- wie die Scholz-geführten Bundesregierungen weigerten bzw. weigern sich, das Urteil des EUGH aus dem Jahr 2019 zur verpflichtenden Registrierung aller geleisteten Arbeitsstunden umzusetzen – und auch die EU fördert das durch Tolerierung. Schließlich tragen die versicherungsfremden Leistungen zur Senkung der Renten bei. (…)
Siebter Lügenkomplex: Rente ab 67 oder verdeckte Rentenkürzung?
Zur Lösung des „Rentenproblems“ wurde das Renten-Eintrittsalter für die unteren Ränge der gesetzlichen Rentner von 65 auf 67 Jahre erhöht. Aber dadurch werden viele Renten zusätzlich abgesenkt: Denn etwa 60 Prozent der abhängig Beschäftigten gehen vor dem gesetzlichen Eintrittsalter in Rente. Die allermeisten gehen unfreiwillig. Das hat viele Gründe: ausufernde unbezahlte Überstunden, Dauer-Arbeitslosigkeit und keine verfügbaren Arbeitsplätze, erhöhter Arbeitsstress, „innere Kündigung“ und Burnout wegen Sinnlosigkeit der Arbeit, Abbau der staatlichen Arbeitsaufsicht und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, wachsende Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort mit erhöhtem Zeit- und Kostenaufwand. Gegenwärtig werden deshalb 8,4 Millionen Renten gekürzt. (…)
Achter Lügenkomplex: Aktien als Patentrezept
Wir kommen zur letzten Lüge. Sie besteht aus zwei Teilen. Erstens: Gerade die ärmsten Niedriglöhner, die eine Vorsorge für die Rente am allerdringlichsten brauchen – dazu gehören auch die Erwerbslosen – haben gar kein Geld übrig, um in eine zusätzliche private Rente einzuzahlen, selbst wenn sie wollten. Zweitens: Die heute führenden Organisatoren der privaten Rente, BlackRock, Vanguard & Co. haben als ihr Hauptgeschäft das Wealth Management, also das Reichtums-Management der Superreichen, der Multimillionäre und Multimilliardäre. Deren Reichtum vermehren BlackRock & Co. unter anderem durch die organisierte, globale Steuerflucht zugunsten dieser Hauptkunden, somit durch die Verarmung der Staaten und der Volkswirtschaften. Dadurch verfällt bekanntlich die für die Mehrheit der Bevölkerung und der Beschäftigten wichtige Infrastruktur – etwa für Gesundheit, Bildung, Verkehr sowie Kinder- und Jugendbetreuung. Diese Infrastruktur verfällt – oder sie wird privatisiert und verteuert. Auch deshalb ist es für viele Beschäftigte unmöglich, eine volle Arbeit aufzunehmen, sich zu qualifizieren und für eine ordentliche Rente vorzusorgen. (…) Der jetzige Renten-Zustand in Deutschland verletzt Grundgesetz, Rechtsstaat und die Menschenrechte und ist typisch für einen feudal-kapitalistischen Klassenstaat. Deutschland steht dabei auf der Unrechts-Skala Europas ganz oben…“ Beitrag von Werner Rügemer vom 28. Oktober 2023 in Telepolis (Teil 2 und Schluss) mit umfangreicher Forderungsliste
Dieser Artikel basiert auf einem Referat, das der Autor beim „Forum Rente“ der Initiative Blackrock-Trubunal am 7. Oktober 2023 in Berlin hielt.