Was kostet ein Leben, was darf es kosten?
„… Sind die Kosten von Behandlungen oder Medikamenten Thema, steht rasch die Empörung im Vordergrund, und zwar vor allem dann, wenn es sich auch noch um die Behandlung von Kindern handelt. Dabei legen beide Berechnungen eins offen: So einzigartig ein Mensch auch sein mag, seine Bedeutung relativiert sich praktisch an einem übergeordneten Kriterium, dem alles in dieser Gesellschaft untergeordnet ist – am Geld. Um das dreht sich in dieser Gesellschaft eben alles. Oder um diese triviale Erkenntnis etwas genauer zu fassen: Um die Vermehrung von Geld dreht sich das ganze Wirtschaftsgeschehen, darauf ist alles ausgerichtet, eben auch das (Über-)Leben der Menschen. Praktisch und augenfällig erweist sich dies im Arbeitsverhältnis, bei dem Arbeitgeber Menschen die Verfügung über ihre Lebenszeit abkaufen, indem sie ihnen Lohn oder Gehalt zusagen. Für einen bestimmten Betrag kann man sich eben hierzulande die Verfügung über das Leben anderer Menschen verschaffen und damit bestimmen, was sie in dieser Zeit zu tun oder zu lassen haben. Als anstößig gilt dieses Verhältnis übrigens nur im Rahmen der Prostitution! Zum Grundsatzthema wird die Verfügung über das Leben anderer dann, wenn es vorbei ist, wenn Entschädigungen anstehen. Dabei wird nicht der Geschädigte entschädigt, denn diesen gibt es ja nicht mehr, sondern seine Angehörigen, denen ein Verlust zugebilligt wird, über dessen – in Geld bemessene – Höhe dann munter gestritten werden kann. Und obwohl immer wieder betont wird, dass ein Menschenleben einzigartig sei, gibt es in der Wissenschaft ganze Abteilungen, die sich mit der Berechnung des Werts von Menschenleben profilieren…“ Artikel von Suitbert Cechura vom 06. Februar 2020 bei telepolis . Siehe dazu:
- Eine gute Tat oder einfach nur obszön? Die „Überlebenslotterie“ von Novartis und die eben nicht nur ökonomischen Dilemmata extrem teurer Medikamente
„Die Debatten über das Wirken „der“ Pharmaindustrie bewegen sich üblicherweise zwischen den Polen von Fluch und Segen. Immer wieder wird man dabei mit dem Vorwurf konfrontiert, den pharmazeutischen Unternehmen gehen es nicht nur um Renditen, sondern um „unverschämt“ hohe Gewinne auf Kosten von kranken Menschen bzw. (noch weitaus lukrativer, weil umfassender abgreifbar) von Solidargemeinschaften wie dem Krankenversicherungssystem in unserem Land, von dem auch völlig überzogene Rechnungen beglichen werden müssen, sofern eine Erstattungspflicht des Medikaments nicht verhindert werden kann. Auf der anderen Seite melden sich die Verteidiger zu Wort und argumentieren, dass nur extreme Renditeaussichten forschende Arzneimittelhersteller dazu bewegen werden, auch in Projekte zu investieren, die mit sehr großen Scheiternsrisiken verbunden sind und/oder die nur einige wenige (potenzielle) Patienten erreichen können, weil es sich um seltene Erkrankungen mit einer entsprechend kleinen Fallzahl handelt. (…) Aus einer moralisch gut begründbaren Perspektive kann und darf man keine einziges menschliches Leben an der Schranke der (angeblichen) „Unbezahlbarkeit“ auflaufen lassen, es in der Konsequenz an dieser überaus manipulierbaren bzw. neutraler formuliert: gestaltbaren Hürde scheitern lassen. Dem ist moralisch gesehen uneingeschränkt zu folgen, führt aber in der Realität dann doch zu Verteilungskonflikten, bei denen es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht. Und das betrifft nicht nur den hier behandelten Fall der Arzneimittel – man denke an das Beispiel der im Mittelmeer ertrunkenen sowie der derzeit und zukünftig ertrinkenden Flüchtlinge. Jeder Einzelne hat das unbedingte Recht gerettet zu werden und spiegelbildlich existiert die unbedingte Pflicht der anderen, jedes menschliche Individuum vor dem Tod zu bewahren. Aber wie die wirkliche Wirklichkeit aussieht, muss an dieser Stelle nicht in extensio ausgebreitet werden. (…) Auf unser Medikamentenbeispiel übertragen: Wenn es ein wirksames Medikament gibt, mit dem ein einzelner Mensch gerettet oder zumindest sein Leiden erheblich geliefert werden kann, dann muss man die Verfügbarkeit herstellen. Auf der anderen Seite steht das Interesse des Pharmaunternehmens an einem möglichst hohen Return on Investment, was auf der konkreten Preisebene aber dazu führen kann und wird, dass der Zugang zu dem Medikament höchst selektiv ausgestaltet wird. (…) Und dann gibt es hier noch einen weiteren gewichtigen Akteure zu berücksichtigen, der gerade bei uns in Deutschland eine ganz entscheidende Bedeutung hat: die Krankenversicherungen, vor allem in Form der für 90 Prozent der Menschen relevanten solidarischen Gesetzlichen Krankenversicherung. (…) Dazu Thomas Trappe in seinem Artikel Wieviel ist uns die Gesundheit des Individuums wert?: »Was das deutsche Gesundheitssystem auszeichnet, ist ein Versprechen: Jeder Mensch bekommt unabhängig von seinem Einkommen die bestmögliche Therapie nach dem aktuellen Stand der Medizin.« (…) In einem Krankenversicherungssystem, das auf dem Prinzip der Solidarität beruht und in einer Gesellschaft, die sich zugleich offensichtlich entsolidarisiert, hat die Ausdifferenzierung der individualisierten Medizin eine enorme Sprengkraft. Die hier angesprochenen Fragen müssen umfassend und kontrovers diskutiert werden, denn sie lassen sich nicht einfach und nicht nach dem heutzutage so verbreiteten Schwarz-Weiß- bzw. Gut-Böse-Schema beantworten.“ Beitrag von Stefan Sell vom 10. Februar 2020 auf seiner Homepage – Wenn auch nicht gelöst, so wird hier doch recht anschaulich, das für den Kapitalismus typisch widersprüchliche Verhältnis von Moral und Profit am Beispiel Medizin angesprochen. In der Tat gibt es hier noch viel zu diskutieren. Ich halte übrigens eine kapitalismusimmanente Lösung für nicht (mehr) möglich.