[Gesundheitszentren/Polikliniken/…] Gesundheit neu denken – der Ruf nach einer sozialen Medizin
Dossier
„Das deutsche Gesundheitswesen gehört zu den teuersten der Welt. Doch es braucht selbst eine Therapie, um eine gute Versorgung für alle zu sichern. Wo wir herkommen, was wir verdienen, wie und in welchem Stadtteil wir wohnen – all dies hat einen beträchtlichen Einfluss auf Gesundheit und Lebenserwartung. (…) Daran ändern weder steigende Beiträge etwas, noch die Milliarden, die Investmentfonds in den Medizinbetrieb investieren. Im Gegenteil: Auch die Kassen beobachten, dass kapitalgetriebene Ärztehäuser sich auf renditestarke Regionen konzentrieren und der Druck auf die Beschäftigten, mehr Tempo zu machen, weiter steigt. Als Modell für eine bessere Gesundheitsversorgung sehen sich Gesundheitszentren oder Polikliniken, die in einigen Städten entstanden sind. Sie wollen interdisziplinär arbeiten, sich Zeit für die Patienten nehmen, Prävention vor das Reparieren stellen und verstehen sich als Interessensvertreter, wenn es um die Verbesserung der Lebensbedingungen im Stadtteil geht. Das Feature stellt solche Initiativen vor und geht der Frage nach, wie eine sozialere Medizin organisiert und finanziert werden kann.“ Audio und Manuskript des WDR-Feature von Gerhard Klas vom 31.07.2022 und weitere Ansätze:
- Gesundheit braucht Menschen, die für sie kämpfen
„Initiativen wie Polikliniken wollen neue Ansätze für die Gesundheitsversorgung voranbringen. Doch der Schritt vom Pilotprojekt zum flächendeckenden Standard ist groß…“ Berichte aus mehreren Polikliniken von Maren Wilczek in Upstream-Newsletter (ohne Datum bzw. nicht gefunden) - [RLS-Broschüre] Gesundheit unter einem Dach: Medizinische Versorgungszentren zwischen Profit und Gemeinwohl
„Wir alle verbinden den Gang zur Ärzt*in mit verschiedenen Erinnerungen: lange Wartezeiten und volle Warteräume, keine freien Termine und lange Anfahrtswege. Wir alle haben schon einmal erlebt, wie aufwendig es sein kann, eine Praxis mit Ärzt*innen zu finden, denen man vertraut, oder wie frustrierend es ist, wegen Personalmangels oder Praxisschließung vor verschlossener Tür zu stehen.
Die Anzahl der Hausarztpraxen nimmt kontinuierlich ab. Laut Studien geben jährlich etwa 2.000 Ärzt*innen ihre Praxen auf. Die Gründe dafür sind vielfältig. Passiert dies zum Beispiel, weil ein*e Ärzt*in in den Ruhestand geht, gestaltet sich die Suche nach Nachfolger*innen oft sehr kompliziert. Nur für knapp die Hälfte der Praxen findet sich ein*e Nachfolger*in. Die Politik tut sich schwer mit konkreten Vorschlägen, wie man diesem Problem entgegenwirken kann.
Die vorliegende Broschüre möchte einen Beitrag zur Lösung dieser Krise leisten: Medizinische Versorgungszentren (MVZ) als Möglichkeit der gemeinwohlorientierten Gesundheitsversorgung vor Ort. Ausgehend vom Standpunkt, dass die Gesundheit von Menschen nicht Profitinteressen unterworfen werden darf, stellt Dietmar Lange das Konzept gemeinwohlorientierter MVZ vor. Dem Patient*innenwohl verpflichtete Versorgungszentren könnten eine Alternative aufzeigen und die Möglichkeit bieten, das Gesundheitssystem zu entlasten und zu verbessern. Gleichzeitig muss die Gefahr eingedämmt werden, es den Falschen zu überlassen, MVZ im großen Stil zu übernehmen und das Profitinteresse von Unternehmen über die Bedürfnisse der Patient*innen zu stellen.
Die Broschüre bringt uns die Organisation und Struktur der ambulanten Versorgung hierzulande näher und erklärt, wie die Medizinischen Versorgungszentren entstanden sind. Anschließend werden deren zunehmende Ökonomisierung und die damit verbundenen Risiken und Gefahren in den Blick genommen. Das Interview mit Christine Becker gibt einen Eindruck von den Abläufen, die mit der Gründung eines MVZ – konkret im Dreiländereck Bayern, Hessen und Baden-Württemberg – verbunden sind.
Gesundheit darf keine Ware sein! Der Gang zur Ärzt*in darf kein Unwohlsein hervorrufen. Wir hoffen, diese Broschüre zeigt auf, dass eine andere, bessere Organisation und Ausrichtung der Gesundheitsversorgung möglich ist. Viel Spaß beim Lesen!“ Vorwort und Inhaltsverzeichnis zur Broschüre von Dietmar Lange vom Juli 2024 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung - Zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen gerechten Gesundheitssystemen, umfassender medizinischer Grundversorgung und einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung
„In der People’s Charter for Health (2000) stellte das People’s Health Movement fest, dass sich die Gesundheitskrise der Armen und Ausgegrenzten verschlimmert hat und dass die Ursache dieser Krise in der Vertiefung von »Ungleichheit, Armut, Ausbeutung, Gewalt und Ungerechtigkeit« liege (S. 1). Zweiundzwanzig Jahre später stellt die OECD fest, dass »wir in einer Ära multipler Krisen, Schocks und Ungewissheiten leben«, von denen mindestens 24% der Weltbevölkerung betroffen sein werden, die in 60 fragilen Kontexten wachsender Armut und Ungleichheit leben. Heute erleben wir jedoch nicht nur die Krise dieser Zusammenhänge, sondern eine allgemeinere Krise, die aus der kombinierten Systemkrise von Kapitalismus, Ökologie und Kriegen resultiert. Diese Krise erklärt die größere Häufigkeit und das Wiederauftreten von Epidemien und Pandemien, Migrationsbewegungen, das Fortbestehen von Chronischen nichtübertragbaren Krankheiten (CNCD = Chronic non communicable diseases), das Wiederauftauchen der Gefahr einer Atombombe und der Auslöschung des Lebens selbst. Hinter der Verflechtung dieser Krisen steht das neoliberale, kapitalistische und globalisierte Wirtschaftssystem der großen transnationalen Konzerne, das die multilateralen Organisationen und die Staaten gekapert hat, um die Märkte zu kontrollieren und um zu expandieren, um Profite zu akkumulieren. (…) Die Kommerzialisierung und Privatisierung der lateinamerikanischen Gesundheitssysteme hat dazu geführt, dass sie bei der Gesundheitsüberwachung, -prävention und -förderung weniger effektiv sind. Sie sind nicht in der Lage, den ungleichen Zugang zu Gesundheitsdiensten zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass die Ressourcen nach Regionen und sozialen Schichten gerecht verteilt werden. Darüber hinaus werden die Gesundheitssysteme der Region von einem biomedizinischen Ansatz der Gesundheitsversorgung dominiert, der durch jahrzehntelange Kommerzialisierung und Privatisierung verstärkt wurde und das Wissen und die Praktiken der indigenen Gemeinschaften ausschließt und Interkulturalität erschwert. (…) Das Gesundheitsmodell der Weltbank und der WHO ist ein anthropozentrisches, biomedizinisches und krankheitszentriertes, das der Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesundheitssysteme und der neoliberalen Wirtschaftsordnung dient. Primary Health Care ist eine Strategie, die einer neuen, in eine Neue Weltwirtschaftsordnung eingebetteten Gesundheitssystempolitik einen anderen Inhalt geben könnte. (…) Primary Health Care, wie sie 1978 in Alma-Ata proklamiert wurde (WHO & UNICEF, 1978), wurde jedoch ihres umfassenden und interkulturellen Inhalts beraubt und ist einem neoselektiven Ansatz gewichen, um die Reformen der Universal Health Coverage für private und marktwirtschaftliche Interessen funktional zu machen, wie es in der Erklärung von Astana vierzig Jahre später heißt (WHO & UNICEF, 2018). (…) Vor allem aber heißt es in Absatz 3 der Erklärung von Alma-Ata von 1978 über Primary Health Care: »III. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf der Grundlage einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung ist von grundlegender Bedeutung für die größtmögliche Verwirklichung von Gesundheit für alle und für die Verringerung der Kluft zwischen dem Gesundheitszustand der Entwicklungsländer und dem der entwickelten Länder. Die Förderung und der Schutz der Gesundheit der Menschen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung und trägt zu einer besseren Lebensqualität und zum Weltfrieden bei« (WHO & UNICEF 1978, S. 1). (…) Anstatt jedoch eine Neue Weltwirtschaftsordnung und einen umfassenden Primary Health Care-Ansatz zu fördern, haben sich die Weltbank und die WHO am Programm für nachhaltige Entwicklung (SDG = Sustainable Development Goals) und an mehreren neoselektiven Primärversorgungsprogrammen beteiligt, um das derzeitige Kapitalakkumulationsregime beizubehalten und den Umfang der Alma-Ata-Erklärung einzuschränken (WHO & UNICEF, 1978). (…) Dieser Ansatz der Weltbank hält eine unnötige Trennung zwischen klinischen Maßnahmen und öffentlicher Gesundheit aufrecht. Er verhindert, dass Primary Health Care mit dem guten Leben von Gemeinschaften und Regionen verknüpft wird, indem er sektorale Gesundheitsmaßnahmen (primäre klinische und öffentliche Gesundheitsversorgung durch multidisziplinäre Teams) drastisch von sektorübergreifenden Maßnahmen und der Einbeziehung von Gemeinschaften trennt…“ Beitrag von Roman Vega Romero in der Übersetzung von Rafaela Voss und Karen Spannnenkrebs beim Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte GbP 2-2023 („Nicht aufgeben, die Gesellschaft zu verändern“) - Das Polikliniksyndikat: Linke Gesundheitsprojekte statt Gewinnorientierung
„Das Polikliniksyndikat ist ein Zusammenschluss verschiedener Gesundheitskollektive in Deutschland, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben linke Gesundheitspolitik nicht nur zu denken, sondern die entwickelten Ideen direkt praktisch umzusetzen. (…) Solidarische Gesundheitszentren sind der Versuch, unser Verständnis von Gesundheit praktisch umzusetzen. Der Grundgedanke ist klar: Wir wollen an den Lebensverhältnissen der Menschen ansetzen und soziale wie gesundheitliche Ungleichheiten bekämpfen. Gleichzeitig soll eine solidarische Alternative für das Gesundheitssystem mit dessen Missstände entwickelt werden. Wir glauben, dass gute Gesundheitsversorgung nicht profitorientiert, sondern nur interdisziplinär, gemeinnützig und demokratisch stattfinden kann. (…) Solidarische Stadtteilgesundheitszentren setzen dieses Ziel durch verschiedene Arbeitsweisen um. Zum einen werden die krankmachenden gesellschaftlichen Verhältnisse in den Fokus genommen. Es werden Beziehungen im Stadtteil aufgebaut und in Form von Gemeinwesenarbeit wird im direktem Lebensumfeld von Patient*innen verhältnispräventiv, also an der Verbesserung der Lebensumstände, gearbeitet. Gleichzeitig findet medizinische Versorgung in niedrigschwellig erreichbaren Stadtteilgesundheitszentren statt, in welchen multiprofessionell zusammengearbeitet wird. Das führt dazu, dass Patient*innen je nach Bedarf psychologische, juristische, medizinische (ärztliche und Pflegeberatung) oder soziale Beratung in Anspruch nehmen können und so problemorientiert und ganzheitlich betreut werden. Das bedeutet auch, dass ärztliches und nicht-ärztliches medizinisches Personal, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Hebammen, Stadtteilarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen und viele weitere Professionen gemeinsam an einem Fall arbeiten können. In die Arbeit werden außerdem Menschen aus den Stadtteilen einbezogen, um von deren Expertise zum Stadtteil und den Lebensbedingungen lernen zu können. Gemeinsam werden partizipativ und regelmäßig unsere Methoden evaluiert und weiterentwickelt. Die Stadtteilgesundheitszentren sind allerdings nicht nur ein Ort, an dem Menschen aus unseren Kollektiven arbeiten, sie sind ebenfalls eine Struktur, in der Nachbar*innen und Patient*innen sich zu gemeinsamen Problemlagen selbst organisieren können, um kollektive Lösungen zu finden. Selbstorganisation ist für uns ein Schritt in Richtung Transformation und Auflösen von Hierarchien. (…) Da sich diese Rahmenbedingungen nicht allein auf lokaler Ebene gestalten lassen, sind die verschiedenen Gesundheitskollektive Deutschlands im Polikliniksyndikat organisiert. Derzeit sind Gruppen aus den Städten Berlin, Hamburg, Dresden, Köln, Freiburg, Jena und Leipzig aktiver Teil dieser überregionalen Struktur. Ziel des Polikliniksyndikats ist es, unsere Ideen in die Politik und zu den politischen Entscheidungsträger*innen sowie in die Öffentlichkeit zu tragen. (…) Entscheidungen über die inhaltliche und organisatorische Arbeit des Syndikats treffen wir basisdemokratisch und konsensuell. Dafür gibt es ein regelmäßiges Syndikatsplenum, in welches jede Mitgliedsgruppe Delegierte entsendet. Weitere Arbeit des Syndikats wird in überregionalen Arbeitsgruppen geleistet, welche sich mit verschiedenen Themen wie bspw. Lobbyarbeit oder der Einbindung neuer Gruppen beschäftigen. Entstehende Gruppen werden dadurch vom Syndikat begleitet, indem z. B. Wissen, Erfahrung und Informationen zusammengetragen und Austausch über die Arbeit ermöglicht werden. Durch die Arbeit des Syndikats an verschiedenen, jedoch zusammenhängenden Problemen der Gesundheitsversorgung, sowie durch eine weitreichende Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Organisationen aus emanzipatorischen und sozialen Bewegungen wollen wir das schaffen, was im Alltag oft unmöglich scheint: Gemeinsam eine bessere Welt aufbauen, in der ein gutes und gesundes Leben für alle möglich ist.“ Artikel von Annika, Poliklinik Syndikat, vom 7. Februar 2023 in der graswurzelrevolution – nun freigeschaltet und ohnehin zeitlos wichtig
Siehe im LabourNet auch:
- z.B. unser Dossier zur Poliklinik im Hamburger Stadtteil Veddel
- Gesundheit für alle: «Soziale Medizin gibt es nur, wenn man kämpft»
- und im LabourNet-Archiv unsere Rubrik Gesundheit nicht für Alte?