Gesundheit für alle: «Soziale Medizin gibt es nur, wenn man kämpft»
„Die Sozialanthropologin Janina Kehr beschäftigt sich mit Ungleichheiten in der Gesundheitspolitik. Sie erklärt, warum MigrantInnen in der Coronapandemie besonders exponiert sind – und welche Auswirkungen die Austeritätspolitik in den einzelnen Ländern hat. (…) Die USA sind für ihre harschen Ungleichheiten im Gesundheitswesen bekannt, es gibt kaum eine öffentliche Gesundheitsversorgung, fast alles ist privatisiert. An der Lebenserwartung lässt sich messen, wie sich gesellschaftliche und ökonomische Ungleichheiten ausdrücken. Afroamerikaner sterben im Schnitt vier Jahre früher als Weisse – auch ohne Covid-19. Die Studie aus Oxford hat gezeigt, dass in Grossbritannien die betroffenen Minderheiten zu den ärmeren sozialen Gruppierungen gehören. Soziale Ungleichheiten aufgrund der Herkunft und der Klasse überlagern sich, was sich in der Pandemie besonders bemerkbar macht. (…) Am Anfang der Coronapandemie spukte der Spruch herum, Infektionskrankheiten würden keine Grenzen und Klassen kennen, jede und jeder sei betroffen. Dem ist nicht so. Ich habe selbst zum Themenbereich Tuberkulose gearbeitet. Sie gilt als «soziale Krankheit», weil sie arme Menschen überproportional betrifft. Die Frage, wie jemand auf Viren oder Bakterien reagiert, ist nicht losgelöst von der sozialen Stellung zu betrachten (…) Gesundheitsversorgung kann nicht von der Gesellschaft losgekoppelt werden, und diese ist bekanntlich alles andere als ein macht- und konfliktfreier Raum. Die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft und sozioökonomischer Stellung zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche. Warum sollten diese Mechanismen nicht auch bei der Gesundheitsversorgung greifen?...“ Interview von Cigdem Akyol in der WoZ vom 14.05.2020