Gestresstes Deutschland – dem die Mitte verloren geht
Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 29.8.2015
Kann das immer weitere Schrumpfen der deutschen Mittelschicht – dabei waren wir auf diese „Mittelschichtsgesellschaft“ einst so stolz – doch noch zu einer Delegitimation des „herrschenden“ Finanzkapitalismus führen? Es ist das Verdienst von Alexander Hagelüken in dieser Zeit des heftigen Flüchtlings-Protestes unter meist rechtsextremen Vorzeichen – tieferschürfend – auch einmal auf die gravierendsten Veränderungen unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen: Das Schrumpfen der deutschen Mittelschicht
Mit folgendem eigentlich für alle Politiker alarmierenden Befund: Seit 1993 gibt es immer weniger Haushalte mit Durchschnittseinkommen – auch der gute Arbeitsmarkt verhindert das nicht. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wohlstand-deutschlands-mittelschicht-wird-kleiner-1.2622686?reduced=true ) Hagelüken bezieht sich dabei auf eine ganz neue Studie aus dem „Institut Arbeit und Qualifikation“ aus Duisburg mit den Autoren Gerhard Bosch und Thorsten Kalina. Diese stellen in ihrem aktuellen IAQ-Report zur Einkommensungleichheit in Deutschland fest: Die Mittelschicht in Deutschland (ergänze: immer weiter) unter Druck: Seit Mitte der 1990-er Jahre hat in Deutschland die Einkommensungleichheit stärker als in vielen anderen europäischen Ländern zugenommen. Der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen ging um acht Prozentpunkte von 56,4 Prozent im Jahre 1992 auf 48 Prozent im Jahr 2013 zurück. (http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2015/report2015-04.php )
Trotz boomenden Arbeitsmarktes kein Rückgang der Ungleichheit
Hagelüken zitiert noch zusätzlich den Verteilungsforscher des DIW Markus Grabka mit den Worten, weil es doch unverständlich sei, wenn der Arbeitsmarkt boomt und sogar im Jahr 2015 ein neuer Rekord von fast 43 Millionen Beschäftigten erreicht werde: „Es ist erstaunlich, dass die Mittelschicht nicht zunimmt, obwohl der Arbeitsmarkt so gut läuft.“ Da kann ich meinerseits nur feststellen, dass an ihm wohl die Tatsache vorbeigegangen ist, dass – vor allem durch die sog. Hartz-Arbeitsmarktreformen – nicht das Arbeitsvolumnen (dieses erst ein wenig noch in letzter Zeit) zugenommen hat, sondern die Arbeit einfach nur auf mehr Köpfe verteilt wurde, was im großem Maßstab die Verschlechterung der Einkommen mit sich brachte.
Deshalb fordern auch die Duisburger Forscher Bosch und Kalina die Politik auf, wieder eine bessere Bezahlung vieler Tätigkeiten durchzusetzen. Denn: Immer weniger Haushalte der unteren Mittelschicht und der Unterschicht – darunter vermehrt Singles – könnten vom Lohn ihrer Arbeit leben – und das gleiche oft der Staat durch Transferzahlungen aus. „Wenn der Sozialstaat jetzt schon in guten Zeiten so stark beansprucht wird, besteht die Gefahr, dass er in Krisenzeiten dann überfordert ist„, erklären die Duisburger Forscher Bosch und Kalina.
Deutsche in unteren Einkommensschichten hätten in vielen Branchen eben nur Zugang zu Minijobs und kurzer Teilzeitarbeit. Und: Die Firmen bezahlten den meisten Minijobern nicht die ihnen zustenden Urlaubs- und Krankheitstage. Außerdem entlasse das Bildungssystem viel zu viele Jugendliche ohne Berufsabschluß, die dann allenfalls sporadisch oder in Teilzeit beschäftigt würden (vgl. auch weiter unten beim „Armutsrisiko“)
Aber Alexander Hagelüken belässt es nicht bei dem Bericht, sondern schreibt am nächsten Tag (28. Aug. 2015) noch einen ausführlichen Kommentar unter der Überschrift die „Tücken des Booms“. Er findet, dass die rabiaten Arbeitsmarktreformen durch die Globalisierung erzwungen wurden, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können.
Inwieweit erzwang die Globalisierung die Niedriglohnpolitik für Deutschland?
Es sei mir dazu die kleine Anmerkung gestattet, dass der dadurch „entfaltete“ Export- und Leistungsbilnanzüberschuss doch gleichzeit das „Euro-System“ destabilisiert, wie immer mehr festgestellt wird – wenn auch kaum in Deutschland selbst.
So stellt der italienische Banker und Manager Bini Smaghi fest: „… Das Problem ist vielmehr der globale Überschuss der Ersparnisse gegenüber den Investitionen. Und: Zu diesem Problem trägt Deutschland mit einem Leistungsbilanzüberschuss in Höhe von 8 Prozent bei, der eine deflationäre Wirkung hat… So haben wir die niedrigen Zinsen in Europa und in der Welt, weil es nicht genügend öffentliche und private Investionen gibt, die diese angewachsenen Ersparnisse absorbieren.“ (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/debatte-zu-griechenland-die-deutschen-vorurteile-1.2620708?reduced=true )
Verteilung muss auf die politische Agenda
Dennoch sieht Hagelüken in seinem Kommentar zu diesem makroökonomischen Grundübel aus Deutschland noch – andere – Möglichlkeiten dieser so enorm gewachsen Ungleichheit entgegen zu wirken: Umverteilung (durch Steuern = nur begrenzt noch möglich), mehr Geld für Bildung ausgeben, um nicht nur schlecht bezahlte Jobs finden zu können, und die „alte“ Idee der Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital (in breiten Massen an den Unternehmen beteiligen) – und so den Lohn mit Kapitaleinkommen zu „kombinieren“. Für ihn kann, um faire Bezahlung hinzubekommen, der Mindestlohn eben nur ein Anfang sein.
Die schrumfenden Mittelschichten stünden eben unter dem auswegslosen Diktat: „Arbeite hart, aber besser geht es dir nicht.“ Dies müsse aufgebrochen werden. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/schrumpfende-mittelschicht-arbeite-hart-aber-besser-geht-es-dir-nicht-1.2623869?reduced=true )
Finanzmarktgetriebene Einkommensverbesserung jetzt kombiniert mit dem Lohn?
Neben der – vom neoliberalen „System“ gewünschten – Einbindung der ArbeitnehmerInnen in das Regime der Finanzmärkte muss noch gefragt werden, ob diese „Koppelung“ nicht vollkommen „kontradiktorisch“ (= im Gegensatz) zu der Lohnfindung steht? So ist festzuhalten, dass die Verbesserung der Lohnsituation den Interessen der Finanzmarktakteure entgegensteht. Cornelia Koppetsch hat dies erst kürzlich folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Der Finanzkapitalismus beinhaltet, dass die Finanzmarktakteure in die Unternehmenspolitik eingreifen – im Sinne der Maximierung von Gewinn. Das geschieht über den Shareholder-Value. Die ganzen Mittelschichtsbürger – und dann auch noch die „beteiligten“ Arbeitnehmer – die ein bisschen Vermögen haben und dieses an der Börse anlegen, sind mit dafür verantwortlich, dass bestimmte Jobs immer prekärer werden…. So trägt jeder Shareholder (Aktienbesitzer) zur – sozialen Aushöhlung der Arbeitnehmerschaft bei. (Vgl. „Nur wie stehen die Chancen für die „Überwindung“ der finanzkapitalistischen Spielanordnung? – Oder: „Eine Wiederkehr der Konformität durch Freiheit als Mainstream“ auf der Seite 10 bei https://www.labournet.de/?p=85379)
Eine Lösung für die Einkommenssituation der deutschen Arbeitnehmer, die durch Lohneinbußen den Exportüberschuß auch ermöglicht haben (zu dessen aktuellem krisenverschärfenden Problem für die Eurozone siehe weiter oben den italienischen Manager Bini Smaghi, zu den abgehängten Löhnen in Europa siehe noch einmal Michael Schlecht: http://www.michael-schlecht-mdb.de/wp-content/uploads/2015/07/Löhne-abgehängt-1508.pdf ). Eine Möglichkeit den Krisenfaktor Deutschland mit seinem Exportüberschuss einzuschränken bleibt daher, dass der „Export-Junkie D“ höhere Löhne erringt. (http://www.michael-schlecht-mdb.de/export-junkie-d-braucht-hoehere-loehne.html )
Mittelschichtsgesellschaft war auch von den Konservativen einmal gewollt mit „Wohlstand für alle“
Dabei ist unsere Gesellschaft ziemlich vergesslich, denn diese Diskussion um die Probleme der schrumpfenden Mittelschicht – mitsamt den Gefahren, die damit für die Stabilität unserer Demokratie einhergehen, haben wir alle paar Jahre. Das letzte Mal haben diesen Befund Bertelsmann mit dem DIW vorgelegt. (wobei die Bertelsmann-Studie wohl im Netz „verschwunden“ ist. Will Bertelsmann dies einfach vergessen machen?)(http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/diw-studie-mittelschicht-schrumpft-ungleichheit-nimmt-zu-a-872641.html )
Wie hatte doch gerade die CDU mit Ludwig Erhard und seinem „Wohlstand für alle“ den Lebensnerv und das Lebensgefühl der Bundesbürger in den 50-er und sechziger Jahren getroffen – und gleichzeitig eine Ära des gewerkschaftlichen Erfolgs hervorgerufen. (vgl. den Anfang bei http://archiv.labournet.de/diskussion/wipo/allg/kapkritik_bahl.html)
So trafen wir so unterschiedliche Geister wie den Wirtschafts-Sachverständigen Peter Bofinger wie auch die Linke Sarah Wagenknecht in trauter Einigkeit über die Bedeutung dieses Slogans „Wohlstand für alle“ eines Ludwig Erhard beieinander. (Vgl. den Abschnitt dazu auf der Seite 2 im hier vorhergehenden Link)
Oder um es mit den Worten Stephan Schulmeisters noch einmal zu sagen: Wenn man die Politik mit einer Bühne begreift, dann haben sich heute die Kulissen dieser Bühne so weit nach rechts gedreht, dass Positionen, die vor fünfzig Jahren auch ein Ludwig Erhard – mit diesem „Wohlstand für alle“ – vertreten hat, heute als linksradikal gelten.“ Es erscheint recht wichtig, dies festzuhalten. (und könnte es dieser Tatbestand wiederum sein, weshalb diese Bertelsmann-Studie so einfach wieder verschwunden ist? Wollte Bertelsmann nicht aus dieser „unserer“ marktkonformen Zeit einer „ewigen schwäbischen Hausfrau“ herausgefallen sein?)
Und so fragte sich ein Frank Schirrmacher noch vor nicht allzu langer Zeit, ob es nicht an der Zeit wäre, dass auch jemand in der Wirtschaft versteht, dass auch für die Wirtschaft langfristig eine stabile und demokratische „Mittelschichtsgesellschaft“ die wichtige Voraussetzung überhaupt ist, um auch wirtschaftlich Erfolg zu haben – deshalb könnte es sein – so Frank Schirrmacher – dass die Linke doch recht hat. (Vgl. den Absatz nach dem ersten Drittel auf der 2. Seite „Auch die Wirtschaft braucht die sozial zerstörende neoliberale Agenda nicht mehr“ bei http://archiv.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/allg/armut_bahl.html, einen allgemeinen Überblick dazu findet man noch bei http://archiv.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/allg/armut.html – nur – wie gesagt – alle Links zur Bertelsmann-Studie „versagen“ inzwischen)
Rechte Hetze – jetzt gegen Flüchtlinge – als Zeichen für die gewaltige Erosion der Mittelschichten in Deutschland
Das entgeht Alexander Hagelüken – jedenfalls als offene Thematisierung -,dass eben diese „nachaltige“ Auflösung der Mittelschicht in Deutschland nicht nur ein bewährtes Integrations-Narrativ der Bundesrepublik auflöst, sondern auch als Ergebnis zu der Entwicklung einer „verrohten und vereisten Mittelschicht“ geführt hat (vgl. http://www.nachdenkseiten.de/?p=7652 ), wie Heitmeyer das ausführlich entwickeln konnte. (Vgl. vor allem den Abschnitt „Politische Folgen dieser Erosion der Mittelschicht“ auf der Seite 1 ganz unten bei http://archiv.labournet.de/diskussion/wipo/allg/kapkritik_bahl.html)
Noch: „Wer ist arm in Deutschland?“ bzw. von Armut bedroht? Das heißt, wie franst die Mittelschicht noch weiter aus?
Ergänzen wir jetzt aktuell diesen Befund zur Mittelschicht noch mit dem Armutsrisiko in Deutschland – eine Angst die diese deutschen Mittelschichten besonders umtreibt. So hat das Statistische Bundesamt gerade noch festgestellt, dass immer mehr Deutsche von Armut bedroht werden. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/statistisches-bundesamt-mehr-deutsche-von-armut-bedroht-1.2623426 ) Betrachten wir uns die Armutsgefährsungsquote aufgegliedert nach den Bundesländern, so zeigt sich auch hier wieder ein interessantes Bild: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialberichterstattung/Tabellen/ArmutsgefaehrungsquoteBundeslaender.html
Gerade dort, wo mit den heftigsten Protesten die neu ankommenden Flüchtlinge am gewalttätigsten bekämpft werden, in den ostdeutschen Bundesländern, können wir eine besonders hohe Armutsgefährdungsquote konstatieren. Natürlich besonders betroffen sind immer wieder die Geringqualifizierten – worauf schon Alexander Hagelüken aufmerksam machte – und klare Konsequenzen von der Politik forderte. (Siehe höhere Armutsgefährdung von Gering-Qualifizierten: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2015/08/PD15_311_228.html )
Wenn also mit dieser zunehmenden Polarisierung der Einkommensverteilung auch eine zunehmende Segmentierung der Gesellschaft in oben, Mitte und unten einhergeht, dann könnten diese auseinaderstrebenden Kräfte immer mehr zum explosiven sozialen Sprengsatz werden. Ob das zu der viel spannenderen Frage hinführt, dass mit diesem Ende der Mittelschichtsgesellschaft auch noch eine Delegitimierung (= keine Berechtigung mehr) des „unsere“ Politik beherrschenden Narrativs der „marktkonformen“ Demokratie mit seiner „schwäbischen Hausfrau“ einhergeht, kann im Moment nicht entschieden werden – obwohl die vielfältigen Krisenerscheinungen immer zahlreicher werden.