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Seismographen der Armut und Skrupellosigkeit – Anton Kobel über Lebensmittel-Tafeln
Artikel von Anton Kobel, erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12
Lebensmittel-Tafeln sind Seismographen hiesiger Armut und menschlichen Mitgefühls. Über 1,5 Millionen bedürftige, von den Tafeln versorgte »Kunden« und ca. 50 000 ehrenamtliche HelferInnen prägen das öffentliche Bild der in Deutschland ständig sich ausweitenden »Tafel-Gesellschaft«. Die Träger und Organisatoren dieser Tafeln sind sich ihrer karitativen Rolle bewusst. Sie werden regelmäßig dekoriert durch alle möglichen Formen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Anerkennung. Dadurch sind sie attraktiv für hilfsbereite, aber auch für öffentliche Erwähnung suchende Mitmenschen.
Die große gesellschaftliche Wertschätzung der Lebensmittel-Tafeln und deren regelmäßiges Erscheinen in der Presse im zeitlichen Zusammenhang mit christlichen Feiertagen sind auch für Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels von unbezahltem Wert. Die deutsche Tafelgesellschaft könnte ohne die Lebensmittelspenden der großen Handelsunternehmen so nicht existieren. Letztere gerieren sich öffentlich und Wohlwollen demonstrierend als Feuerwehr gegen die sich ausbreitende Armut. Gleichzeitig betätigen sie sich im Verborgenen aktiv als Brandstifter; sie sind Produzenten von Armut.
Arm trotz Arbeit
In kaum einem anderen Bereich des deutschen Einzelhandels sind in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Arbeitsverhältnisse entstanden, deren Bezahlung ein menschenwürdiges Leben nicht mehr ermöglicht, als im Lebensmitteleinzelhandel. »Arm trotz Arbeit« – diese Realität verdeutlichte die Gewerkschaft HBV bereits in den 1990er Jahren einer überwiegend erstaunten Öffentlichkeit. Die Ursachen sind in den profitträchtigen Einzelhandelskonzernen selbst zu suchen:
- Zunahme an Teilzeitarbeit, deren Einkommen schon immer unter Sozialhilfe bzw. Hartz IV liegt;
- Minijobs, die bestenfalls als Grundlage zum Hartz IV-Aufstocken taugen;
- unbezahlte Arbeitsstunden vor allem im Lebensmitteleinzelhandel, die durch fehlende und verweigerte Erfassung der tatsächlich, vor allem von Frauen geleisteten Arbeitszeiten als »graue Stunden« in den betrieblichen Sprachgebrauch und in den Profit steigernden unternehmerischen Gebrauch Einzug hielten;
- zahlreiche Formen von Tarifflucht und das Unterlaufen der Tarifverträge durch Outsourcing/Ausgliederung/»Privatisierung von Filialen«;
- Mithilfe der Arbeitgeberverbände durch Ermöglichen von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung;
- bewusster Lohn-Betrug, wie bei Schlecker 1994/95 aufgedeckt und 1998 staatlicherseits durch Strafbefehle geahndet;
- Armutslöhne, wie von ver.di bei KiK aufgedeckt; Zunahme von schlecht bezahlten LeiharbeiterInnen.
Diese »personalkostensenkenden« Maßnahmen gingen einher mit dem Abbau von Vollzeitarbeitsplätzen, die wenigstens ein »einfaches« Leben ermöglichten. Und: Armutslöhne haben im Alter Armutsrenten zur Folge.
Wenn wir die gesamten, weltweit organisierten Wertschöpfungsketten der hier verkauften Waren betrachten und dabei die immer wieder durch die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen bekannt werdenden, menschenfeindlichen Skandale und Billiglöhne in den Produktionsstätten zur Kenntnis nehmen, sind Lebensmittel-Tafeln durch die vielfältige Armutsproduktion ihrer Großspender auch Seismographen von Skrupellosigkeit. Skrupellos, weil hier nicht mehr verwertbare Krümel als Zeichen von Wohltätigkeit garniert werden und die Großspender sich und die Tafeln dafür feiern und feiern lassen.
Lebensmittelspenden – ein einträgliches Geschäft
›Gut fürs Image‹ und kostenlose Werbung sind nicht die einzigen Beweggründe für Handelsunternehmen beim Lebensmittel-Spenden. Einsparungen bei der Müllentsorgung schlagen sich in Unternehmen mit tausenden Filialen in Millionenbeträgen deutlich nieder. Betriebswirtschaftlich interessant sind darüber hinaus steuersparende Spendenbescheinigungen.
Diese Formen von »social-« und »green-washing« finden ihre Erwähnung nicht nur in Presseerklärungen und -Konferenzen. »Tue Gutes und rede drüber« – dieses Motto veranlasste offensichtlich den Metro-Konzern dazu, z.B. im Geschäftsbericht 2011 der Metro Group auf den Seiten 137f. unter dem Stichwort »Handlungsfeld Gesellschaftspolitik und Stakeholder-Dialog, Thema Corporate Citizenship« den Aktionären über entsprechende Konzernaktivitäten Bericht zu erstatten. Ein Beispiel auf S. 137: »Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch Geld- und Lebensmittelspenden bei gleichzeitiger Reduzierung der Lebensmittelverschwendung« dank »Spendenerlös durch den Verkauf von knapp 38 000 Exemplaren des Kochbuchs »Das gute Essen« sowie 3 800 Vollversionen der gleichnamigen App an den Bundesverband Deutsche Tafel.«
Der Metro-Konzern ist kein Einzelfall. Lidl versuchte 2008, sein durch verschiedene Skandale angekratztes Image zu reparieren. Sein damaliges Mittel: Die Lidl-KundInnen konnten auf ihr Flaschenpfand verzichten; Lidl versprach, dieses Geld an den Bundesverband der Tafeln weiter zu geben. Der feierte dies am 7. März 2008 erwartungsgemäß in einer Presseerklärung: »Größte Pfandspendenaktion Europas gestartet«. Auch der Rewe-Konzern zeigt, was er kann: Auf acht Seiten seines 169 Seiten umfassenden »Nachhaltigkeitsberichts 2010/11« lobt er sich unter dem Titel »Gesellschaftliches Engagement«.
Ein Rückblick in den Einzelhandel
Im Einzelhandel Beschäftigte sind vor allem als Alleinerziehende und im Alter als RentnerInnen »Kunden« der Lebensmitteltafeln. Als Almosenempfänger erhalten sie Altwaren ihrer (Ex-)Arbeitgeber. Als Arbeitnehmer erhalten sie die Kündigung, wenn sie Altware nicht wegwerfen, sondern an sich nehmen.
Wer Armut wirksam bekämpfen will, muss diese in der Entstehung bekämpfen und nicht erst durch späteres Reparieren. Prekäre Arbeitsverhältnisse verhindern und menschenwürdige Mindestlöhne und Mindestrenten durchsetzen statt Ausweitung der Tafelgesellschaft – das wären sinnvolle politische und soziale Ziele!
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12, express im Netz unter:www.express-afp.info , www.labournet.de/express