Soziologin Sassen über Desintegration: „Teilhabe war gestern“
Für die Soziologin Saskia Sassen erleben wir gerade eine beispiellose Desintegration. Immer mehr Menschen werden „ausgewiesen“. Interview von Christian Jakob in der taz vom 10.02.2013 . Aus dem Text:
„taz: Frau Sassen, Ihrer Ansicht nach beschreibt der Begriff „Ausweisung“ so gut wie kein anderer unsere Gegenwart. Warum?
Saskia Sassen: Wenn ich von Ausweisung spreche, dann meine ich etwa die Bewohner der 13 Millionen Häuser, die seit 2006 in den USA zwangsversteigert wurden. Oder die Millionen, die in den USA im Gefängnis sitzen. Ich meine die verarmte Mittelschicht in Europa und die Milliarde Menschen, die in absoluter Armut leben.
taz: Alles Dinge, die es schon lange gibt. Wo ist das Neue?
Nehmen wir Griechenland. Dort verlieren immer mehr Leute ihre Arbeit, immer mehr sind zu arm, um für ihre Kinder zu sorgen. Doch wenn man dort ist, sieht alles aus wie früher: Es gibt Bars, es gibt Restaurants, Büros, Leute mit Jobs. Doch verliert man den, ist man raus, wirklich raus. Das ist nicht einfach nur ein bisschen mehr Arbeitslosigkeit und Armut. (…)
taz: Für die Dinge, die Sie nennen, gibt es doch längst einen Begriff: sozialer Ausschluss.
Nein, den gibt es eben nicht. Was wir heute sehen, hat mit sozialem Ausschluss nichts zu tun. Die Grenze, die jemand überschreitet, der in Griechenland seinen Job und sein Haus verliert, ist eine neue Sorte von Grenze. Das nenne ich Ausweisung. Sozialer Ausschluss ist Diskriminierung, aber im Innern des Systems. Das ist schlimm, das gibt es weiter, aber was mich hier besorgt, ist etwas Neues. Es sind die Logiken der Ausweisung von Menschen aus traditionellen Ökonomien, von der Möglichkeit, ein Teil der neuen und alten Ordnung zu bleiben…“