Neue Töne von den Tafeln: „Bürgerschaftliches Engagement darf nicht dazu dienen, staatliches Versagen zu kaschieren“
„Im Interview mit der Junge Welt schlug Jochen Brühl, Vorstand der Tafel Deutschland e.V. neue Töne an. Er sagte: „Bürgerschaftliches Engagement darf nicht dazu dienen, staatliches Versagen zu kaschieren. Mit Minijobs oder Niedriglohn klappt es nicht, gesellschaftlich teilzuhaben, auch wenn letzterer jetzt zwölf Euro betragen soll. Wir fordern statt dessen 100 Euro Zuschuss pro Monat. Auch Regelsätze und Sozialleistungen müssen angehoben werden. Die Versorgung der Menschen ist Aufgabe des Staates. Wir von den Tafeln unterstützen nur, wir sind keine Existenzhilfe. (…) Würde der Staat, vertreten durch die Parlamente im Bund und in den Bundesländern das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nehmen, müsste er durch seine Gesetzgebung dafür sorgen, dass es Lebensmittelspenden an Bedürftige durch zivilgesellschaftliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände nicht geben muss…“ Beitrag vom 29. März 2022 in gewerkschaftsforum.de , siehe dazu:
- Der Staat, nicht die Tafel, hat für Ernährungssicherheit zu sorgen – Lebensmittelkonzerne und Politiker nutzen Spenden an die Tafeln für gute PR
„… Immer mehr Menschen in Deutschland sind auf die Tafel angewiesen. Gleichzeitig ist es für die Organisation komplizierter geworden, Lebensmittel zu retten. Denn die Lebensmittelrettung ist zu einem Geschäftsmodell und umkämpften Markt geworden: Foodsharing, Too Good To Go und viele andere Organisationen, die überschüssige Lebensmittel günstig weiterverkaufen, sind inzwischen harte Konkurrenten. Folglich steigen die Lebensmittelspenden an die Tafeln nicht im gleichen Maße wie die Zahl der Bedürftigen oder gehen sogar zurück. Um auf die Arbeit der Tafeln aufmerksam zu machen, lief von Ende Februar bis Ende März eine deutschlandweite PR-Aktion: Durch den Kauf bestimmter Snackprodukte der Marke share in dm- und Rewe-Märkten konnte man die Tafel Deutschland unterstützen. Als Dankeschön gab es zehn E-Lastenräder – fünf wurden unter den Teilnehmenden verlost und fünf an die Tafeln gespendet. Dazu gab SAT.1 dem Thema im Fernsehprogramm Sichtbarkeit, Rewe und dm warben für die Aktion in ihren Geschäften. Zwei Einzelhandels-Großkonzerne, ein nach eigener Auffassung »soziales« Start-up, ein privater Fernsehsender und eine gemeinnützige Organisation packen also zusammen an gegen die Ernährungsarmut in Deutschland. Was wie der Anfang eines schlechten Witzes klingt, verweist auf eine traurige Realität: Die Politik ignoriert das Problem seit Jahrzehnten. (…) Die Arbeit, die die tausenden Ehren- und Hauptamtlichen bei den Tafeln leisten, ist ungemein wichtig und muss honoriert werden. Doch sie kann niemals ausreichen. Die Tafeln wissen auch selbst, dass es längst Zeit ist für eine grundsätzliche Debatte über die Aufgaben eines Sozialstaats. Die Schlangen vor den Ausgabestellen sind keine Erfolgsgeschichte des Modells Tafel, sondern Ausdruck sozialpolitischer Versäumnisse der letzten Regierungen. Die Arbeit, die die tausenden Ehren- und Hauptamtlichen bei den Tafeln leisten, ist ungemein wichtig und muss honoriert werden. Doch sie kann niemals ausreichen. Die Tafeln wissen auch selbst, dass es längst Zeit ist für eine grundsätzliche Debatte über die Aufgaben eines Sozialstaats. Die Schlangen vor den Ausgabestellen sind keine Erfolgsgeschichte des Modells Tafel, sondern Ausdruck sozialpolitischer Versäumnisse der letzten Regierungen. Das Engagement der Tafel-Helferinnen und -Helfer lindert Symptome, kann aber die Ursache des Problems nicht beheben: die Tatsache, dass die Einkommen von Millionen von Menschen nicht ausreichen, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, ist staatliche Pflicht und Verantwortung. Zu den Grundrechten angemessener materieller Grundlagen und einer ausreichenden, gesunden Ernährung hat sich Deutschland völkerrechtlich bindend verpflichtet. Die Frage, ob die Bundesregierung diesem Grundsatz nachkommt, wurde in einigen Studien untersucht. Die allermeisten von ihnen kommen zu einer ganz klaren Antwort: nein. (…) Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zählt in Deutschland über drei Millionen Menschen, die allein von materieller Ernährungsarmut betroffen sind. (…) Dieses punktuelle Almosenwesen zahlt sich also aus – für Unternehmen und politische Parteien, die etwas gute PR nötig haben. Das muss aufhören. Jede und jeder Tafel-Mitarbeitende sollte beim Überreichen von Lebensmitteln den Menschen deutlich sagen, dass das, was gerade stattfindet, Staatsversagen ist. Dass eine ausreichende und gesunde Ernährung ihnen eigentlich als Grundrecht zusteht . Auch wenn sie das nicht wollten, sind Tafeln und Co. zum Trostpflaster einer fehlgeschlagenen Politik geworden. Das ist ein Skandal für unsere Gesellschaft.“ Artikel von Silvia Monetti vom 24. April 2024 in Jacobin.de