Der Paritätische Armutsbericht 2022: “Zwischen Pandemie und Inflation” ist die Armutsquote auf 16,6 Prozent gestiegen
Dossier
„Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage und appelliert an die Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei den fürsorgerischen Maßnahmen ansetzt: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten…“ Pressemitteilung des Paritätischen vom 30 Juni 2022 – siehe mehr daraus und auch andere dazu:
- Aktualisierter Armutsbericht 2022: Armut in Deutschland erreicht neuen Höchststand
„… Laut dem aktuellen Armutsbericht 2022 des Paritätischen Gesamtverbandes hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. (…) Rund 14,1 Millionen Menschen in Deutschland müssen zu den von Armut betroffenen Menschen gezählt werden, heißt es im aktualisiertem Armutsbericht 2022. Das sind rund 840.000 mehr als vor der Corona-Pandemie. Angesichts der aktualisierten Zahlen und der anhaltenden Inflation rechnet der Sozialverband mit einer weiteren Verschärfung der Situation. (…) In Deutschland gibt es laut Armutsbericht auch regionale Unterschiede. Vor allem diese Bundesländer weisen hohe Armutsquoten auf: Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Schlusslicht Bremen mit einer Armutsquote von 28,2 Prozent. Ein besonderer Brennpunkt der Armut ist nach wie vor das Ruhrgebiet. Mit rund 5,8 Millionen Menschen ist es der größte Ballungsraum Deutschlands. Mehr als jeder fünfte Einwohner des Ruhrgebiets lebt in Armut. Im Bundesländervergleich läge das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 22,1 Prozent nur knapp vor Bremen auf dem vorletzten Platz. (…) Die Studie zeigt einen ungewöhnlichen Anstieg der Armut bei Erwerbstätigen, insbesondere bei Selbständigen, die erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen mussten. Hier stieg die Quote von 9 auf 13 Prozent. Auch bei Rentnern (18,2 Prozent) sowie bei Kindern und Jugendlichen (21,3 Prozent) sind Armutsquoten zu verzeichnen. Der Paritätische Gesamtverband fordert daher die Bundesregierung auf, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei der Sozialhilfe ansetzt. Bürgergeld, Sozialhilfe, Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sollten bedarfsgerecht erhöht und ausgeweitet werden, “um eine zielgenaue und wirksame Unterstützung einkommensschwacher Haushalte zu gewährleisten”. “Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie”, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands…“ Beitrag von Jan Heinemann vom 10. März 2023 bei gegen-hartz.de- Weitere Details, inkl. Grafiken und Tabellen, enthält die 34-seitige aktualisierte 2. Auflage des Paritätischen Armutsberichts vom März 2023
- Schuldneratlas 2022: Im Winter droht die Schuldenfalle
„… Die Zahl der überschuldeten Menschen in Deutschland ist in diesem Jahr zurückgegangen – doch die Entwicklung ist trügerisch, heißt es von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform. Steigende Preise für Energie und Lebensmittel werden die Situation voraussichtlich bald spürbar verschlechtern. Am Dienstag hatte Creditreform den „Schuldneratlas Deutschland 2022“ vorgestellt. Demnach gab es in der Bundesrepublik „nur“ noch knapp 5,9 Millionen Menschen, deren Gesamtausgaben die Einnahmen übertreffen. Das sind knapp 4,4 Prozent oder 274.000 weniger als im vergangenen Jahr. Konkret bedeutet Überschuldung: Eine Person kann ihre Konsum- und Baukredite sowie andere Verbindlichkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht begleichen. Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform warnt: „Die guten Zahlen sind leider trügerisch“. Seit Beginn der Coronapandemie hätten die Menschen weniger Geld ausgegeben und die staatlichen Hilfsprogramme hätten viele Verbraucher geschützt. Dadurch sei der Rückgang der Überschuldungsfälle zu erklären. Doch die Trendumkehr ist bereits absehbar. Hantzsch erklärte: „Der Rückgang überschuldeter Personen verlangsamt sich jedoch bereits. Die wahren Belastungen werden die anhaltend hohe Inflation und insbesondere die ansteigenden Energiekosten sein, die noch längst nicht vollständig beim Verbraucher angekommen sind.“ Die Folgen der Preissteigerungen würden sich erst verzögert und mit Langzeitwirkung bei der Überschuldung bemerkbar machen…“ Beitrag von Bernd Müller vom 18. November 2022 bei Telepolis - Destatis: Relatives Armutsrisiko in Deutschland 2021 bei 15,8 % – Butterwegge: „Die Zahlen stellen die Armut eher verharmlosend dar“
- Relatives Armutsrisiko in Deutschland 2021 bei 15,8 %
„Rund 13,0 Millionen Menschen waren 2021 in Deutschland armutsgefährdet. Das entspricht 15,8 % der Bevölkerung Deutschlands. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) anhand von Erstergebnissen der Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) 2021 mitteilt, lag damit der Anteil der armutsgefährdeten Personen in der Bevölkerung im Vergleich zum Vorjahr auf einem vergleichbaren Niveau. Im Jahr 2020 waren es mit 13,2 Millionen Menschen 16,1 % der Bevölkerung. (…) Insgesamt waren 16,5 % der Frauen, aber nur 15,1 % der Männer im Jahr 2021 von Armut bedroht. Für Personen zwischen 18 und 64 Jahren war die Armutsgefährdungsquote bei den Frauen mit 15,0 % zwar leicht niedriger als der Bundesdurchschnitt, jedoch leicht höher als die Armutsgefährdungsquote der Männer dieser Altersklasse. Bei den Frauen ab 65 Jahren fiel das Armutsgefährdungsrisiko im Jahr 2021 mit 21,0 % deutlich höher aus als bei den Männern derselben Altersklasse mit 17,4 %. Die geringeren Alterseinkommen von Frauen im Vergleich zu Männern sind beispielsweise auf unterbrochene Erwerbsbiografien und damit geringere Rentenansprüche zurückzuführen. Die Armutsgefährdungsquote von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren lag bei 16,2 %.
Untergliedert nach Haushaltstypen sind erheblich mehr Personen aus Alleinerziehendenhaushalten sowie Alleinlebende von Armut bedroht als im Bundesdurchschnitt. Im Jahr 2021 war mehr als ein Viertel der Personen aus Alleinerziehendenhaushalten (26,6 %) armutsgefährdet. Bei den Alleinlebenden waren es 26,8 %. Für Personen in Haushalten mit zwei Erwachsenen und einem Kind (9,0 %) beziehungsweise mit zwei Kindern (11,4 %) sowie in Haushalten mit zwei Erwachsenen ohne Kind (11,5 %) lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2021 unter dem Bundesdurchschnitt. Dagegen hatten Personen in Haushalten von zwei Erwachsenen mit drei und mehr Kindern mit 23,6 % eine deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegende Armutsgefährdungsquote…“ Pressemitteilung vom 4. August 2022 – Erwerbslose sowieso. Siehe dazu: - Christoph Butterwegge über Sozialstatistik: „Armut wird stark verharmlost“
„Die offiziellen Zahlen des statistischen Bundesamts seien geschönt, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Von der Politik fordert er höhere Entlastungen für Arme. (…) Die Zahlen stellen die Armut eher verharmlosend dar. So wird nur die relative Einkommensarmut berücksichtigt und nicht die absolute Armut. Besonders finanzschwache Gruppen sind in der Statistik gar nicht enthalten, denn es geht bloß um Armut im Haushaltskontext. Obdachlose oder Menschen, die in Notunterkünften leben, bleiben zum Beispiel außen vor. Anhand der vorliegenden Zahlen sollen 13 Millionen Menschen in Deutschland, also 15,8 Prozent der Bevölkerung, im Jahr 2020 armutsgefährdet gewesen sein, auf die sich die Erhebung bezieht, das heißt 200.000 Menschen weniger als vor der Pandemie. (…) Mein größter Kritikpunkt ist, dass der Reichtum in Deutschland nicht erhoben wird. Man sieht in den Zahlen nicht die soziale Ungleichheit. Gerade in der Pandemie hat diese sich aber verschärft. Der auf mehreren Ebenen zu beobachtende Polarisierungseffekt wurde von den Finanzhilfen des Staates verstärkt und nicht abgemildert. Die Armut wurde durch kleine Einmalzahlungen kaum gelindert, aber die großen Unternehmen und ihre Eigentümer sind zum Beispiel durch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro sehr großzügig bedacht geworden. Ohne unnötig dramatisieren zu wollen, stelle ich fest: Unsere Gesellschaft fällt stärker auseinander.
[Wird die soziale Ungleichheit in den Daten des Statistischen Bundesamts sichtbar?]
Nein, diese Polarisierung wird in doppelter Hinsicht nicht abgebildet. Erstens, weil auf den Reichtum gar nicht erst geguckt wird, und zweitens wird die Armut stark verharmlost. Denn Arme können sich für ihr Geld immer weniger kaufen. Die Inflationsrate lag auf dem Höhepunkt der Pandemie zum Jahreswechsel bei über 5 Prozent. Zum 1. Januar wurde der früher „Regelsatz“ genannte Regelbedarf für Alleinstehende aber nur um weniger als 0,7 Prozent erhöht. Auch bei den Kindern und Jugendlichen erreichte die Anpassung nicht einmal 1 Prozent. Gerade die Ärmsten unter den Armen wurden somit noch ärmer gemacht…“ Interview von Anne Frieda Müller vom 4.8.2022 in der taz online
- Relatives Armutsrisiko in Deutschland 2021 bei 15,8 %
- Weiter heißt es in der Pressemitteilung des Paritätischen vom 30 Juni 2022 : „… “Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie”, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Während 2020 noch die verschiedenen Schutzschilde und Sofortmaßnahmen der Bundesregierung und der Länder dafür sorgten, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit nur relativ moderat anstieg, seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie 2021 offenbar voll auf die Armutsentwicklung durchgeschlagen, so die Ergebnisse der Studie. Auffallend sei ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere Selbständiger (von 9 auf 13,1 Prozent), die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten. Armutshöchststände verzeichnen auch Rentner*innen (17,9 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche (20,8 Prozent). (…) Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert insbesondere das jüngste Entlastungspaket als ungerecht und unzureichend. (…) Der Paritätische fordert umgehend ein neues Maßnahmenpaket, das bei den fürsorgerischen Leistungen ansetzen müsse, konkret den Regelsätzen in der Grundsicherung, bei Wohngeld und BAföG…“
- Dort auch eine Galerie zentraler Ergebnisse sowie der Stimmen Armutsbetroffener und diverse Links, u.a. zum kompletten 32-seitigen Paritätischen Armutsbericht 2022
- VdK-Präsidentin: „Drittes Entlastungspaket muss kommen“
„… „Das Armutsrisiko steigt rasant, die Bundesregierung muss daher endlich zielgerichtet gegensteuern. Der Bericht des Paritätischen bestätigt, was der Sozialverband VdK schon lange vorhergesagt hat: Die negativen Folgen von Corona wirken lange nach. Die Lage spitzt sich durch explodierende Energiepreise und die hohe Inflationsrate weiter zu. Die Verbraucherpreise lagen um 7,6 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Viele Menschen wissen nicht, wie sie die steigenden Kosten bezahlen sollen, ihnen drohen Gas- und Stromsperren. Wir brauchen daher unverzüglich ein drittes Entlastungspaket für alle, die bisher von der Politik vergessen wurden: Rentnerinnen und Rentner, Bezieher von Kranken-, Übergangs- und Elterngeld sowie pflegende Angehörige. Auch viele Solo-Selbstständige sind in Not, da sie während der Pandemie ihre Altersvorsorge aufbrauchen oder sich verschulden mussten. Ihre Existenz ist wegen der Inflation gefährdet. Die Hilfen müssen darum nicht nur schnell kommen, sondern auch zielgerichtet und unkompliziert sein. Die ohnehin knapp bemessenen Regelsätze für Hartz IV und Grundsicherung im Alter müssen zudem an die realen Kosten für Lebensmittel und Energie angepasst werden. Sonst werden die Empfänger von Grundsicherung im Alter und von Hartz IV immer weiter abgehängt. Für die bevorstehende Heizperiode und die nächste Corona-Welle müssen die Regelsätze unbedingt angehoben und die Heizkosten im Wohngeld übernommen werden.“ VdK-Pressemitteilung vom 30. Juni 2022
Siehe zum Hintergrund unser Dossier Hierarchie der Not. Wer unten steht, leidet mehr: Die Corona-Krise verdeutlicht und verschärft die soziale Ungleichheit – dort auch der Armutsbericht 2021