Wie stärker werden? Bessere Tarifarbeit durch Tarifleitlinien
Artikel von Günter Busch*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 10/2016
Die Streikkonferenzen in Stuttgart, Hannover und jetzt in Frankfurt haben ein Ziel und eine vorrangige Methode. Diese von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit einer Reihe von gewerkschaftlichen Gliederungen der IGM, GEW, NGG und ver.di durchgeführten Tagungen wollen zu einer Erneuerung der gewerkschaftlichen Arbeit von ›unten‹ beitragen und zu einer offensiveren, basisnäheren und kämpferischen Tarifarbeit führen. Im Mittelpunkt stehen dabei Streiks und andere kollektive Aktionsformen. Die übliche und eher ›normale‹, oft unspektakuläre, meist auch kontroverse Kompromissfindung ohne öffentliche Aufmerksamkeit und ohne betriebliche Mobilisierung hat kein Forum zu ihrer Verbesserung. Sie ist das Geschäft der sogenannten Tarifexperten und des gewerkschaftlichen Apparates.
Methode bei den Streikkonferenzen ist in erster Linie das Weitergeben von guten, möglichst kämpferischen und erfolgreichen Beispielen durch gemeinsamen Erfahrungsaustausch in den Arbeitsgruppen. Tarifniederlagen – auch davon gibt es ja genug – werden nicht so gern thematisiert. Dabei könnte das Lernen aus Niederlagen ebenso weiterführen wie die Erfolge.
Aber das soll hier nicht das Thema sein. Vielmehr geht es um die begrenzte Reichweite von best practice-Beispielen für eine offensive Tarifarbeit der Gewerkschaften insgesamt. Es geht um mehr als um den guten Willen aller Beteiligten. Es müssen eingefahrene Gleise verlassen, institutionelle Blockaden überwunden und strukturelle Änderungen vorgenommen werden. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um die Verallgemeinerung der vielen guten Beispiele und um die Bedingungen, die eine solche Verallgemeinerung möglich machen bzw. behindern.
Ein solcher Versuch der Übersetzung in die alltägliche, ganz normale Tarifarbeit sind die »Leitlinien des Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen« (FB 3) in ver.di zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Tarifauseinandersetzungen. Der Entwurf dieser Leitlinien – Titel: »In Tarifauseinandersetzungen stärker werden« – wird gerade in den ehrenamtlichen Fachbereichsgremien auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene diskutiert und soll nach Einarbeitung der Diskussionsergebnisse noch im Oktober vom Bundesfachbereichsvorstand beschlossen werden.
Nun verändern Beschlüsse allein die Wirklichkeit noch nicht. Nach dem Beschluss muss also umgesetzt werden. Erläuterungen, Basismaterialien und Zugriff auf bereits gemachte Erfahrungen und gute Beispiele sollen die Implementierung in der Praxis erleichtern. Entscheidend ist dann eine Reihe von Einführungsworkshops, in denen die veränderte Tarifarbeit konkret geplant und verabredet wird.
Hintergrund der Tarifleitlinien ist eine veränderte Tarifrealität in den Branchen Gesundheit und Soziales (s.u.), aber auch und nicht zuletzt die Organisationsreform der Gewerkschaft ver.di »Perspektive ver.di wächst« (vormals: »Perspektive 2015«). Was sich anhört wie trockener Stoff für Experten und nach mehr Bürokratie riecht, kann ein großer Schritt zu einer besseren Gewerkschaftsarbeit sein. Ziel ist vorrangig eine Umkehrung der Mitgliederentwicklung hin zu einer wachsenden Organisation, die damit stärker und aktiver handeln kann. Spätestens seit den entsprechenden Arbeiten von Klaus Dörre wissen wir um die organisatorische Machtressource einer mitgliederstarken und kämpferischen Gewerkschaft. Gute Tarifarbeit ohne Mitglieder geht nicht! Da Tarifergebnisse auch immer die zeitlich befristete Festschreibung eines Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit sind, kann und muss dieses Kräfteverhältnis auch durch eine bessere Form der Interessenvertretung in den Gewerkschaften zu Gunsten der Arbeit verändert werden. Es ist die Verantwortung einer Gewerkschaft, ein mögliches Kräfteverhältnis auch durchzusetzen.
In ver.di soll dies erreicht werden durch eine organisatorische Trennung von individueller und kollektiver Mitgliederbetreuung sowie durch eine bessere Aufstellung im Bereich der kollektiven Mitgliederarbeit. Die erste Maßnahme soll zusätzliche Ressourcen für die Gewerkschaftsarbeit in den Betrieben und in der Tarifarbeit freimachen, die zweite Maßnahme soll die kollektive Mitgliederarbeit selbst grundlegend verbessern.
Mehr Mittel und Personal, das sich ausschließlich um die gemeinsamen, die kollektiven Belange von Mitgliedern und Beschäftigten kümmern kann, ist zwar an sich schon ein Meilenstein, reicht aber nicht aus, um auf die stark veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt angemessen zu reagieren.
Am Beispiel der gewerkschaftlichen Vertretung im Sektor der Dienstleistung und Daseinsvorsorge, besonders im Bereich Gesundheit und Soziales, wird diese Veränderung offensichtlich: Die Tariflandschaft hat sich hier stark zersplittert. Mehr als 3.000 mit ver.di abgeschlossene Tarifverträge regeln die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten in Krankenhäusern, der Altenpflege, in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Behindertenhilfe. Diese Vielzahl tariflicher Regelungen ist eine Folge der seit den 90er Jahren in der Branche einsetzenden Politik der Deregulierung und Privatisierung. Der Siegeszug des Neoliberalismus schafft hier eine Abkopplung der Löhne und Gehälter vom industriellen Bereich und spart damit den Unternehmen zusätzliche Lohnnebenkosten. Und in einem Akt der inneren Landnahme werden diese Bereiche der Daseinsvorsorge selbst zur Sphäre anlagesuchenden Kapitals.
Dies führte zur Erosion der bis dahin auch im Gesundheits- und Sozialwesen unmittelbar bzw. mittelbar geltenden Flächentarifverträge, namentlich des Bundesangestelltentarifvertrags (BAT) und des Bundesmanteltarifvertrags für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMTG). Austritte aus Arbeitgeberverbänden, Zergliederung der Kliniken und Einrichtungen durch Outsourcing und Fremdvergaben haben dazu geführt, dass immer mehr Beschäftigte ihre bis dahin bestehende Tarifbindung verloren haben. Kostendruck, Wettbewerb und Kommerzialisierung führten und führen zu einem extremen Druck auf die Personalkosten. Arbeitsverdichtung und niedrigere Löhne waren und sind vielfach immer noch die Folgen.
Zunächst die ÖTV, später auch ver.di hatten dieser Entwicklung weder analytisch noch in der gewerkschaftspolitischen Ausrichtung etwas entgegenzusetzen. Dies hat sich inzwischen weitgehend verändert. Allein in den Jahren 2011-2014 sind im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen insgesamt 783 Tarifverhandlungen begonnen und 651 Tarifverträge neu abgeschlossen worden. Um diese durchzusetzen wurden 171 Streikanträge gestellt. 102 Streiks gab es dann tatsächlich. Mittlerweile sind an ziemlich jedem Arbeitstag irgendwo in Deutschland Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens im Streik. Die sogenannte bedingungsgebundene Tarifarbeit und neue Streikformen wurden hier entwickelt.
Aus diesen vielen Einzelerfahrungen heraus sollen nun die Leitlinien gemeinsame Orientierungen für die gesamte Tarifarbeit geben. Adressat ist nicht nur der Apparat, gemeint sind alle in der Tarifarbeit tätigen Haupt- und Ehrenamtlichen.
Gemeinsame Standards sollen z.B. sein:
- Eine Tarifauseinandersetzung besteht aus mehreren Phasen: Aufbau, Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung
- Jede Phase wird strategisch geplant
- Der Aufbau betrieblicher Aktivenstrukturen ist Kernaufgabe und erzwingt eine Abkehr von gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik (»Wir machen das schon für euch«)
- Mehr Stärke durch mehr Mitglieder zieht sich durch alle Phasen, das soll schließlich zu einer
- Offensiven Tarifarbeit führen mit insgesamt besseren Tarifergebnissen.
Die Tarifleitlinien unterscheiden dabei zwischen Mindeststandards – was unbedingt gemacht werden muss – und sonstigen Handlungs- und Planungsvorschlägen und einsetzbaren Werkzeugen.
Eine Umsteuerung in der Tarifarbeit kann nur gelingen, wenn institutionelle und organisatorische Hindernisse erkannt und bearbeitet werden: Die neue Tarifarbeit ist schlicht viel arbeitsintensiver. Natürlich ist es einfacher, zum Kündigungstermin die Tarifkommission einzuladen, die die Kündigung und gleichzeitig die Forderung beschließt. Dann Verhandlungsaufforderung, zwei bis drei Verhandlungsrunden, dann Abschluss und Bekanntmachung des Tarifergebnisses. Planung, Phasenstruktur und ständige parallele Öffentlichkeitsarbeit der Leitlinien erfordern dagegen ein zeitlich intensiveres Engagement.
Bei der neuen Tarifarbeit muss auch gesagt werden, was nicht gemacht werden soll:
- Tarifarbeit in Betrieben und Unternehmen, in denen kein zufriedenstellender Abschluss (z.B. wegen unzureichenden Refinanzierung) erreichbar ist.
- Tarifarbeit in Betrieben und Unternehmen, in denen nur wenige Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert sind und daher sowohl breiteres Interesse als auch Durchsetzungsfähigkeit nicht gegeben sind.
Noch immer ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gute Tarifergebnisse quasi von selbst durch bloße Mitgliedschaft ergeben. Die Gewerkschaft wird als Dienstleister verstanden, dessen Dienste man wie beim ADAC durch Beitritt erwirbt. Treten die Leistungen nicht wie gewünscht ein, tritt man wieder aus. Eigene Solidarerfahrungen wie Streiks und kollektive Aktionen, die eine solche Haltung durchbrechen könnten, gibt es auch nur bei einem Teil der Gewerkschaftsmitglieder. Und ist nicht auch die gesetzliche betriebliche Interessenvertretung, sind nicht Betriebsrat, Personalrat und die in kirchlichen Einrichtungen übliche Mitarbeitervertretung die institutionalisierte Form einer Stellvertretung, bei der man durch Stimmabgabe alle paar Jahre Kolleginnen und Kollegen beauftragt, die eigenen betrieblichen Interessen gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten?
Anstatt diesem Waren- und Dienstleistungscharakter gewerkschaftlicher Interessenvertretung vom gewerkschaftlichen Apparat her auch noch entgegenzukommen, muss er ständig neu durchbrochen werden. Gewerkschaftsarbeit ist soziale Beziehungsarbeit, ist direkte Kommunikation, ist ständig neu ein sozialer Lernprozess. Das gilt ganz besonders für die Tarifarbeit.
Die neue Tarifarbeit in der Branche Gesundheit und Soziales ist immer auch politisch. Gehälter und Personaleinsatz werden durch politisch bestimmte Umverteilungssysteme finanziert. Sozialversicherungen und Steuern sind ihre Quellen.
Gelingt es, durch eine offensivere Tarifarbeit den Zielen nach mehr Personal in Krankenhäusern (162.000 Stellen fehlen) und einer besseren Bezahlung insbesondere der Pflegekräfte (»Pflege 3.000« = Mindestgehalt für alle Pflegekräfte) näher zu kommen, dann wird es richtig teuer. Zusätzliche Milliarden müssten über Krankenkassenbeiträge und/oder höhere Steuern zusätzlich ins System fließen. Nach bestehender Rechtslage müssten wegen der Aufhebung der paritätischen Finanzierung in der Gesundheitsversorgung die abhängig Beschäftigten über höhere Zusatzbeiträge diese zusätzlichen Kosten allein finanzieren. Das ist politisch und in der Öffentlichkeit kaum durchzuhalten.
Die offene Flanke der Refinanzierung war schon in der Tarifrunde Sozial- und Erziehungsdienst eine Grenze des Tariferfolgs. Eine offensive Tarifarbeit und eine offensive Politik für den Wert Sozialer Arbeit müssen ineinandergreifen. Die Forderungen liegen auf dem Tisch: Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung als ein erster Schritt, dann die Bürgerversicherung, schließlich die Aufhebung der Schuldengrenze und ein Ausgleich der höheren Staatsdefizite durch Vermögenssteuer und höheren Spitzensteuersatz. Programmatisch will ver.di das auch alles. Das politische Mandat der Gewerkschaften darf aber vor der eigenen Tarifarbeit nicht Halt machen.
Die Streikkonferenzen zeigen uns, dass eine offensive Tarifarbeit punktuell und erfolgreich möglich ist. Es kommt darauf an, eine solche Tarifarbeit strategisch gewollt, umfassend, gut vorbereitet und planvoll zur Leitlinie der gesamten Tarifarbeit zu machen.
* Günter Busch ist ehemaliges Mitglied der Landesbezirksleitung ver.di Baden-Württemberg und Landesfachbereichsleiter Gesundheit und Soziales.
- Siehe im LabourNet Germany die Konferenzen “Erneuerung durch Streik”