Wer andern eine Grube … Oder: Wer fällt der Tarifeinheit zum Opfer?
Artikel von Andreas Bachmann*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/2015
Bei der Auseinandersetzung um die gesetzliche Tarifeinheit wird oft so getan, als ob es um ein abstraktes Ordnungsprinzip des rheinischen Kapitalismus ginge. Die Story ist, dass Sozialstaat, Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie vor dem Egoismus der außer Rand und Band geratenen Spezialistengewerkschaften geschützt werden müssen. In der linken Debatte wiederum wird stark auf den geplanten Angriff von Kabinett und Kapital auf das Streikrecht als solches abgestellt. Ich möchte den Blick auf einen anderen Punkt lenken: auf die schwierigen Beziehungen zwischen Gewerkschaften, auf eine neue Tariflandschaft vor dem Hintergrund moderner Unternehmensformen und -strategien, wo sich Gewerkschaften als Konkurrenten begegnen.
Bei dem Eingriff der großen Koalition in das Streikrecht spielt die Bundesregierung über Bande. Weder ist ein Sonderrecht für Arbeitskämpfe im Bereich der Daseinsvorsorge noch sind unmittelbare Regelungen für Arbeitskämpfe vorgesehen. Nach den Vorstellungen der Bundesregierung kann ein Tarifvertrag nur dann Anwendung im Betrieb finden, wenn die vertragsschließende Gewerkschaft dort die Mehrheit der Mitglieder hat. Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft können – mal abgesehen von den praktischen Problemen, Minderheit und Mehrheit sicher festzustellen – keine Anwendung in diesem Betrieb finden. Ein Arbeitskampf für einen Tarifvertrag, der das Risiko in sich trägt, nicht anwendbar zu sein, wird – so das Kalkül der Bundesregierung – unter dem Risiko stehen, dass er von Arbeitsgerichten als unverhältnismäßig untersagt wird.
2010 hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) wie folgt positioniert: »Die Verdrängung eines von der Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrages nach dem Grundsatz der Tarifeinheit stellt sowohl einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit der Tarif schließenden Gewerkschaft als auch die individuelle Koalitionsfreiheit der an diesen Tarifvertrag gebundenen Gewerkschaftsmitglieder dar.« (BAG 27.01.2010 – 4 AZR 549/08 (A) Rn. 77)
Damit ist ein zentrales Problem beschrieben und zugleich erklärt, warum die große Koalition mit dem Vorhaben, die Tarifeinheit zulasten einer Tarifpartei herzustellen, in ihrem ersten Anlauf, d.h. in dieser Form und in diesem Rechtsdesign, beim Bundesverfassungsgericht höchstwahrscheinlich erst einmal scheitern wird. Gleichwohl ist damit eine Maschinerie in Gang gesetzt, durch die das Risiko für eine gesetzliche Regulierung und Einschränkung des Streikrechts erhöht wird. In der zu erwartenden juristischen Auseinandersetzung (Verfassungsbeschwerden von Gewerkschaften sind bereits angekündigt) um das Gesetz zur Tarifeinheit muss damit gerechnet werden, dass von den Verfassungsrichtern skizziert wird, wie denn eine gesetzliche Regulierung des Streikrechts aussehen könnte, die die verfassungsrechtlichen Grenzen und Möglichkeiten bis an das Äußerste ausreizt. Der zweite Aufschlag des Gesetzgebers wird daher gefährlicher sein.
Die BAG-Entscheidung von 2010 hat seinerzeit den letzten Anstoß für die gemeinsame Initiative von BDA und DGB zu einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit gegeben, die damals mehr oder weniger von allen Einzelgewerkschaften gefordert und mitgetragen wurde.
Insofern war es ein schwerer Fehler der DGB-Gewerkschaften, diese überflüssige und schädliche Veranstaltung mit befördert zu haben. So schlecht sind die Gewerkschaften mit der richterrechtlichen Begleitung des Streikrechts nicht gefahren. Es tröstet nur wenig, dass zwischenzeitlich drei DGB-Gewerkschaften ihren Blick geschärft haben und sich grundsätzlich ablehnend zum Gesetzentwurf der Großen Koalition verhalten (nämlich ver.di, NGG und GEW).
Unverständlich ist der Impuls der DGB-Gewerkschaften für die gesetzliche Herstellung der Tarifeinheit auch deshalb, weil die IGM als eine der wichtigen Unterstützerinnen der gesetzlichen Regelung die 2010er BAG-Entscheidung zur Tarifeinheit, die nun immer wieder als Auslöser für die aktuellen gesetzgeberischen Aktivitäten bemüht wird, noch vor wenigen Jahren im Kern positiv bewertet hatte (so z.B. IGM-Justiziar Thomas Klebe am 26. August 2010: »Tarifeinheit durch Mehrheitsprinzip«, online unter: www.igmetall.de/internet/tarifeinheit-im-detail-6576.htm ).
Eine Unterbietungskonkurrenz durch einen spezielleren gelben Haustarifvertrag zulasten des IGM-Flächentarifvertrages – damit hatte die IGM z.B. bei Jenoptik schlechte Erfahrungen gemacht – ist durch die Feststellung und Bestätigung der Tarifpluralität in der o.g. BAG-Entscheidung in der Tat ausgeschlossen.
Wir sollten uns bei unserer Kritik an der Rolle der IGM in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht von ihrem staatspolitischen und sozialpartnerschaftlichen Gestus irritieren lassen, weil dieser Gestus nicht die letzte Erklärung liefert, warum die größte Gewerkschaft im DGB in dieser Auseinandersetzung so agiert. Es sind auch spezifische Interessen der IG Metall, sich organisationspolitisch das Instrument der Tarifeinheit (»Mehrheitsprinzip« im Betrieb) zunutze zu machen, die bei der Unterstützung des Gesetzesvorhabens eine Rolle spielen.
Grundrecht der Koalitionsfreiheit für alle Koalitionen?
Verfassungspolitisch schmerzhaft ist der instrumentelle und selektive Umgang mit Grundrechten, so wie er sich im Agieren der gewerkschaftlichen Unterstützer der gesetzlichen Tarifeinheit darstellt. Festzuhalten ist: Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gilt selbstverständlich auch für Organisationen und Koalitionen, deren berufsgruppenspezifische Tarifpolitik kritikwürdig ist.
Ein anderes, weniger instrumentelles Verständnis dieses Grundrechts findet sich in der Kritik von NGG, GEW und – am Ende einer längeren internen Kontroverse – auch von ver.di an den Gesetzesplänen von SPD und Union zur Tarifeinheit. Es schadet auch nicht, dass es hier wohl nicht nur um ein Mehr an verfassungspolitischer Reife geht, die diese drei Gewerkschaften motiviert. Es geht auch um die schlichte Erkenntnis, dass nicht nur Berufsgewerkschaften außerhalb des DGB, sondern je nach Konstellation auch DGB-Gewerkschaften, insbesondere ver.di, ihr Streikrecht und ihre tarifpolitische Souveränität bei einer Anwendung der Mehrheitsregel in den Betrieben verlieren können.
Die Mehrheitsregel hat noch andere praktische Nachteile: Auch gelbe Organisationen können sich die Mehrheitsregel zunutze machen, vor allem dann, wenn der Arbeitgeber durch Vorteilsregelungen im Tarifvertrag für Gewerkschaftsmitglieder nachhilft. Es ist im Gesetzentwurf nur von der Mitgliedermehrheit und nicht von der Mächtigkeit der Organisation die Rede. Tarifpolitik unter dem Schirm der Mehrheitsregel befördert die Konkurrenz unter den Gewerkschaften aller Couleur und könnte z.B. auch den Marburger Bund motivieren, über die Ärzteschaft hinaus Mitglieder im Gesundheitswesen zu organisieren.
Durch die Organisationsmacht des Unternehmers besteht das Risiko, dass sich Unternehmer die Betriebe so zurechtschneiden, wie es ihnen tarifpolitisch – bezogen auf den jeweils favorisierten Tarifpartner – gerade so passt.
Zentrifugalkräfte in der Tarifpolitik
NGG, GEW und ver.di fordern die Bundesregierung auf, von einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit abzusehen. »Tarifeinheit, so der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, könne nur politisch, nur durch gewerkschaftliches Handeln hergestellt werden. Die drei DGB-Gewerkschaften bekennen sich zu dem Grundsatz, dass sie die Solidarität aller Beschäftigtengruppen organisieren nach dem Prinzip ›Ein Betrieb, ein Tarifvertrag‹ im Sinne von Flächentarifverträgen« (ver.di-Publik, Nr. 8/2014, S. 3, Hervorhebung A.B.).
Das hier beschworene Primat der Gewerkschaftspolitik bezogen auf das Leitbild der Tarifeinheit und gegen eine gesetzgeberische Gestaltungslösung beschreibt nach meinem Eindruck auch den common sense innerhalb der Gewerkschaftslinken zum Thema der Einheit der Beschäftigten und der zwischengewerkschaftlichen Zusammenarbeit.
Wie das mit der idealisierenden und wenig kritischen Haltung zur GDL eines Teils der Gewerkschaftslinken, die die drei Streikzeitungen »Ja zum GDL-Arbeitskampf« herausgeben haben, zusammenpasst, bedarf einer Erklärung. Natürlich verdienen die Forderungen der GDL zu Einkommen und Arbeitszeit Unterstützung, genauso wie die Regulierungsversuche von Andrea Nahles, die sich aber nicht spezifisch gegen die GDL richten, abgewehrt werden müssen.
Die Auseinandersetzung im DGB um die gesetzliche Tarifeinheit und um die Konflikte zwischen GDL und EVG, insbesondere um die Zuständigkeit für das ganze Zugpersonal, beleuchten die tatsächlichen Konkurrenzbeziehungen zwischen Gewerkschaften. Die Konkurrenz wirkt auch (oder vor allem?) zwischen DGB-Gewerkschaften. Hier tun sich Abgründe auf: riesige Probleme und ungelöste strategische Herausforderungen für Einzelgewerkschaften und DGB. Vor dem Hintergrund dieser tatsächlichen Abgründe ist die Positionsbildung, so wie sie sich in den drei Streikzeitungen »Ja zum GDL-Arbeitskampf« niederschlägt, für mich zu kurz gesprungen.
Wo bleibt die Ansprache von links in Richtung GDL, sich bei allen Schwierigkeiten um eine tarifpolitische Kooperation mit der DGB-Gewerkschaft EVG zu bemühen bzw. diese wiederzubeleben? Diese Ansprache bzw. eine solidarische Kritik an der GDL bleibt deswegen aus, weil ein apodiktisches Urteil über die EVG und ihre Vorläuferorganisation gefällt ist. Jens Berger schreibt in der Streikzeitung Nr. 1, dass »Transnet unter der Ägide Hansen jeglichen moralischen Anspruch, im Namen der Arbeitnehmer zu handeln, verloren hat«. (Jens Berger: »Bahnstreik – ich bin ein GDL-Versteher«, in: Streikzeitung Nr. 1, S. 3)
Wenn alles so einfach wäre. Richtig ist, dass die Vorgängerorganisation der EVG, transnet, durch den Compliancevorfall Norbert Hansen – vom Gewerkschaftsvorsitzenden zum Bahnvorstand – regelrecht traumatisiert wurde und dass die EVG wohl noch am Anfang steht, die Folgen ihrer überschießenden Sozialpartnerschaft aufzuarbeiten. Andererseits ist anzuerkennen, dass die EVG nicht auf den Zug von IGM, DBG und IG BCE aufgesprungen ist, mit Hilfe von Andrea Nahles der jeweiligen Organisationskonkurrenz den Garaus zu machen.
Eine Überhöhung ist es, den GDL-Arbeitskampf als »Befreiungsschlag aus dem Gefangenseins des neo-liberalen Denkens« (Streikzeitung Nr. 3, S. 1) zu bezeichnen.
Die in derselben Zeitung auf Seite 2 positiv beschriebene Option der GDL, dass die GDL sich um den Eisenbahnbetrieb (»Eisenbahnverkehrsunternehmen«) und die EVG sich um die »Infrastruktur« der Eisenbahn(en) kümmern soll, ist nicht hilfreich, wenn es um die politische Initiative für eine einheitliche, ausgleichende und solidarische Betriebs- und Tarifpolitik im Verkehrssektor geht.
Jens Berger meint aber, dass »die GDL keine Rosinenpickerei betreibt, sondern für viele Mitarbeiter durch die Schlagkraft der Lokführer Vorteile verschaffen will« (Streikzeitung Nr. 1, S. 3; Hervorh. A.B.). Die Frage ist, wer gehört alles zu den »vielen« und welche Beschäftigtengruppen mit weniger Streikmacht bei der Bundesbahn und den Bahnen nicht?
Die Idealisierung der GDL hat m.E. viel mit der Tristesse des gewerkschaftlichen Alltags zu tun, wo auch mal ein entschlossener Arbeitskampf einer Berufsgewerkschaft im Deutschen Beamtenbund (DBB) als Projektionsfläche eigener gewünschter Konfliktfähigkeit dienen kann. Die GDL taugt als Leitbild oder ›Benchmark‹ jedoch nicht so recht. In der Praxis tut sich auch die GDL schwer, die Balance zwischen und Berücksichtigung von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen praktisch zu realisieren. Bei der Rostocker Straßenbahn fällt ein von der GDL verantworteter Tarifabschluss auf, der für Lokführer zwei Prozent und für Zugbegleiter nur ein Prozent Entgeltzuwachs vorsieht (Pressemitteilung GDL vom 14. August 2014).
Nötig ist auch ein Blick auf das Verständnis der GDL hinsichtlich der Beziehungen zu anderen Gewerkschaften im Verkehrssektor. Ein Zwischenfall vom August 2014 wird in der linken Diskussion zur und Bezugnahme auf die GDL ausgeblendet. Dort hat der Vorsitzende auf dem GDL-Aktionstag in Fulda am 27. August 14 die Fusion zwischen GDBA und transnet so beschrieben, dass »wenn sich zwei Kranke miteinander ins Bett legen und ein Kind zeugen, von Anfang an etwas Behindertes rauskommt«.
Die Entschuldigung per Pressemitteilung vom 29. August macht die Sache nicht besser, wenn dort erklärt wird, »dass nicht beabsichtigt war, Behinderte zu diskriminieren«. Der Vorsitzende der GDL beschreibt die wahrgenommene eigene Stärke und die Handlungsmacht der anderen Gewerkschaften mit biologistischen Kriterien. Das Grundverständnis, wegen der politischen Notwendigkeit am Ende eine Verständigung mit der DGB-Gewerkschaft erzielen zu müssen, fehlt. In diesem Prozess wird man darüber reden müssen, wie die besondere Streikmacht einer Berufsgewerkschaft über die aktuell besprochenen Zugbegleiter hinaus für alle Beschäftigten bei der Bahn einzubringen ist – aber auch, wie die besondere Rolle der Lokführer zu würdigen ist. Berufspolitisch und in Bezug auf berufsfachliche Fragen der gewerkschaftlichen Betreuung können die DGB-Gewerkschaften bzw. die Fachbereiche in den Einzelgewerkschaften zudem sicher einiges von den Berufsgewerkschaften lernen.
Leitbild Flächentarif oder neuer tarifpolitischer Betriebsbegriff?
Die zunehmenden Konflikte zwischen Gewerkschaften hinsichtlich der Tarifzuständigkeit werden im Augenblick vor allem als eine Konfrontation zwischen Berufsgewerkschaften und diversen DGB-Gewerkschaften wahrgenommen. Hier geht es aber beim genauen Hinsehen nur um drei, bestenfalls vier Berufsgewerkschaften von Relevanz, und nur in einem Fall – der Bundesbahn – hat man sich in einer hässlichen Auseinandersetzung verhakt. Mit viel mehr Wirkung als Brandbeschleuniger und als Zentrifugalkraft wirken die Konflikte zwischen DGB-Gewerkschaften oder auch schon die Fachbereichskonkurrenzen in ver.di. Treiber für diese Entwicklung sind ökonomische Basistrends wie Outsourcing, Privatisierung und Verringerung der Fertigungstiefe, die traditionelle und in Satzungen festgeschriebene Tarifzuständigkeiten durcheinander bringen. Dazu kommt natürlich der ökonomische Druck in den DGB-Gewerkschaften hinsichtlich einer positiven bzw. nicht ganz so negativen Mitgliederbilanz.
Grotesk wird es dann, wenn Organizing-Projekte von DGB-Gewerkschaften sich in Abwerbungen von Mitgliedern aus anderen DGB-Gewerkschaften verkämpfen oder über Organizing Zuständigkeitsgrenzen verändern oder verteidigen wollen – wie z.B. bei Stute Logistics. Konfliktlösungsversuche über Schiedsgerichte im DGB werden auf die Dauer nicht fruchten. Die inhaltlichen Fragen von Tarifstrategie und Tarifzuständigkeit, die sich aus dem ökonomischen Strukturwandel ergeben, können sich nicht formal über den Rekurs auf historische Zuständigkeitsregeln lösen lassen.
ver.di nimmt in der Auseinandersetzung um die gesetzliche Tarifeinheit eine andere Position als z.B. die IG Metall ein. Ich lasse mal offen, ob es bezüglich der demokratischen Reife und des Verantwortungsbewusstseins für Grundrechte relevante Unterschiede zwischen IGM und ver.di gibt. Egal – auf jeden Fall ist ver.di hier auf den richtigen Zug gesprungen.
Es lohnt sich aber, noch einmal genau hinzuschauen: Die berechtigte Zurückweisung von gesetzlichen Eingriffen in die Tarifpluralität, der Hinweis auf das Primat der gewerkschaftspolitischen Praxis für eine Tarifeinheit wird in der ver.di-Argumentation auf »Flächentarifverträge« konzentriert (ver.di-Publik, Nr. 8/2014, S. 3).
An diesem Detail erklären sich einige Differenzen zwischen ver.di und der IGM. Die IGM entwickelt in den letzten Jahren eine tarifpolitische Linie und Praxis, die vertikal entlang der Wertschöpfungskette organisiert und tarifiert. Ich halte diesen Ansatz grundsätzlich für richtig, weil er praktische Konsequenzen aus den Folgen von Outsourcing, Leiharbeit und Werkverträgen zieht. Außerdem hat der vertikale Ansatz unter materiellen Gesichtspunkten – Werthaltigkeit der Haustarife, Arbeitskampffähigkeit – Vorteile gegenüber einer schematischen Subsumtion unter den Flächentarifvertrag. Nicht geringzuschätzen ist dabei der Brückenschlag zwischen Kern- und Randbelegschaften oder zwischen industriellen Kernen und Zulieferern.
Eine Kollision zwischen einem »industriellen« Haustarifvertrag und einem »dienstleistungsbezogenen« Flächentarifvertrag finden wir naturgemäß bei den sogenannten industrienahen Dienstleistungen vor. Unter Anwendung der Mehrheitsmechanik des Tarifeinheitsgesetz der Bundesregierung (»Mehrheit im Betrieb«) wäre der Konflikt rechtlich und praktisch ziemlich schnell und klar zugunsten der IGM geklärt. Bei Auslagerungen aus der Industrie werden in den ausgelagerten »industrienahen Dienstleistungsbetrieben« i.d.R. mehr Mitglieder aus der IGM als aus ver.di vorhanden sein.
Ein Flächentarifvertrag (z.B. Logistik) ist zum einen kein Selbstzweck, zum anderen kann er auch materiell deutlich schlechter als der industrienahe Haustarifvertrag sein. Ein automatischer Vorrang des »Flächentarifvertrages« ist nicht durchzuhalten und auch nicht wünschenswert.
Wahr ist aber auch, dass es den Flächentarif z.B. im Sektor der Logistik insgesamt schwächt, wenn relativ gut organisierte und überdurchschnittlich streikfähige Betriebe nicht mehr im Flächentarifvertrag eingebunden sind. Andererseits sind der subjektive Faktor, die partizipatorischen Elemente und der Grad an Unmittelbarkeit bei »betriebsnaher Tarifpolitik« nicht geringzuschätzen. Da die vertikale Organisierung und Tarifierung von Industriegewerkschaften einige ver.di-Sektoren ins Mark trifft, wäre es ein absolut verständliches Anliegen von ver.di, Haustarife bei industrienahen Dienstleistungen zusammen mit den Industriegewerkschaften zu gestalten. Dann gibt es eben zwei Gewerkschaften im Betrieb, sowohl ver.di-Mitglieder als auch Mitglieder von Industriegewerkschaften, und einen Tarifvertrag oder zwei korrespondierende Tarifverträge. Diese Uneindeutigkeit in der Zuordnung ist keine Schwäche, sondern Stärke.
Die Lernprozesse, die solch einer Praxis vorangehen müssen bzw. diese begleiten, werden durch den Gang zum Kadi oder zum Schiedsgericht in der Regel nicht befördert. Ein Schiedsgericht oder ein ordentliches Gericht wird sich nur auf formale und historische Zuordnungen von Branchen und Gewerkschaften in den jeweiligen Satzungen beziehen (können). Noch doofer ist es, wegen der unübersehbaren Kollateralschäden für das Streikrecht eine überflüssige Eindeutigkeit mittels einer gesetzlichen Regelung von Tarifeinheit herstellen zu wollen.
Inhaltliche Probleme, die schwierige Abwägungen und Entscheidungen im Einzelfall erfordern, sind mit rein prozeduralen Regeln oder chirurgischen gesetzgeberischen Eingriffen nicht zu lösen.
Das Schicksal des Flächentarifs bei mehr betriebsnaher Tarifpolitik
Es geht um eine Neujustierung der Tarifpolitik, bei der die Orientierung am Flächentarifvertrag als abstraktem Leitbild so nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das führt aber zu einem Kooperationsgebot für Einzelgewerkschaften oder, innerhalb des ver.di-Kosmos, zu einem Kooperationsgebot zwischen den Fachbereichen. Der Blick ausschließlich auf die eigene sektorale Mitgliederbilanz führt nicht sehr weit. Im schlimmsten Fall führt er zu einer innergewerkschaftlichen Kannibalisierung oder dazu, dass sich in sehr schwierigen Fällen keine Gewerkschaft mehr verantwortlich fühlt. Mit einem positiven Blick auf vertikale Organisierung muss man sich in der Folge auch manche Spartentarifverträge in ver.di, NGG und IG BAU kritisch anschauen.
Dies alles weitergedacht, stellen sich dann ganz andere Herausforderungen an den innergewerkschaftlichen oder fachbereichsbezogenen Finanzausgleich, ganz zu schweigen von einer notwendigen Stärkung des DGB, der die Mediations- und Moderationsebene für die notwendige Kooperation in der Tarifpolitik liefern müsste. Leider sieht es im Augenblick nicht danach aus, dass IGM und ver.di den DGB stärken möchten. Wenn sich strategisch neue Anforderungen an betriebsnahe Tarifpolitik ergeben, die häufiger zulasten der Flächentarife gehen werden, ergibt sich daraus eine neue Herausforderung für die nationale Ebene der Tarifpolitik.
Gewerkschaftsübergreifende Mindeststandards für Haustarife, die inhaltliche Koordination und Harmonisierung von Tarifarbeit für das gesamte Spektrum von traditionellen, ggfs. sogar bundesweiten Flächentarifverträgen, über Haus- und Konzerntarifverträge bis hin zu partiellen Anerkennungstarifen, stehen dann auf der Tagesordnung einer bunten Welt.
Tarifeinheit wäre dann ein inhaltliches, materielles Thema und keine formale Frage im Sinne von satzungsgemäßer Zuständigkeit oder gar von Kraftproben zwischen Gewerkschaften – endlich.
* Andreas Bachmann ist Redaktionsmitglied und BR einer Versicherung.