Umkämpftes Streikrecht. Das repressive deutsche Streikrecht soll weiter eingeschränkt werden.
Artikel von Jörg Nowak*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/2014
Das viel diskutierte Gesetz zur Tarifeinheit ist Mitte Dezember vorgestellt worden und soll Anfang 2015 verabschiedet werden. Es ist dazu gedacht, Streiks von kleineren Gewerkschaften wie Cockpit bei den Piloten und der GdL bei der Bahn schwieriger zu machen. Dieser erneute Einschnitt in das Streikrecht ist geplant vor dem Hintergrund einschneidender Veränderungen im Transportsektor: Fast alle großen Fluglinien wie die Lufthansa und British Airways sind dabei, Billigfluglinien mit geringeren Löhnen einzuführen. Im Bahnverkehr sind in vielen Ländern scheibchenweise ablaufende Privatisierungen und seit vielen Jahren Lohnkürzungen im Gange. Damit diese Veränderungen nicht zu Blockaden dieser Transportmittel durch streikende Beschäftigte führen, will die Bundesregierung ein neues Gesetz erlassen: Das Gesetz zur Tarifeinheit dient damit unmittelbar der politischen und repressiven Absicherung von Lohndumping in den Verkehrsbetrieben – und das mit Zustimmung der Gewerkschaften IG Metall und IG BCE, deren Mitglieder nicht in den entsprechenden Bereichen arbeiten. Die Arbeit der Industrie hingegen ist in gewissem Maße vom Güterverkehr der Bahn abhängig – ernst zu nehmende Probleme für die Industrie treten jedoch erst nach mehr als vier Tagen Streik auf.
Zusätzlich wird derzeit diskutiert, Streikende zu einem Mindestdienst bei Branchen der Daseinsvorsorge zu verpflichten, da ja »sogar« das streikfreudige Frankreich eine solche Regelung eingeführt habe. Aber wie steht es generell um das Streikrecht in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern? Ich werde dies im Vergleich mit dem gern gewählten Beispiel Frankreich erläutern.
Die Diskussion um den Mindestdienst erweckt den Eindruck, dass Frankreich das restriktivere Streikrecht habe. Das täuscht. In Frankreich sind zwar politische Streiks im Allgemeinen nicht legal. Jedoch werden solche Streiks als legal betrachtet, wenn sie sich gegen wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen der Regierung richten, die Beschäftigte betreffen.
Dieses Streikrecht gibt es in Deutschland nicht, ebenso wenig gelten Generalstreiks in Deutschland als legal, obwohl dies nirgendwo explizit festgehalten wird. Dieser fest in den deutschen Gewerkschaften verankerte Glaube bezieht sich auf gängige Interpretationen der Verbote der Druckerstreiks in den 1950er Jahren – seitdem gelten politische Streiks und Generalstreiks in Deutschland als nicht legal. Auch das generelle Streikverbot für Beamte, das sich in Deutschland laut »herrschender Meinung« aus den Besonderheiten des Beamtenstatus ergibt, gibt es so in Frankreich nicht: Dort gilt nur für Militär, Polizei, Gefängnis- und Gerichtspersonal Streikverbot. Dabei ist zu betonen, dass Beschäftigte auch in Deutschland in dieser Frage mitunter eine andere Auffassung vertreten und sich an Arbeitskämpfen beteiligen, so etwa beim LehrerInnen-Streik in Hessen im November 2009. Das Streikverbot für verbeamtete LehrerInnen wurde dann im September 2011 zunächst vom Verwaltungsgericht Kassel zurückgenommen. Zwei Lehrer, die wegen des Streiks 2009 eine schriftliche Missbilligung erhalten hatten, klagten. Das Land Hessen ging in Berufung, die Verhandlung steht noch aus. In Düsseldorf urteilte ein Verwaltungsgericht ebenfalls im Sinne eines Streikrechts verbeamteter LehrerInnen, dann jedoch wurde das Streikverbot im März 2012 vom Oberverwaltungsgericht Münster bestätigt. In diesem Fall musste eine Lehrerin wegen Teilnahme an einem Streik 1 500 Euro Strafe zahlen. Die Berufungsverfahren durch das Land Hessen und das Land NRW zeigen, dass der Staat als Arbeitgeber das Streikverbot ernst nimmt.
Einmalig dürfte das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland sein, das Streiks in kirchlichen Betrieben verbietet, was die gesamten kirchlichen Sozialdienste betrifft. Dieses feudal-klerikale Erbe wurde zwar durch Streiks von ver.di und eine Regelung des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2012 etwas aufgeweicht, allgemein hat das Streikverbot jedoch für alle Beschäftigten in diesem Bereich weiter Bestand. Dagegen haben Verdi und der Marburger Bund Verfassungsbeschwerde eingelegt. Auch hier steht das Urteil noch aus.
Die Verpflichtung eines Minimaldienstes für Beschäftigte in bestimmten Bereichen gibt es in Frankreich schon seit langer Zeit für die Luftraumüberwachung sowie für Angestellte beim Fernsehen und Radio. Erst 2007 kamen die Bediensteten im öffentlichen Personenverkehr hinzu. Dies war eine Reaktion auf die große Häufigkeit von Streiks in diesem Bereich. Dabei ist zu betonen, dass es in Frankreich in der Privatwirtschaft nur sehr wenige Streiks gibt, daher traf der Minimaldienst für die Bahn eines der wichtigsten Bollwerke der Arbeiterklasse in Frankreich. 2012 wurde der Minimaldienst auf Flughäfen ausgeweitet. Dennoch bleibt das Streikrecht in Frankreich insgesamt viel umfassender als das deutsche Streikrecht, das mit seinen zahlreichen Ausnahmen die feudal-ständische Tradition im deutschen Arbeitsrecht fortführt.
Absurd mutet die Aufregung um die relativ kurzen Streiks bei der Deutschen Bahn an. Obwohl die Bahn privatisiert wurde und man damit überhaupt erst Streiks der Bahn-Angestellten ermöglicht, ihnen aber auch immer schlechtere Bedingungen auferlegt hat, wird sie nach wie vor in der öffentlichen Meinung als Staatsbetrieb betrachtet, dessen Angestellte keine Rechte haben. In der Diskussion um die Bahnstreiks wurde kaum erwähnt, dass die BRD 1973 den UN-Sozialpakt mit dem Recht auf Streik (Artikel 8.4) ratifiziert hat, somit ist das Recht auf Streik ein Grundrecht (s. auch den Artikel von Armin Schuhmacher in dieser Ausgabe). Theoretisch würden sich da vermutlich viele Politiker anschließen, doch wenn dieses Recht praktisch genutzt wird, wird dies als Frechheit der Beschäftigten angesehen.
Mit dem Gesetz zur Tarifeinheit würde vor allem die Koalitionsfreiheit eingeschränkt, die explizit im Grundgesetz verankert ist. Daher gehen viele RechtsexpertInnen davon aus, dass ein solches Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. Kern des Gesetzes ist, dass es in jedem Einzelbetrieb nur einen Tarifvertrag geben soll. Das birgt jede Menge praktische Probleme, die bedacht sein wollen. Die Deutsche Bahn AG besteht wegen diverser Outsourcing-Maßnahmen aus 900 Einzelbetrieben, in denen dann jeweils fest-gestellt werden müsste, welche Gewerkschaft dort die meisten Mitglieder hat. Viel Spaß, Frau Nahles, kann man da nur wünschen. Schließlich ist die Bundesregierung zu 100 Prozent Eigentümerin der Deutschen Bahn, und es geht wie bei den LehrerInnen um einen direkten Konflikt der Arbeitenden mit dem Staat.
Aber auch in anderer Hinsicht kann ein Gesetz zur Tarifeinheit, so es denn Bestand haben sollte, praktisch zu vielen Komplikationen führen. In Ländern wie der Türkei und den USA gibt es die Regel, dass es nur eine Gewerkschaft im Betrieb geben soll, was häufig zu jahrelangen Rechtsstreits darüber führt, welche Gewerkschaft mehr Mitglieder hat – und damit gibt es in einigen Betrieben über lange Zeiträume hinweg gar keine Vertretung der Arbeitenden.
Häufig kündigen Unternehmen auch gezielt Arbeitenden aus ihnen nicht genehmen Gewerkschaften, damit die ihnen wohlgesonnene Gewerkschaft über mehr Mitglieder verfügt – oder es wird gleich mit gefälschten Mitgliederlisten gearbeitet. Dass der Betrieb als stark umkämpftes Terrain durch ein Gesetz befriedet werden kann, entspringt der spezifisch deutschen Sicht auf Sozialpartnerschaft, die von einer Harmonie der Klassen träumt und sie, wenn schon in der Realität nicht erreichbar, gesetzlich verordnen will.
Aus den Erfahrungen der letzten Jahre lässt sich auf jeden Fall lernen, dass das Streikrecht am ehesten in der Praxis, eben durchs Streiken selbst erkämpft werden kann. Aber auch die diversen laufenden Prozesse versprechen noch einige Überraschungen. Die GEW hat angekündigt, das Streikrecht für die verbeamteten Lehrkräfte vor dem Europäischen Gerichtshof einzuklagen – und die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht. Deutschland wird jedes Jahr vom Europarat wegen des Streikrechts ermahnt, da dieses die europäischen Grundrechte verletzt. Während der für viele Gruppen von Arbeitenden ›funktionierenden‹ Sozialpartnerschaft war das eingeschränkte Streikrecht in Westdeutschland Teil eines Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital, der aber auch durch wilde Streiks häufiger durchbrochen wurde. Im heutigen Kontext fortwährender Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung und einer stärker werdenden Bereitschaft, die Arbeit niederzulegen, sind die Pläne zur Verschärfung des deutschen Streikrechts Versuche, neu aufbrechende Klassenauseinandersetzungen durch einen repressiv agierenden Staat einzudämmen.
* Jörg Nowak ist Post-Doc Fellow an der Universität Kassel und forscht aktuell zu Massenstreiks in Indien und Brasilien.