Streiks mit politischem Kern. Jenaer Soziologen analysieren Situation der Gewerkschaften. Staat spielt bei vielen Arbeitskämpfen implizit eine zentrale Rolle. Rückenwind aus dem Osten?

Rezension von Daniel Behruzi, zuerst erschienen in der jungen Welt vom 10.01.2017 – wir danken dem Autor!

schleusen streik verdi»Die Gewerkschaften sind zurück – in der Öffentlichkeit, als Tarifparteien und als sichtbare, konfliktfähige Akteure.« Dies ist der Tenor des Buchs »Streik­republik Deutschland?«, das die Soziologen Klaus Dörre, Thomas Goes, Stefan Schmalz und Marcel Thiel im Campus Verlag veröffentlicht haben. Sie verbinden darin Erkenntnisse aus zwei Studien: Die eine beschäftigt sich mit den großen Arbeitskämpfen im Sozial- und Erziehungsdienst, bei der Post und in anderen Branchen im Jahr 2015. Die andere basiert auf Interviews mit Betriebsräten und Gewerkschaftern von IG Metall und der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) in Ostdeutschland. Deren überraschender Befund: Auch in den ostdeutschen Bundesländern finden sich nach langem Siechtum Anzeichen für einen Aufschwung der organisierten Arbeiterbewegung.

Eine Grundthese des Buchs ist, dass »zwei Welten« tariflicher Regulation entstanden sind. Während die erste Welt weiterhin von Flächentarifverträgen und betrieblichen Interessenvertretungen geprägt ist, haben diese »Standards des einstigen (west)deutschen Sozialkapitalismus« in der zweiten Welt keine Gültigkeit mehr. Die dort Beschäftigten sind zumeist weder durch Tarifverträge noch durch Betriebsräte geschützt. »Die Konfliktlinie zwischen diesen beiden Welten, die sich auch in Ost-West-Differenzen bemerkbar macht, ist zunehmend umkämpft«, erklären die Autoren die Zunahme von Auseinandersetzungen. Die Streiks im Frühjahr 2015 interpretieren sie als »zugespitzten Ausdruck eines neuen, mehrdimensionalen Verteilungskonflikts, dessen gesellschaftliche Brisanz in der Öffentlichkeit noch immer unterschätzt wird«.

Überraschend optimistisch sind Befunde der Wissenschaftler von der Uni Jena insbesondere in Bezug auf Ostdeutschland. Auch dort verspürten die Gewerkschaften wieder Rückenwind. »Vielleicht kann man sogar sagen, dass der Rückenwind ein Ostwind ist.« In manchen Untersuchungsbetrieben kündigt sich den Autoren zufolge »das Ende der ostdeutschen Bescheidenheit« an. Zugleich stellen sie klar, dass es in den betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen in Ostdeutschland oftmals darum geht, »überhaupt erst die Voraussetzungen für eine wirksame betriebliche Interessenvertretung und einen Anschluss an das Tarifsystem herbeizuführen«. Der Schlüssel hierfür sei die Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht.

Die zugespitzte These vom »Ostwind« kann für die Arbeitskämpfe der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) – die beim Fahrpersonal der Bahn im Osten besonders stark verankert ist – womöglich noch gelten. Beim Streik der Erzieherinnen und Sozialarbeiter war es hingegen umgekehrt: Hier waren die ostdeutschen Kommunen eher die Achillesverse der gewerkschaftlichen Streikfront. Inwieweit der Befund eines gewerkschaftlichen Aufschwungs im Osten verallgemeinert werden kann, ist daher eine offene Frage.

Gemeinsam ist vielen Konflikten nach Analyse der Jenaer Soziologen ihr politischer Kern. So sei der Staat bei der Bahn zwar nicht unmittelbar, aber »als regelsetzende Instanz zum Schrittmacher« geworden. Gemeint ist das jüngst verabschiedete Gesetz zur »Tarifeinheit«, das die Arbeitskonflikte nicht nur bei der Bahn, sondern beispielsweise auch bei der Lufthansa massiv verschärft. Unmittelbarer Akteur waren die Regierenden beim Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, den die Autoren als »exemplarische Auseinandersetzung um den Stellenwert von Reproduk­tionsarbeit« interpretieren. Diese habe damit »eine zumindest latente politische Dimension«. Gleiches gelte für den Ausstand bei der Post. Hier habe der Staat durch Privatisierung und Deregulierung einen liberalisierten Markt geschaffen, der tarifliche Errungenschaften im ehemaligen Staatsbetrieb unter Druck setzt. Die von Seiten der Post-Spitze extrem hart geführte Auseinandersetzung war daher unmittelbare Folge politischer Entscheidungen.

Insgesamt stellt die Forschergruppe um Professor Dörre eine »Zergliederung und Ausdifferenzierung sozialer Auseinandersetzungen« fest. Neben traditionellen Tarifrunden finden insbesondere in der kaum regulierten »zweiten Welt« eine Vielzahl betrieblicher Konflikte statt. Diese sind »aufgeladen, sie können von unterschiedlichen Konfliktparteien eskaliert werden und sie besitzen häufig eine zumindest implizite politische Dimension«. Neben Geld geht es dabei oft auch um strategische Unternehmensentscheidungen, die gesellschaftliche Anerkennung beruflicher Tätigkeiten und um Gesetzgebung. Selbst Lohnkonflikte sind vielfach »ein Ventil, um dem verbreiteten Unmut über Arbeitsintensivierung, Leistungsdruck und Entgrenzung von Erwerbsarbeit und freier Zeit Ausdruck zu verleihen«. Im Sozial- und Erziehungsdienst, bei der Bahn, in den Krankenhäusern und anderswo spielt die Frage der Arbeitsbedingungen zum Teil eine größere Rolle als das Geld. Dies bringt die Verfasser zu der Prognose, »das Konfliktfeld Leistungsintensivierung, Arbeitszeit und Gesundheit (könne) schon bald ein ähnliches Gewicht haben, wie es in den untersuchten Konflikten der Lohn besitzt«.

  • Die Rezension bezieht sich auf: Klaus Dörre/Thomas Goes/Stefan Schmalz/Marcel Thiel: Streikrepublik Deutschland? Die Erneuerung der Gewerkschaften in Ost und West. Campus, Frankfurt am Main 2016, 284 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-593-50561-9
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=109726
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