„Stärkung der Tarifautonomie: Unternehmer fürchten Rückkehr des Tarifkartells“ – wir fürchten uns auch vor Tarifvorbehalten
Dossier
„Die große Koalition will durch eine neue Strategie die Tarifparteien stärken: Sie gewährt gesetzliche Privilegien und soll größere Freiheiten vom Gesetzgeber garantieren. Die Pläne sind jedoch umstritten (…) neue, durchaus umstrittene Strategie der Regierung im Umgang mit Gewerkschaften und Arbeitgebern: Deren tarifpolitisches Zusammenwirken soll vom Gesetzgeber gezielt belohnt werden, um für mehr Tarifbindung zu sorgen. Das Instrument dazu sind Sonderklauseln in neuen Regulierungsgesetzen, die Betriebe mit Tarifvertrag gegenüber Betrieben ohne Tarifvertrag bevorzugen – so etwa im geplanten „Lohngleichheitsgesetz“ wie auch im neuen Gesetz zur strengeren Regulierung der Zeitarbeit: Wer sich an einen Tarifvertrag bindet, bekommt vom Gesetzgeber größere Freiheiten und weniger Bürokratie. Diese Strategie einer „Stärkung der Tarifautonomie“ war von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) schon vor einiger Zeit entwickelt worden und gehört nun offenbar auch zum politischen Werkzeugkasten der Union. In der Wirtschaft sorgt sie allerdings zunehmend für Spannungen. Sie weckt ungute Erinnerungen an die Hochzeiten des sogenannten Tarifkartells. (…) Auch den Familienunternehmern missfällt die neue Form des Belohnens und Belastens, wie ihr Verbandspräsident Lutz Goebel betont: „Tarifbindung wird so zur Tarifzwangsbindung“, sagte Goebel dieser Zeitung. Diese „Zwangsbindung“ sei offensichtlich das neue Instrument der Gewerkschaften, „um den ansonsten rückläufigen Mitgliederzahlen entgegenzuwirken“…“ Artikel von Dietrich Creutzburg vom 22.11.2016 bei der FAZ online – bei uns ruiniert diese – bereits in der Leiharbeit folgenschwere – Strategie des Tarifvorbehalts jegliche positive Bindung an den Begriff „Tarifvertrag“! Siehe dazu:
- Mit Tarifverträgen fahren Arbeitnehmer besser. Das stimmt (nicht immer). Über „tarifdispositive Regelungen“ und ihre Ambivalenz mit erheblicher Schlagseite
„Man sollte ja meinen, dass es ganz einfach ist: Wenn Arbeitnehmer unter einem Tarifvertrag arbeiten (können und dürfen), dann stellen sie sich besser, als wenn es keinen Tarifvertrag gibt. (…) Beim Arbeitsrecht gilt (eigentlich) das „Günstigkeitsprinzip“. Dahinter verbirgt sich eine an sich nachvollziehbare Hierarchie der Rechtsquellen: Höherwertige Arbeitsrechtsquellen haben in aller Regel Vorrang vor nachgeordneten Bestimmungen. (…) Aber jetzt kommt der hier relevante Einschub: Vereinbarungen in einem Arbeitsvertrag dürfen nicht zu Lasten der Arbeitnehmer von einer höherwertigen Rechtsnorm abweichen, es sei denn, die höherrangigere Norm lässt eine ungünstigere Regelung ausdrücklich zu. (…) Das muss man sich mal vorstellen: Die sowieso nicht üppigen Schutzvorschriften für die Arbeitnehmer können durch tarifvertragliche Regelungen – die ja eigentlich einer Besserstellung der Arbeitnehmer zu dienen haben – noch unterlaufen werden. Und gleichsam als Krönung gibt es dann die Option für nicht-tarifvertraglich organisierte Arbeitgeber (und Arbeitnehmer) in diesem Fall einer schlechteren Regelung für die Arbeitnehmer als im Gesetz sich auf den Tarifvertrag, den man ja ansonsten nicht befolgen will, zu beziehen, um davon auch profitieren zu können.(…) [Bundesarbeitsministerin Andres Nahles] will damit das Tarifvertragssystem (wieder) stärken. Sie will die Unternehmen davon überzeugen, wieder stärker in die Tarifbindung zurückzukehren, denn dann profitieren sie ja von der Flexibilität, die ihnen durch die Öffnungsklauseln ermöglicht werden. Nun muss man kein Held der Logik sein um sofort zu erkennen, wie voraussetzungsvoll ein solches Unterfangen ist. Offensichtlich einleuchtend ist dieser Punkt: Wenn das funktionieren soll, dann muss es sich um eine tarifexklusive Regelung handeln, also die Arbeitgeber dürfen nur dann davon profitieren (können), wenn sie sich auf die Tarifbindung (wieder) einlassen (…) Angesichts der eben nicht gegebenen „gleichen Augenhöhe“ zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern (…) ist dieser Weg ein ganz gefährliches Abenteuer, bei dem die meisten Gewerkschaften auf einer Rutschbahn nach unten landen werden müssen.“ Beitrag von und bei Stefan Sell vom 2. September 2017- Siehe in diesem Zusammenhang: Wie viel Macht haben Gewerkschaften noch? [Und werden sie es mal testen?]
- Betrogene Arbeitnehmer – Wie durch Tarifverträge Schutzbestimmungen ausgehebelt werden
„Das galt lange als sicher: Wer nach Tarif bezahlt wird, der hat Glück, dem geht es gut! Anders als in den Unternehmen, die sich dem Tarif verweigern und in denen nur die gesetzlichen Mindeststandards eingehalten werden. Doch viele Leiharbeiter mussten in der Vergangenheit feststellen, die gesetzlichen Mindeststandards sind besser als die Bedingungen, denen die Gewerkschaft bei den Tarifverhandlungen zugestimmt hat. Lange galt als sicher: Wer nach Tarif bezahlt wird, der bekommt eine gut gefüllte Lohntüte mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld – anders als in den Unternehmen, die sich dem Tarif verweigern! Doch der gute alte Tarifvertrag wird plötzlich von Arbeitgebern dazu genutzt, um gesetzliche Mindeststandards zum Schutz der Arbeitnehmer zu unterlaufen. Und die Gewerkschaften? Sie machen dabei sogar mit…“ Text und Video des Beitrags von Diana Kulozik und Chris Humbs im Rahmen der ARD-Sendung „Kontraste“ am 31.08.2017 . U.a. im Text:- „… Andrea Nahles (SPD), Bundesministerin für Arbeit: „Die Sozialpartnerschaft ist für mich Herzstück unserer sozialen Marktwirtschaft. Deshalb geben wir den Sozialpartnern Spielraum. Durch Tarifvertrag – also zusammen, nicht alleine – können sie den Einsatz von Leiharbeit, abweichend von den Grundregeln des Gesetzes, gestalten und aushandeln. Das setzt einen neuen Anreiz, sich tariflich zu binden.“ Diese Öffnungsklauseln – man mag es kaum glauben – betreffen auch die gesetzlichen Mindeststandards für Lohn, Arbeitszeit oder Befristungen. In den Gesetzen, die eigentlich die Arbeitnehmer schützen sollen, tauchen nun vermehrt Sätze auf wie: „abweichende Regelungen können durch Tarifvertrag vereinbart werden.“ Im Wahlkampf verkauft SPD-Kanzlerkandidat Schulz dieses Unterlaufen der Regeln zum Schutz der Arbeitnehmer als Fortschritt…“
- Und: „Stefan Sell, Institut für Arbeitsmarktforschung, Hochschule Koblenz: „Also es gibt einen einfachen Grundsatz, dass Arbeitnehmer mit einem Tarifvertrag nicht schlechter gestellt dürfen als eine gesetzliche Regelung. Das leuchtet auch irgendwie ein, weil eigentlich sollte es einem besser gehen wenn man Tarifvertrag hat. Nun hat man aber tarifvertragliche Öffnungsklausel ermöglicht mit denen man von der gesetzlichen Regelung abweichen kann. Jetzt sitzen Tarifpartner am Tisch und verhandeln nicht nur, was oberhalb der gesetzlichen Mindestgrenzen machbar ist: also mehr Geld, bessere Arbeitszeit, mehr Sicherheiten. Nun kann auch nach unten verhandelt werden: befristet sogar weniger als der Mindestlohn, weniger Ruhepausen und so weiter.Da beißt die Maus keinen Faden ab, es ist eine Schlechterstellung von Arbeitnehmern durch einen Tarifvertrag.“
- [Video] „Museum des Arbeitsrechts?“
„Es kann nicht oft genug betont werden, daß die Einführung der Möglichkeit der Abweichung von GESETZLICHEN STANDARDS durch Tarifverträge letztlich der Aufweichung des Arbeitsrechts dient. Das Gleiche gilt für die anhaltende Duldung und teilweise Legalisierung von Scheinwerkverträgen. Wir haben dies in einem Kurzvideo unter dem Motto „Museum des Arbeitsrechts?“ (auf dem Gelände der Museumsbahn Bederkesa) dargestellt. Das Video kann über youtube gerne weitergeleitet, kommentiert und zB für Veranstaltungen, Diskussionen und Seminare genutzt werden…“ Video von und mit Rolf Geffken bei youtube
- Nach der Tarifrunde Leiharbeit gibt es leider ein neues negatives Beispiel für die Folgen des Tarifvorbehaltes im AÜG: Höchstüberlassungsdauer in der Metall und Elektroindustrie geknackt: IG Metall stimmt Zeitarbeit bis zu vier Jahren zu
- »Ein erfolgreicher Herrschaftsmechanismus«. Mit Tarifvorbehalten wird Gewerkschaften und Unternehmern in die Hand gegeben, was bisher gesetzlich geregelt war. Für die Beschäftigten bedeutet das Verschlechterungen
„… Bei den Tarifvorbehalten delegiert die Politik Aufgaben an die Tarifparteien. Oft müssen die Gewerkschaften dann Konzessionen auf anderen Gebieten machen, um wenigstens das bisher im Gesetz festgelegte Niveau zu halten. Manchmal gelingt ihnen auch das nicht; dann schlicht kommen Verschlechterungen. (…) Im Grunde genommen werden die Tarifverträge hier in ihr Gegenteil verkehrt. Es gibt den Grundsatz: »Tarifverträge schützen, Tarifverträge nützen.« Doch hier werden Abkommen geschlossen, die nicht nützen und nicht schützen, sondern die Lage der abhängig Beschäftigten verschlechtern. (…) Die Gewerkschaften unterstützten vermutlich die Bestrebungen der Regierung, die Lohnkosten in Deutschland zu reduzieren. Vom Kabinett wurde das raffiniert vorangetrieben. Mit den Leiharbeitnehmern wurde zunächst nur eine Gruppe herausgenommen, die dann aber deutlich weniger Lohn erhalten sollte als die anderen Beschäftigten. Beschlossen wurde damals ja auch, dass der Einsatz von Leiharbeitern unbefristet zulässig ist. So wird Druck auf sehr viele Beschäftigte ausgeübt. Sie müssen fürchten, ersetzt zu werden. Die Gewerkschaften sehen sich dann oft gezwungen, in den Tarifrunden sehr bescheidenen Abschlüssen zuzustimmen. Es handelt sich hier um einen sehr erfolgreichen Herrschaftsmechanismus…“ Johannes Supe im Gespräch mit Wolfgang Däubler bei der jungen Welt vom 17. Januar 2017 . Und darin speziell zu Leiharbeits-Tarifen:- „… Der Tarifvorbehalt im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz hat einen besonderen Stellenwert. Er ermöglicht es vom Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« abzuweichen, überlicherweise als »Equal Pay« bezeichnet. Auch die Gleichbehandlung bei den sonstigen Arbeitsbedingungen kann von den Tarifparteien wegverhandelt werden. (…) Meines Erachtens war es ein verheerender Fehler der Gewerkschaften, einen Leiharbeitstarife abzuschließen. Statt die christlichen Verbände abzulösen, hätte man bestreiten können, dass sie in diesem Bereich überhaupt als Gewerkschaften auftreten können. Genau das ist später auch vom Bundesarbeitsgericht so entschieden worden. Man hätte von Anfang an gute Chancen gehabt, die ganzen Tarifverträge der »Christen« für unwirksam erklären zu lassen. Später hat das Bundesarbeitsgericht genau in diesem Sinne entschieden. Die Tarifverträge wären hinfällig gewesen – für die Arbeitgeber ein Flop. Und im Betrieb hätten Equal Pay und Equal Treatment gegolten. Die Leiharbeit wäre wirtschaftlich uninteressant geworden. Die Arbeitgeber hätten sie dann nur noch benutzt, um plötzlich auftauchende Lücken zu schließen…“ Siehe zum Hintergrund unser Dossier zur Tarifrunde Leiharbeit 2016/17
- Siehe die Beispiele im Artikel von Dietrich Creutzburg vom 22.11.2016 bei der FAZ online :“… Im geplanten Lohngleichheitsgesetz ist vorgesehen, dass Unternehmen künftig umfangreiche neue Berichts-, Auskunfts- und Begründungspflichten erfüllen müssen, um den Verdacht zu widerlegen, sie diskriminierten ihre Mitarbeiterinnen durch zu niedrige Löhne. Unternehmen, die einem Tarifvertrag unterliegen, sollen sich laut Gesetzentwurf allerdings darauf berufen dürfen, dass damit zumindest insoweit keine Grundlage für den Verdacht einer Lohndiskriminierung bestehe. Derweil begrenzt das neue Zeitarbeitsgesetz unter anderem die Dauer, für die Zeitarbeiter in einem Betrieb eingesetzt werden dürfen, auf 18 Monate. Doch dürfen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eine längere Frist erlauben, falls sie sich darauf tarifvertraglich einigen – was ebenfalls tarifgebundene Betriebe begünstigt. Geht es nach Ministerin Nahles, dann sind diese Beispiele nur erste Schritte auf dem Weg in die digitale Arbeitswelt. Ihr Leitbild lautet „ausgehandelte Flexibilität“. Damit könne der Staat „Anreize setzen, um ausgehandelte Lösungen zu privilegieren“. So könnte nach ihrer Vorstellung auch eine Klausel ins Arbeitszeitgesetz eingefügt werden, die Tarifparteien eine Abweichung von den als starr geltenden Vorschriften erlaubt…“ Es kündigte sich bereits an, dass die Arbeitszeit das nächste Objekt der Flexibilisierung per Tarif sein würde…