[BVerfGE der 3. Kammer mit Vizepräsident Harbarth] „Aus dem Grundgesetz ergibt sich grundsätzlich kein Anspruch darauf, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden“ – und ein Kommentar
„… Auffällig ist nun, dass der ablehnende Kammerbeschluss stark von einer Auseinandersetzung der Kammer mit dieser Rechtsprechung gekennzeichnet ist – zwangsläufig. Denn die hier zum Ausdruck gebrachte Gewerkschaftsfeindlichkeit war dem BVerfG bisher fremd. In seiner Pressemitteilung ist diese gewerkschaftsfeindliche Tendenz der Kammer mit Vize Harbarth nicht zu übersehen. Z.B. heißt es dort (PM): „Vielmehr darf der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürgerinnen und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert sind.“ Mit diesen „Akteuren“ und ihrer „normsetzenden Gewalt“ sind die Gewerkschaften gemeint. Und welche anderen „Bürgerinnen und Bürger“ als Leidtragende sollen hier gemeint sein, als diejenigen (Bau)Unternehmer, die keine allgemeinverbindliche Tarifbindung wollen? Herr Harbarth bleibt also den Interessen seiner früheren Mandanten treu. Im Beschlusstext selbst lässt es sich die Kammer auch nicht nehmen (1 BvR 4/17) darauf hinzuweisen, dass die Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs.1 nur eine Kann-Vorschrift sei, „die im öffentlichen Interesse auch rückgängig gemacht werden kann (§ 5 Abs. 5 Satz 1 TVG)“. Ich frage mich nur, wann allgemeinverbindliche Tariflöhne und -arbeitbedingungen nicht im öffentlichen Interesse liegen sollen (von den Interessen der früheren Mandaten von Herrn Harbarth einmal abgesehen)?…“ Aus dem Kommentar Armin Kammrad vom 6. Februar 2020 zum Urteil – im Beitrag vollständig samt der BVerfG-Pressemitteilung zum Beschluss:
- [BVerfGE der 3. Kammer mit Vizepräsident Harbarth] „Aus dem Grundgesetz ergibt sich grundsätzlich kein Anspruch darauf, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden“
„Nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG) können Tarifverträge durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für allgemeinverbindlich erklärt werden. Sie gelten dann nicht nur für die Tarifvertragsparteien und ihre Mitglieder, sondern auch darüber hinaus. Jedoch ergibt sich aus der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie kein Recht darauf, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Daher hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde einer Gewerkschaft und einer durch Tarifvertrag eingerichteten Sozialkasse nicht zur Entscheidung angenommen. Sachverhalt: Im Baugewerbe sind Tarifverträge über Sozialkassen des Baugewerbes geschlossen worden. Diese Kassen sind gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien. Sie sollen im Bereich des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen erbringen, die wegen Besonderheiten der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu bekommen wären. Finanziert wird dies über Beiträge der Arbeitgeber, die im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgelegt sind. Grundsätzlich ist die Beitragspflicht im Grundsatz auf solche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beschränkt, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Verband an den VTV gebunden sind. Allerdings wurde der VTV in der Vergangenheit regelmäßig nach § 5 TVG vom BMAS im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt. Daher wurden auch nicht tarifgebundene Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen. Mit Beschluss vom 21. September 2016 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen der Jahre 2008 und 2010 unwirksam seien. Sie hätten den Voraussetzungen im damals geltenden TVG nicht entsprochen. So habe sich der zuständige Minister beziehungsweise die Ministerin oder der jeweilige Staatssekretär oder die Staatssekretärin nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasst. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt hatten. Gegen diesen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts richten sich die Verfassungsbeschwerden einer Gewerkschaft, die einen solchen Tarifvertrag über die Sozialkassen geschlossen hat, und einer Sozialkasse. Wesentliche Erwägungen der Kammer: Die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführenden wird nicht dadurch verletzt, dass das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über die Sozialkassen der Jahre 2008 und 2010 für unwirksam erklärt hat...“ BVerfG-Pressemitteilung Nr. 8/2020 vom 5. Februar 2020 zum Beschluss 1 BvR 4/17 vom 10. Januar 2020
Kommentar dazu von Armin Kammrad vom 6. Februar 2020 (wir danken!)
Diese Kammerentscheidung der Richter*Innen Harbarth, Baer und Ott ist kurios. Dies verdeutlicht bereits die Überschrift der Pressemitteilung (s. dort). Denn aus dem Grundgesetz ergibt sich auch keinerlei Verbot einer Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, auch wenn sich dies der ehemalige Arbeitgeberanwalt, Herr Harbarth, vermutlich so wünscht. Dies bewies ja gerade der Gesetzgeber, als er nach den abschlägigen und für die Sozialkassen bedrohlichen BAG-Entscheidungen 2012, 2013, 2014 und 2016, das Tarifvertragsgesetz 2017 so änderte, dass die Allgemeinverbindlichkeit nur noch ein öffentliches Interesse voraussetzt und alle vom BAG monierten Mängel beseitigte. Mit dem Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 16. Mai 2017 und dem Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren und zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 1. September 2017 machte der Gesetzgeber zum Schutz der Sozialkassen die maßgeblichen Tarifverträge sogar rückwirkend verbindlich. Ist damit nicht der ursprüngliche Beschwerdegrund der IG Bau und der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft gegenstandslos geworden?
Auf Grundlage der damaligen Gesetzeslage blieb den beiden Beschwerdeführern (IG Bau und Sozialkasse) nach den BAG-Entscheidungen gar kein anderer Weg als nach Karlsruhe zu gehen. Sich dabei auf Art. 9 Abs.3 GG zu berufen, lag nicht nur nahe, sondern es gibt hierzu auch bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des BVerfG vor Herrn Harbarths Zeit beim Ersten Senat. Auffällig ist nun, dass der ablehnende Kammerbeschluss stark von einer Auseinandersetzung der Kammer mit dieser Rechtsprechung gekennzeichnet ist – zwangsläufig. Denn die hier zum Ausdruck gebrachte Gewerkschaftsfeindlichkeit war dem BVerfG bisher fremd. In seiner Pressemitteilung ist diese gewerkschaftsfeindliche Tendenz der Kammer mit Vize Harbarth nicht zu übersehen. Z.B. heißt es dort (PM): „Vielmehr darf der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürgerinnen und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert sind.“ Mit diesen „Akteuren“ und ihrer „normsetzenden Gewalt“ sind die Gewerkschaften gemeint. Und welche anderen „Bürgerinnen und Bürger“ als Leidtragende sollen hier gemeint sein, als diejenigen (Bau)Unternehmer, die keine allgemeinverbindliche Tarifbindung wollen? Herr Harbarth bleibt also den Interessen seiner früheren Mandanten treu. Im Beschlusstext selbst lässt es sich die Kammer auch nicht nehmen (1 BvR 4/17) darauf hinzuweisen, dass die Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs.1 nur eine Kann-Vorschrift sei, „die im öffentlichen Interesse auch rückgängig gemacht werden kann (§ 5 Abs. 5 Satz 1 TVG)“. Ich frage mich nur, wann allgemeinverbindliche Tariflöhne und -arbeitbedingungen nicht im öffentlichen Interesse liegen sollen (von den Interessen der früheren Mandaten von Herrn Harbarth einmal abgesehen)?
Eigentlich ist diese Kammerentscheidung bereits formal angreifbar, hätte Herr Harbarth doch wegen Befangenheit gar nicht in der verfassungsrechtlichen Bewertung zu Art. 9 GG mitentscheiden dürfen. Wer acht Jahre lang im Tarifrecht nur eine Seite im Tarifkonflikt vertreten hat, besitzt nicht die erforderliche Neutralität oder wie Herr Harbarth es in einem LTO-Interview (23.05.2019) es selbst einmal ausdrückte: „Jede Persönlichkeit, die neu an das Bundesverfassungsgericht berufen wird, bringt freilich ihre eigenen Lebensperspektiven, ihre eigenen Erfahrungen und auch eine spezifische berufliche Expertise mit“. Und diese „berufliche Expertise“ ist bei Herrn Harbarth nun einmal extrem einseitig. Dies ist allerdings nicht allein sein Verschulden. Schließlich hätte die verantwortliche Politik auch eine Anwalt auswählen können – sofern es überhaupt ein Anwalt sein soll – der die Vertretung gewerkschaftlicher Positionen zu seinem Hauptberuf gemacht hat. Zumindest verstößt solche Besetzung des höchsten Gerichts mit einem ausschließlich Arbeitgeberinteressen vertretenden Anwalt gegen Art. 6 EMRK oder wie Ricarda Lang und Andreas Lickleder („40 Jahre RAV, S.32) erklären: „Nach der Rechtsprechung des EGMR fehlt es an der Unparteilichkeit eines Richters, wenn sich bei ihm eine bestimmte Überzeugung bzw. Voreingenommenheit in der zu beurteilenden Sache feststellen lässt“. Besonders bei Tarif- und Arbeitskampfangelegenheiten sollte zumindest künftig bei Verfassungsbeschwerden von § 19 BVerfGG (Besorgnis der Befangenheit) Gebrauch gemacht werden.