›Männersache‹ Organizing? Gleichheit und Differenz in Gewerkschaften
„Wenn der Stand gesellschaftlichen Fortschritts sich an der Stellung der Frauen bemist – wie steht es dann eigentlich um die Fortschrittlichkeit der Gewerkschaften selbst? Torsten Bewernitz stellt neue sozialwissenschaftliche Beiträge zu dieser Frage vor, die jüngst im Sammelband »Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe« erschienen sind (das sehr viel umfangreichere Buch, das hiermit ausdrücklich empfohlen sei, ist übrigens derzeit eine unserer Abo-Prämien!). Franziska Bruder (ver.di Berlin), Katja Barthold (IGM Mannheim) und Kathrin Eggebrecht aus dem GEP (Gemeinschaftliches Erschließungsprojekt) Baden-Württemberg der IGM haben unsere Fragen zur Bedeutung von Geschlechterunterschieden in der Organizing-Praxis beantwortet…“ Artikel und Interview von Torsten Bewernitz, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2021:
›Männersache‹ Organizing?
Gleichheit und Differenz in Gewerkschaften – von Torsten Bewernitz
Wenn der Stand gesellschaftlichen Fortschritts sich an der Stellung der Frauen bemist – wie steht es dann eigentlich um die Fortschrittlichkeit der Gewerkschaften selbst? Torsten Bewernitz stellt neue sozialwissenschaftliche Beiträge zu dieser Frage vor, die jüngst im Sammelband »Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe« erschienen sind (das sehr viel umfangreichere Buch, das hiermit ausdrücklich empfohlen sei, ist übrigens derzeit eine unserer Abo-Prämien!). Franziska Bruder (ver.di Berlin), Katja Barthold (IGM Mannheim) und Kathrin Eggebrecht aus dem GEP (Gemeinschaftliches Erschließungsprojekt) Baden-Württemberg der IGM haben unsere Fragen zur Bedeutung von Geschlechterunterschieden in der Organizing-Praxis beantwortet.
2018 waren 33,7 Prozent der Mitglieder von DGB-Gewerkschaften weiblich, die Mitglieder von ver.di sind sogar zu 52,3 Prozent weiblich. Diesen Zahlen entsprechen immer häufiger wiederkehrende Streikjahre, die vor allem von Frauen getragen werden – meist jene Jahre, in denen im Sozial- und Erziehungsdienst, im Einzelhandel und im Gesundheitsbereich gestreikt wird. Und beides entspricht einer globalen Entwicklung, in der die Mehrheit der Lohnabhängigen erstmalig in der Geschichte von Frauen gestellt wird.
Eingangs genannte Mitgliedszahlen des DGB zitiert die hessische ver.di-Sekretärin Kristin Ideler in ihrem Beitrag »Die Gender-Kluft in Gewerkschaften« in dem Sammelband »Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe« (S. 324-341, hier: S. 327). Der Band versammelt die Beiträge zu der Tagung »Arbeitskonflikte und Gender«, die im März 2019 in Nürnberg stattfand.
Alle Beiträge des vorliegenden Bandes sind die Lektüre wert – dennoch folgt hier keine klassische Buchrezension. Stattdessen soll es anlässlich des nahenden Frauenkampftags um die Frage nach den Geschlechterverhältnissen in den Gewerkschaften und im Organizing gehen. Für diese Fragestellung sind in dem vorliegenden Band neben dem genannten Beitrag Idelers vor allem die »geschlechtersensible Untersuchung von Organizing-Kampagnen im Dienstleistungsbereich« von Carmen Strehl (S. 267-285) sowie Jasmin Schreyers Diskussion des »geschlechterdemokratischen Selbstverständnis« der IG Metall (S. 342-358) von Relevanz.
Schreyer analysiert die Bemühungen um Geschlechtergleichheit innerhalb der IG Metall anhand von zwei Gruppeninterviews mit einem (gemischtgeschlechtlichen) Ortsjugendausschuss und einem Frauenarbeitskreis. Sie stellt die Zweigeschlechtlichkeit als Ordnungsrahmen der Geschlechterpolitik der IGM fest. Dabei zeigt sich eine Differenz zwischen dem »Fortbestand geschlechtsspezifischer Aufgabenzuweisungen, Kompetenzzuschreibungen und Karrierepfade« und einer »Semantik der Gleichheit« (S. 345). Explizit hängt dies zusammen mit einer Wahrnehmung von »Frauenthemen« als Spezialthemen für die entsprechenden Gremien – sie sind zwar wichtig, bleiben aber Spezialthemen, denn: »die gemeinsame Solidarität aller Mitglieder der IG Metall stellt eine der wichtigsten Handlungsressourcen der Organisation dar, weswegen eine fehlende Solidaritätsbasis organisational tabuisiert wird« (S. 354). Zwar hat die IGM durch entsprechendes (von oben implementiertes) Gendermainstreaming mittlerweile einen prozentualen Frauenanteil unter den Hauptamtlichen, der über den Anteil an weiblichen Mitgliedern (18 Prozent, das entspricht in etwa dem Frauenanteil in den vertretenen Branchen) weit hinaus geht. »Aber die wichtigsten Gremien auf betrieblicher Ebene und dort vor allem die Führungspositionen sind weiterhin überwiegend mit Männern besetzt« (S. 353).[1]
In der Praxis ergibt sich eine geschlechtsspezifische Differenz: »Frauen in der IG Metall brauchen einen starken Charakter. Dies scheint ›doppelt‹ zu gelten: einerseits müssten Frauen sich die Attribute des ›männlichen‹ Geschlechtscharakters aneignen, andererseits ist dies keine Garantie dafür, dass ihnen dadurch (dieselbe) Anerkennung zukomme wie ihren männlichen Kollegen« (S. 352).
Was bedeutet das etwa für Organizing-Prozesse? Schreyers Analyse der Tabuisierung einer fehlenden Solidaritätsbasis erinnert an den Organizing-Grundsatz, in der Themenfindung möglichst massentaugliche Themen zu finden. In einer weitestgehend männlichen Belegschaft oder Branche drohen die vermeintlichen ›Frauenthemen‹ und erst recht die Interessen von LGBTs (lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transgender-Kolleg:innen) entsprechend unterzugehen. Organizer:innen, so steht entsprechend zu vermuten, fühlen sich wahrscheinlich gezwungen, vermeintlich ›männliche‹ Verhaltensmuster an den Tag zu legen, etwa um sich in einer mehrheitlich männlichen Betriebs- und Branchenumgebung zu behaupten und diesen Interessen gerecht zu werden.
Dieser Annahme folgend ließe sich aber vermuten, dass das bei ver.di mit einem Frauenanteil über 50 Prozent anders aussieht. ver.di-Sekretärin Kristin Ideler sieht hier jedoch einen ähnlichen Gender Gap, denn – anders als in der IG Metall – repräsentiert hier das Geschlechterverhältnis der Hauptamtlichen nicht das Geschlechterverhältnis der Basis. Aus daraus entstehenden »unterschiedlichen Geschlechterkulturen« entstünden so unterschiedliche Handlungslogiken. Diese »Gender-Kluft« habe sich z.B. im Fallenlassen des Themas Gesundheit in der Tarifrunde 2015 für den Sozial- und Erziehungsbereich (SuE) gezeigt (S. 336). Ideler plädiert entsprechend für eine »genderkompetente Gewerkschaftspolitik« (S. 338): »Eine feministische Agenda bei den Forderungen zu entfalten, könnte (…) bedeuten, bessere Arbeitsbedingungen, Entlastung und eine bessere materielle und ideelle Anerkennung von sorgenden Frauen*berufen und der damit verbundenen Doppelbelastung durch unbezahlte Arbeit gewerkschaftspolitisch in den Blick zu nehmen« (S. 337).
Hier schließt Carmen Strehl mit ihrer Untersuchung von zwei Organizing-Projekten von ver.di an. Strehl vergleicht eine Kampagne bei Amazon (als Dienstleistung mit »losem Personenbezug«) und eine Kampagne in evangelischen Kitas (als Dienstleistung mit »engem Personenbezug«). Strehl zufolge war das Organizing in der personenfernen Dienstleistung deutlich erfolgreicher, sie erklärt dies mit den ›traditionelleren‹ und gewerkschaftstypischeren Ansprüchen der Amazon-Belegschaft gegenüber der feminisierten Care-Tätigkeit in den Kitas und dem zwiespältigen Verhältnis der Erzieher:innen zur Arbeitgeberseite einerseits und den Eltern und Kindern andererseits. Zur Diskussion zu stellen wäre sicherlich, ob der quantitativ größere Erfolg bei Amazon nicht auch darin begründet lag, dass es hier ein größeres Potential an Nicht-Mitgliedern gab – und ob die Betriebsstrukturen von Fulfillment-Centern nicht »gewerkschaftsfreundlicher« sind als die vergleichsweise kleinen Kinderbetreuungseinrichtungen, vor allem wenn diese einem kirchlichen Träger angehören.
Letztlich zielt Strehls Beitrag weniger auf konkrete Organizing-Methoden ab als vielmehr auf den Arbeitsbegriff, der nicht nur ver.di, sondern einer Gewerkschaftspolitik überhaupt zugrunde liegt. Reproduktionsarbeit käme, so Strehl, in der Konzeption der Gewerkschaften nicht vor. Es würden nur die Bedingungen von Erwerbsarbeit betrachtet, kaum Arbeit als Schnittstelle zu anderen Lebensbereichen und als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (S. 271). Dass die zu Organisierenden in den Kitas nahezu alle auch Mütter waren, oftmals sogar alleinerziehend, und die Frage nach der Vereinbarkeit der Reproduktionsarbeit und der Erwerbsarbeit damit zentral (S. 281), spielte in dem Organizing-Prozess kaum eine Rolle. Damit, so resümiert Strehl, »wird die Zielgruppe gewerkschaftlicher Organisierung aber auf diejenigen verengt, die die Ressourcen haben, frei von Reproduktionsarbeit einem Normalarbeitsverhältnis nachzugehen« (S. 283). Kurz: Den Erzieher:innen fehlt mehrheitlich die Zeit, um neben privater und beruflicher Reproduktionsarbeit auch noch ›Aktive‹ im Sinne des gewerkschaftlichen Organizings zu werden. Dabei sei die Frage nach der Verantwortung für Reproduktionsarbeit zentral für die gewerkschaftliche Mobilisierbarkeit der Beschäftigten« (S. 281).
Wenn Carmen Strehl am Schluss ihres Beitrags die Sorge für und um andere als Leerstelle heutigen gewerkschaftlichen Organizings bezeichnet (S. 282), so verweist das auf den Vorschlag Slave Cubelas (express 1/2021), das heutige Organizing im Sinne einer Care-Perspektive in ein Sorganizing zu wandeln. Das Gefühl von finanzieller, sozialer und auch gesundheitlicher Unsicherheit erscheint hier ganz praktisch als Organisierungspotential. Das bedeutet gleichzeitig, dass die feministischen Positionierungen zu diesem Bereich – namentlich Judith Butlers und Isabel Loreys, auf die Strehl verweist – für gewerkschaftliche Praxis vielleicht doch nicht so irrelevant sind, wie vor einiger Zeit im express geäußert wurde (express 10/2019): Eine »geschlechtersensible Reflexion des Organizing« (S. 268), so Strehl, benötigt einen erweiterten Arbeitsbegriff, der nicht von autonomen Subjekten in der Arbeitswelt ausgehen kann, sondern das Prekäre »als Ausgangspunkt menschlicher Beziehungen« (S. 269) und damit auch der Arbeitsbeziehungen betrachtet. Prekarität ist in dieser Sichtweise überhaupt kein neues Phänomen. »Weil menschliche Körper verletzbar sind, altern und auf Pflege durch andere angewiesen sind, muss die Relation von Menschen zueinander in den Mittelpunkt […] gestellt werden – anstatt der Annahme einer absoluten Autonomie« (S. 270). Das sollte ein gewerkschaftliches Organizing immer mitbedenken, nicht nur in Kitas, sondern auch in den Fulfillment-Centern von Amazon oder in den Werkshallen der Metall- und Elektroindustrie.
- Die Schreibweise von Geschlechterbezeichnungen und geschlechtlich konnotierten Begriffen in den Zitaten wurde redaktionell angepasst. Im Original verwenden die Autorinnen den Stern als Kennzeichnung für Männer, Frauen und Existenzweisen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit (»Kolleg*innen«) sowie zur Markierung der Uneindeutigkeit von Genusgruppen (»Frau*«/»Mann*«, »weiblich*«/»männlich*«).
Ingrid Artus u.a.: »Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe.« Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven. Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot 2020. ISBN 978-3-89691-045-5, 365 Seiten, 35,00 Euro (oder als Abo-Prämie bei einem Neuabo des express!)
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Interview mit Organizerinnen von ver.di und IG Metall
express: In welcher Branche und in welchen Betrieben seid ihr als Organizerinnen aktiv (gewesen)? Waren das eher männer- oder frauendominierte Betriebe und hatte das Bedeutung für Euer Vorgehen und die Reaktionen der Kolleg:innen?
Franziska Bruder: Ich habe in sehr verschiedenen Branchen organisiert: von Krankenhaus, Behindertenwerkstätten, IT-Betrieben bis zur Sicherheits- und Wachbranche. Entsprechend war die Zusammensetzung der Belegschaft hinsichtlich ihres Geschlechts völlig verschieden: von mehrheitlich Frauen in der Pflege zu mehrheitlich Männern in der Sicherheit.
Wenn wir im Vorfeld und während der Organisierung Kernbotschaften und Vorgehen festlegen, spielt die Analyse der Perspektive der Beschäftigten auf ihre Arbeitssituation die zentrale Rolle. Dazu gehören die eigene Identität, das Selbst-Bewusstsein und auch der Werte-Codex bezüglich der eigenen Tätigkeit. Dies ist vielfach mit Geschlechterkonstruktionen verbunden: Beispiel Pflege mit Care-Tätigkeiten, der Identifikation mit dem Versorgen und Heilen kranker Personen, was gesellschaftlich vor allem Frauen naturalisiert zugeschrieben wird. Dieses Bewusstsein ist bei vielen Kolleg:innen tief eingeschrieben und handlungsleitend. Daher muss es in den Gewerkschaftsbotschaften berücksichtigt und thematisiert werden.
Reaktionen von Beschäftigten wie bei allen Menschen orientieren sich anfangs immer an dem, was sie in ihr Gegenüber hineinlesen und was sie als Typus von Gewerkschaftsrepräsentanz erwarten. Die mehrheitlich männlichen Sicherheitsleute haben anfangs oft gestutzt, wenn sie mich als vergleichsweise kleine Frau vor der Nase hatten. Aber in der Regel hat sich die Irritation im Laufe des ersten direkten Gespräches (1:1) erledigt. Denn dann wurde ihnen deutlich, dass es um sie und ihre Anliegen geht und um die Frage, wie diese durch sie selbst und gemeinsam gelöst werden können. Der Aufmerksamkeitsfokus verschiebt sich. Die Wahrnehmung des Gegenübers und die Relation zueinander erhalten (wechselseitig) eine neue, bestenfalls nicht stereotypisierende Grundlage.
Katja Barthold: Ich bin Organizerin in der Gewerkschaft für die Metall-Elektrobranche und damit bis auf den Textilbereich hauptsächlich in Betrieben tätig, die mehrheitlich männliche Mitarbeiter haben, zumindest in der Produktion. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass mein Geschlecht eine Rolle spielt. Entscheidend ist, mit welcher Grundhaltung man den Menschen begegnet, die dort arbeiten, und zuhören zu können statt vorwegzunehmen und zu belehren. Ihre Wut und Probleme zu verstehen und dort anzusetzen, um gemeinsam was zu verbessern.
Sicherlich ist es immer gut, wenn Organizing-Teams divers aufgestellt sind, damit sich die Menschen, die man organisieren will, auch wiederfinden. Da geht es aber nicht hauptsächlich um Frau oder Mann, sondern auch um den Bildungsweg, Migrationshintergrund oder andere Punkte, wo wir Schnittpunkte mit den Leuten finden. Am Ende ist aber entscheidend: Bin ich zuverlässig und kann ich Orientierung geben? – Egal ob Frau oder Mann. Aber sicherlich müssen wir als Frauen noch immer ein, zwei Vorurteile mehr ausräumen als Männer.
Kathrin Eggebrecht: Ich war als Organizerin sowohl in Zulieferbetrieben der Metall- und Elektroindustrie als auch in der Textilbranche unterwegs. In den M&E-Betrieben hatte und habe ich sowohl in den Belegschaften als auch in den Betriebsrats- und Vertrauensleutegremien mit einer Mehrheit von Männern zu tun. Oftmals sind Betriebsrats- und Vertrauensleutespitze von Männern besetzt. Dort versuche ich in meiner Arbeit ganz bewusst, aktive Frauen zu stärken und zu gewinnen und gemeinsam mit ihnen ihren Themen Gehör zu verschaffen.
Eine andere Erfahrung habe ich in der Textilbranche gemacht: dort war ich in einem Betrieb unterwegs, in dem deutlich mehr Frauen als Männer arbeiten und die Betriebsratsvorsitzende eine Frau ist. In diesem Betrieb gibt es deshalb auch anteilig mehr aktive Frauen als in den M&E-Betrieben, auch weil frauenspezifische Themen dort in meiner Wahrnehmung eine größere Rolle spielen.
Persönlich war ich nicht in der Situation, dass ich als Frau in meiner Rolle als Organizerin (nach anfänglichem Beschnuppern) grundsätzlich von Männern in ihrer Funktion als Betriebsrat oder Vertrauensmann nicht ernst genommen werde.
Inwiefern spielt das Geschlecht bei der Besetzung von hauptamtlichen Organizer-Stellen in Eurer Organisation eine Rolle? Werden je nach Gegebenheiten der Branche mal mehr, mal weniger Männer/Frauen eingesetzt?
FB: Ich kann hier nicht für die ganze Organisation sprechen. In meinem aktuellen Projekt kam es uns insgesamt auf Diversität an: Kolleg:innen aus der beruflichen Praxis, Männer/Frauen, verschiedene migrantische Communities, altersgemischt, mit Bezügen zu sozialen Bewegungen. Organizer:innen müssen auch und gerade in Relation zu der konkreten Beschäftigten, mit der/dem sie beispielsweise gerade in einem direkten Gespräch in Kontakt treten, ein hohes Maß an Selbstreflexion gegenüber der eigenen Rolle besitzen. Diese Selbstreflexion und Vorstellungskraft hinsichtlich der vielfach möglichen Erfahrungen des Gegenübers und den gesellschaftlichen Kontexten, in denen diese entstehen, ist eine der notwendigen Schlüsselkompetenzen.
KB: Wie überall, ist es auch in der Gewerkschaft kein Headturner mehr, wenn Frauen im politischen Bereich arbeiten, dafür haben Frauen in den Generationen vor mir sicherlich einige Hürden übersprungen. Aber auch als Akademikerin war mir der Zugang in die Gewerkschaft leichter als vielleicht noch in den 1980ern. Sicherlich hören wir Sprüche in den Betrieben, die Männer nicht hören, aber Betriebe sind eben auch nur ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, und ich finde, Empörung nützt mir da nicht viel. Jede Person, die mit Vorurteilen kämpfen muss, hat sicherlich ihre Strategie entwickelt, damit umzugehen, ich benutze hauptsächlich Humor oder spreche es tatsächlich direkt an, danach ist es meistens gegessen. Wir haben gar keine Zeit, uns ewig damit aufzuhalten, denn nicht selten geht es auch um die Existenz von abhängig Beschäftigten und deren Familien.
Geschäftsführungen hingegen benutzen schon gern mal Klischees, um mein Verhalten als naiv oder überdreht darzustellen und versuchen so die Belegschaften zu verunsichern. Aber das Gute am Organizing ist, dass es nicht um mich als Person geht, sondern um den gemeinsamen Plan, den wir nicht nur gemeinsam verfolgen, sondern auch gemeinsam aufgestellt haben. Daher ist diese Strategie noch nie aufgegangen.
KE: Im Gemeinsamen Erschließungsprojekt (GEP) BaWü spielt das Geschlecht bei Besetzung freier Stellen in meiner Wahrnehmung insofern eine Rolle, dass wir speziell Frauen für das hauptamtliche Organizing gewinnen wollen. Aktuell haben deutlich mehr Männer Interesse und bewerben sich.
Gerade uns Kolleginnen im Team ist es ein großes Anliegen, dass unsere Arbeit Frauen anspricht, für sie attraktiv ist und bei der ihre Themen und Bedürfnisse wahrgenommen werden.
Bei »dem Klassiker« des Community Organizings, Saul Alinsky, ist Organizing »Männersache«. Auch wenn man sich etwa Ken Loachs »Bread and Roses« anschaut, hat man den Eindruck, da könnte etwas dran sein. Stimmt aus Eurer Sicht das Bild von Gewerkschaften als männerdominierten Organisationen noch? Worin drückt sich das – neben dem reinen Zahlenverhältnis – aus? Wie ließe sich das ändern?
FB: Die Kleinteiligkeit des Aufbaus der Basisstrukturen, die komplexen Problematiken, die man dafür lösen muss: deren Akteur:innen sollte man darstellen und nicht auf einzelne Heroen fokussieren, was im Grunde lediglich die mediale Selbstbespiegelung und Repräsentanz einzelner weißer (Mittelschichts-) Männer darstellt. Ihr sprecht einerseits die Frage der geschlechtsspezifisch geleiteten gesellschaftlichen Bewertung und Wahrnehmung von Arbeit, entsprechend von Arbeitskämpfen, an. Andererseits die nach der Orientierung der Gewerkschaften selbst, was sich beispielsweise darin zeigt, in welchen Branchen sie tätig sind. Beginnen wir bei Letzterem: ver.di organisiert in den Dienstleistungsbranchen vielfach in frauendominierten Bereichen. Von großer Bedeutung sind beispielsweise die Kämpfe im Krankenhausbereich rund um Personalbemessung in der Pflege oder in Kitas um die Aufwertung von Erzieher:innenberufen. Die damit verbundenen Bilder von Pfleger:innen und Erzieher:innen auf der Straße, unter ihnen vielfach ältere Frauen, haben die gesellschaftlich zentrale Rolle der frauendominierten Care-Berufe in den Fokus gerückt. Das Beispiel Ken Loach »Bread and Roses« thematisiert die erfolgreiche Kampagne der SEIU im Reinigungsbereich, in dem mehrheitlich Frauen, aber auch viele Männer aus verschiedenen Communities, vielfach ohne Papiere, arbeiten und auch die Organizer:innen entsprechend diverse Hintergründe hatten. Dies sollte im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Schließlich ist Aufgabe von (nicht nur) gewerkschaftlicher Organisierung/Organizing der Aufbau breit verankerter emanzipatorischer Strukturen, in denen Beschäftigte sich ihrer Interessen bewusst werden, diese vertreten und bestenfalls auch durchsetzen können.
KB: Jede Organisation spiegelt die Menschen wider, die sie vertritt, daher finde ich es jetzt nicht verwunderlich, dass in unserer Branche noch mehr Männer arbeiten. Die Frage, die sich in jedem Job stellt, ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf; und ich merke, dass sich diese Frage mittlerweile zum Glück nicht mehr nur Frauen stellen. Gewerkschaften werden vielfältiger, nicht nur personell, sondern auch methodisch, und in der Pandemiezeit auch in der Arbeitsweise.
Spannender finde ich jedoch den Blick in die Betriebe. Dort stelle ich mir oft die Frage: Wie kann ich Frauen erfolgreicher motivieren, sich in Gremien wählen zu lassen und dort auch Vorsitzendenrollen zu übernehmen und nicht nur die organisatorische Zuarbeit zu machen? Wir haben bereits viele, starke, gute Frauen unter den Aktiven, sicherlich können es aber gern mehr werden. Und auch da geht es nicht nur um Frau oder Mann, denn nur wenn wir vielfältig aufgestellt sind, können wir dauerhaften Zusammenhalt praktizieren.
KE: Ich finde, dass die IG Metall in der Frage der »Männerdominanz« auf einem guten Weg ist. Immer mehr hauptamtliche Frauen übernehmen als Bevollmächtigte Verantwortung in Geschäftsstellen, als Teamleitungen, in Bezirksleitungen und der Vorstandsverwaltung bis hin zu den geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern. Das bringt aus meiner Sicht frischen Wind und auch eine neue Kultur und Atmosphäre in die Organisation und tut ihr gut. Wie in vielen großen Organisationen nehme ich aber auch bei der IG Metall wahr, dass die »Luft nach oben« für Frauen dünner wird, da sehe ich noch Entwicklungspotential.
Auch bei den ehrenamtlichen IG Metaller:innen gibt es in den letzten Jahren zwar mehr Kolleginnen, die als Betriebsratsvorsitzende und Vertrauenskörperleiterinnen gewählt und aktiv sind, aber auch bei den Ehrenamtlichen könnten wir das Potential der aktiven Frauen besser nutzen, wenn wir sie intensiver fördern und ihnen spezielle Angebote machen würden.
Spielt die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen – sowohl die Frage nach Equal Pay, aber auch Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz, sexistische Vorfälle o.ä. – eine Rolle in eurem praktischen Organizing? Oder auch Events wie etwa der 8. März?
FB: Bei uns spielt auf jeden Fall die bereits erwähnte Frage eine Rolle, inwieweit Tätigkeiten je nach Geschlechterzuschreibung gesellschaftlich anerkannt sind und entsprechend auch entlohnt werden. Die Kämpfe in diesem Bereich gehen in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung somit weit über die finanzielle Komponente hinaus. Gleichbehandlung am Arbeitsplatz spielt in Branchen eine Rolle, in denen Frauen und Männer ähnlich oder Frauen sogar mehrheitlich beschäftigt sind, sich Letztere aber nicht adäquat auch in höheren Positionen wiederfinden oder auf denselben Positionen niedriger entlohnt werden. Sexistische Vorfälle spielten auch in meinem eigenen beruflichen Erfahrungsbereich eine gewichtige Rolle, bei der Auseinandersetzung um einen gewerkschaftlichen Hauptamtlichen in Führungsposition. Dies betraf aber eine andere Gewerkschaft, für die ich vor längerer Zeit tätig war. Hier mussten sich mehrere Betroffene und ihre Kolleg:innen zusammenfinden, sich wechselseitig stärken und sehr überlegt vorgehen, bis der Konflikt in seiner Dimension ernstgenommen und zumindest vorläufig gelöst war. Trotz fortschrittlicher Beschlusslage und klarer u.a. antisexistischer und antirassistischer Orientierung stehen wir als Gewerkschafter:innen diesen Konflikten nicht nur extern gegenüber, sondern müssen die Auseinandersetzung in der gesamten Organisation, also sowohl innerhalb der Hauptamtlichenstruktur als auch mit den Ehrenamtlichen, den Mitgliedern als permanenten notwendigen Prozess begreifen.
KB: Gibt es in einem Betrieb noch keinen Tarifvertrag, ist ein zentrales Thema sehr oft ungleiche Bezahlung bei gleicher Tätigkeit. Das erhöht die Abhängigkeit des Einzelnen vom Wohlwollen des Chefs und macht die Belegschaften handlungsunfähig. Gleiche Bezahlung bei gleicher Tätigkeit ist ein wichtiges Grundelement, an dem gewerkschaftliche Kämpfe beginnen oder neu aufflammen. Sexistische Themen sind selten vorrangig, jedoch erzählen Frauen ihre Geschichten oft auch erst in Frauenrunden, wie zum Beispiel bei uns im Ortsfrauenausschuss. Was auch zeigt, wie wichtig diese Räume sind!
KE: Das Thema Equal Pay spielt in meinem Arbeitsumfeld in den Betrieben immer wieder eine Rolle, es ist leider immer noch Realität, dass Frauen für dieselbe Tätigkeit deutlich schlechter bezahlt werden, gerade in nicht tarifgebundenen Betrieben. Gerade bei Frauen, die in sogenannten »Männerberufen« in Fertigung und Produktion arbeiten, habe ich immer mal wieder erlebt, dass sie sexistischen Sprüchen von Vorgesetzten oder Kollegen ausgesetzt sind. In meiner Wahrnehmung ist das zwar nicht alltäglich und nicht überall der Fall, aber leider auch keine Ausnahme.
Ich war auch selbst schon in solchen Situationen in Betrieben, und weiß von Kolleginnen, dass es ihnen auch so ging. Insofern spielt das Thema Sexismus schon eine Rolle in meiner Arbeit. Leider ist mir nicht immer der passende Spruch eingefallen!
Der 8. März hat in den Betrieben, in denen ich unterwegs bin, einen besonderen Stellenwert. Am Weltfrauentag veranstalten BR oder VL Frühstücke oder Kaffeetrinken für die Frauen, es werden Blumen oder kleine Geschenke verteilt. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass die Gestaltung des 8. März sehr stark von den weiblichen Gewerkschaftssekretärinnen vor Ort, der Aktivität des Ortsfrauenausschusses und den Frauen in den ehrenamtlichen Gremien vor Ort abhängt. Der 8. März ist leider häufig in der Vorbereitung und Durchführung hauptsächlich »Frauensache«.