»Gestaltungsstarke Gewerkschaft in der Transformation«? Anmerkungen zum Gewerkschaftskongress der IG BCE

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIn der letzten Oktoberwoche fand in Hannover der 7. ordentliche Gewerkschaftskongress der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) statt. Unter dem Motto »Mit.Mut.Machen« präsentierte sie sich als gesellschaftliche Kraft, die den industriellen Strukturwandel sozial gestalten will. (…) Um die laufenden und zu erwartenden Transformationsprozesse in den von ihr organisierten Branchen besser zu durchdringen, hat die IG BCE bemerkenswert tiefgehende Branchenanalysen und Szenarien erstellt. Allerdings konzentrieren sich diese fast ausschließlich auf die zu erwartenden ökonomisch-technologischen und ökologischen Herausforderungen.  Die derzeitigen und zukünftigen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sowie die Schwierigkeiten und Herausforderungen für Betriebsräte und die betriebliche Gewerkschaftsarbeit werden allenfalls gestreift. Um ihrem eigenem Gestaltungsanspruch gerecht zu werden, sollte die IG BCE die »industriellen Beziehungen« stärker in den Fokus nehmen. Ob die IG BCE den Anspruch einer »gestaltungsstarken Gewerkschaft in der Transformation« einlösen können wird, bleibt abzuwarten. Will sie ihre Gestaltungsziele erreichen, wird sie sowohl ihre Praxis der So¬zialpartnerschaft überprüfen und anpassen müssen als auch ihre bekannt gute Vernetzung mit den politischen Parteien. Viel mehr wird aber davon abhängen, ob eine stärkere Mobilisierung der Mitglieder gelingt…“ Artikel von Ulrich Maaz in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 11/2021:

»Gestaltungsstarke Gewerkschaft in der Transformation«?

Anmerkungen zum Gewerkschaftskongress der IG BCE

In der letzten Oktoberwoche fand in Hannover der 7. ordentliche Gewerkschafts­kongress der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) statt. Unter dem Motto »Mit.Mut.Machen« präsentierte sie sich als gesellschaftliche Kraft, die den industriellen Strukturwandel sozial gestalten will.

Die IG BCE ist mit etwas mehr als 606.000 Mitgliedern (2020) die drittgrößte Gewerkschaft im DGB. Seit 2017 hat sie ca. 30.000 Mitglieder verloren. Bei den »betriebstätigen Personen« gab es allerdings keine Mitgliederverluste. Diese Zahl stagniert bei knapp 382.200, d.h. weniger als 60 Prozent aller IG BCE Mitglieder sind im Betrieb tätig. Gleichzeitig ist jedoch die Beschäftigtenzahl im Organisationsbereich gestiegen. Daher sank der Organisationsgrad zwischen 2017 und 2020 von 35,6 Prozent auf 32,4 Prozent. In der mit Abstand größten »Indu­strie­gruppe Chemie« waren 2020 nur etwa 30,3 Prozent der Beschäftigten in der IG BCE organisiert.[1]

Beim Gewerkschaftskongress wurde der bisherige Vorsitzende Michael Vassiliadis zum vierten Mal wiedergewählt. Er und die anderen Mitglieder des Geschäftsführenden Haupt­vorstands, Ralf Sikorski (Stellvertreter), Francesco Grioli, Karin Erhard und (neu) Birgit Biermann, erhielten mit 88 bis fast 98 Prozent sehr hohe Zustimmungsraten.

In seiner Grundsatzrede am 25. Oktober benannte Vassiliadis folgende fünf Handlungs­felder als zentral für die künftige Arbeit der IG BCE:

  • Gute Arbeit,
  • höhere Tarifbindung,
  • mehr Einkommensgerechtigkeit,
  • soziale Sicherheit, Stärkung des Sozialstaats,
  • Transformation der Industrie »gut und richtig machen«.

Zur ökologischen bzw. digitalen Transformation hat die IG BCE auf Grundlage von Dis­kus­sionen mit betrieblichen und hauptamtlichen Funktionär:innen sowie externen Sachver­ständigen Materialien unter dem Titel »Perspektive 2030 – Zukunftsgewerkschaft in Bewe­gung«[2] veröffentlicht. Dort wird der Versuch unternommen, anhand von vier gesellschaft­lichen Szenarien die Herausforderungen für die künftige Gewerkschaftsarbeit zu identi­fi­zieren. Diese Diskussion soll nach dem Kongress in der Gewerkschaftsorganisation und darüber hinaus verbreitert werden.

Auch organisationspolitisch steht die Transformation im Mittelpunkt. Neben verbesserten Abläufen und verbesserter Kommunikation innerhalb der IG BCE werden im betreffenden Leit­antrag des Hauptvorstandes (D 001) folgende Handlungsfelder benannt:

  • Stärkung und inhaltliche Weiterentwicklung der internationalen Gewerkschaftsarbeit. Das gilt insbesondere für den europäischen Verbund der Industriegewerkschaften »IndustriAll«, in dem es seit Jahren u.a. eine enge Zusammenarbeit mit der IGM gibt.
  • »Moderner DGB«: Überprüfung der Aufgabenteilung zwischen Einzelgewerkschaften und DGB, Auswertung des DGB-Zukunftsdialogs. In dem Antrag heißt es dazu:

»Das gilt umso mehr, als im Zuge der Transformation die Anforderungen an gewerk­schaftlicher [!] Gestaltung und an solidarisch organisiertem [!] Schutz in der Arbeits­welt drastisch zunehmen werden. In ihrer derzeitigen Aufstellung werden die deut­schen Gewerkschaften dieser Aufgabe nur schwer gerecht werden können. Das zeigt bereits die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Ten­denziell werden wir schwächer, trotz aller nach wie vor großen Erfolge, die nicht zuletzt in der Pandemie für die Beschäftigten durchgesetzt werden konnten, sich aber in der Mitgliederentwicklung nicht ablesen lassen.

Diese gegenläufige Tendenz zu den wachsenden Aufgaben, den tiefgreifenden Ver­änderungsprozess mitzugestalten, macht eine systematische Debatte um die Zu­kunfts­aufstellung im DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften zwingend erforderlich.

Vor diesem Hintergrund begrüßt und unterstützt die IG BCE den bereits eingeleiteten Prozess DGB 2030 und die damit begonnene Zukunftsdebatte.«

  • »Zukunftsgewerkschaft IG BCE«, z.B. Anpassung der gewerkschaftlichen Organisa­tions­strukturen.

»Unsere Branchen sind erheblichen Veränderungen unterworfen. Geschäftsmodelle verändern sich. Wertschöpfungsketten und -netzwerke werden neu geknüpft. Neue Branchen werden entstehen. Wir werden deshalb die aktuellen und zukünftigen Bran­chen­strukturen innerhalb der IG BCE besser abbilden und entsprechende Kompeten­zen entwickeln. Dazu werden wir die Industriegruppen durch neue Netzwerke sinnvoll ergänzen, wie z.B. durch den Ausbau des Pharma-Netzwerks oder die Schaffung von industriepolitischen Netzwerken im Bereich der Automobilzulieferer, Kunststoff­industrie oder erneuerbarer Energien und Wasserstoffwirtschaft. Diese Netzwerke könnten sowohl bundesweit als auch regional aktiv sein.«

Um die laufenden und zu erwartenden Transformationsprozesse in den von ihr orga­ni­sierten Branchen besser zu durchdringen, hat die IG BCE bemerkenswert tiefgehende Bran­chen­analysen und Szenarien erstellt. Allerdings konzentrieren sich diese fast ausschließlich auf die zu erwartenden ökonomisch-technologischen und ökologischen Herausforderungen.[3] Die derzeitigen und zukünftigen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sowie die Schwierig­keiten und Herausforderungen für Betriebsräte und die betriebliche Gewerkschaftsarbeit wer­den allenfalls gestreift. Um ihrem eigenem Gestaltungsanspruch gerecht zu werden, sollte die IG BCE die »industriellen Beziehungen« stärker in den Fokus nehmen.[4]

Ob die IG BCE den Anspruch einer »gestaltungsstarken Gewerkschaft in der Trans­formation« einlösen können wird, bleibt ­abzuwarten. Will sie ihre Gestaltungsziele erreichen, wird sie sowohl ihre Praxis der So­zialpartnerschaft überprüfen und anpassen müssen als auch ihre bekannt gute Vernetzung mit den politischen Parteien. Viel mehr wird aber davon abhän­gen, ob eine stärkere Mobilisierung der Mitglieder gelingt.

Zumindest beim gemeinsamen Aktionstag »Fairwandel« von IGM und IG BCE am 29. Ok­to­ber war da noch nicht viel zu sehen. So sprach Michael Vassiliadis bei einer Kund­gebung des IG BCE-Bezirks Ludwigshafen am Standort der BASF vor wenigen hundert Kolleg:innen. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass der bisherige Arbeitsminister Hubertus Heil auf dem Gewerkschaftskongress am Tag zuvor öffentlich seinen Beitritt zur IG BCE erklärt hat.

Artikel von Ulrich Maaz in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 11/2021

Fussnoten:

[1]  Vgl. Statistikteil des IG BCE-Geschäftsberichts , S. 83ff. (online nur für IG BCE-Mitglieder verfügbar).

[2]  Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie; Perspektive 2030 – Zukunftsgewerkschaft in Bewegung; Hannover 2021,
Download verfügbar unter https://igbce.de/igbce/gewerkschaftskongress/gruenbuch-179676 externer Link

[3]  Diese (aktuellen) Branchenanalysen wurden von der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE erstellt und sind als Download verfügbar unter https://www.arbeit-umwelt.de/branchenausblicke-30plus/ externer Link

[4]  Vgl. dazu den aufschlussreichen Artikel in der FAZ vom 29. Oktober mit dem Titel »Gewerkschafter beklagen steigende Arbeitslast« zur Situation im »Industriepark Frankfurt-Hoechst«, online unter: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/wirtschaft/chemiegewerkschaft-beklagt-steigende-arbeitslast-
in-transformation-17609479.html
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