Frankreich als Vorbild für die Streikwelle in Deutschland – auch ein Plädoyer für den politischen Streik
Dossier
„… Angesichts der Inflation, der Aufrüstungsekstase, der Energiekrise und den im dritten Jahr in Folge sinkenden Reallöhnen sind Arbeitskämpfe das Mittel der Wahl für eine bessere Welt. Vielleicht ist es darüber hinaus auch sinnvoll, Arbeitskämpfe aus dem harmlosen Diskurs des Sozialen zu lösen, in einer Welt, in der Soziales als etwas Weiches angesehen wird, als etwas, um das sich gesorgt werden muss. (…) Der Autor Édouard Louis schlägt vor, »von linker Sicherheit zu sprechen im Sinne von sozialer Sicherheit, Sozialhilfen, dem Recht auf Arbeit und den Rechten von Minderheiten«. Dann nämlich würden Menschen in die Lage versetzt werden, auf Basis einer ökonomischen Sicherheit eine ganz andere Form des solidarischen Lebens miteinander zu teilen. (…) Am Ende eines Textes, den Ernaux über die aktuelle Streikwelle in Frankreich geschrieben hat, richtet sie das Wort an die Streikenden, und schreibt: »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Beugen wir uns nicht.«“ Artikel von Olivier David vom 08.03.2023 im ND online , siehe auch:
- [recap] Streik: Das bringt der Arbeitskampf
„Gefühlt jagt gerade ein #Streik den anderen: Ob ÖPNV oder öffentlicher Dienst – in letzter Zeit wird oft für bessere Bedingungen bei der #Arbeit und für mehr #Geld gekämpft. Die Arbeit niederzulegen ist für Gewerkschaften wie Verdi in Tarifverhandlungen das letzte Mittel, um den Forderungen für die Arbeitnehmer Nachdruck zu verleihen. Auch die Arbeitgeber kennen das Streikrecht, finden die Auswirkungen von Warnstreiks aber oft unverhältnismäßig. Nicht selten ist dann auch von der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale die Rede und vom wirtschaftlichen Schaden, den Streiks verursachen. Klar, Streik nervt Unbeteiligte, wenn Bahn und Bus nicht fahren und man sich was für das Kind überlegen muss, wenn die Kita zu hat. Doch schaden am Ende Streiks mehr als sie nutzen? Welche Kosten verursachen Streiks? Und was bringt der Arbeitskampf? Darüber haben wir mit Arbeitgebern, Streikenden und Wissenschaftlern gesprochen. Denn: recap redet drüber!“ Video von recap von MDR AKTUELL vom 14.04.2023 bei youtube (u.a. mit Alexander Gallas), dort die Kapitel einzeln abrufbar:- 00:00 Streiks in Frankreich und Deutschland
- 01:28 Wer darf streiken – und wer nicht?
- 03:05 So viele/wenige streiken in Deutschland
- 03:39 “Streiken schadet der Wirtschaft!” – Stimmt das?
- 05:15 “Am Ende zahlen wir alle!” – Stimmt das?
- 06:20 “Wer streikt ist, rücksichtslos!” – Stimmt das?
- 07:45 Was bringt Streik?
- 09:27 Die wichtigsten Streik-Regeln09:47 Meinung: Recht auf politischen Streik!
- Mehr Konflikt wagen. Der Trend zu einer neuen Arbeitskampfkultur ist unverkennbar – ein unvollständiger Überblick über die Streiks der letzten Monate
„Allein bis Ostern 50.000 neue Mitglieder für ver.di: Die Zahl steht als Marker dafür, dass die Tarifauseinandersetzungen der letzten Monate tatsächlich ein neues Momentum in die deutsche Gewerkschaftsbewegung gebracht haben. Ob man gleich von einer »Zeitenwende« sprechen muss, wie der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, ist Geschmackssache. Womit Fratzscher recht hat: Die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich ungefähr seit der Corona-Krise zugunsten der Beschäftigten verschoben. Und denen ist ihre gewachsene Marktmacht sehr bewusst, sie machen davon Gebrauch – nicht nur, aber auch indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und streiken. Angesichts der im vergangenen Jahr rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten liegt das ja auch nahe. Vor diesem Hintergrund trafen in den ersten Monaten dieses Jahres mehrere große und ein paar kleinere Tarifbewegungen zusammen. (…) Neben der aktivierenden Befragung im Vorfeld zeichnete sich die Tarifrunde durch weitere innovative Elemente aus, wie etwa das Instrument der »Arbeitsstreiks«, bei denen nur ein zahlenmäßig kleiner, aber betrieblich aktiver Kreis von Mitgliedern zur Arbeitsniederlegung aufgerufen wird, während ansonsten der Betrieb normal weiterläuft. Die streikenden Aktiven nutzen die Zeit, um Informationen im Betrieb zu verbreiten, Gespräche mit Kolleg*innen zu führen und die nächsten Warnstreiks vorzubereiten. Ein spektakuläres Novum war auch der gemeinsame »Mega-Streik« von ver.di und Eisenbahnverkehrsgewerkschaft (EVG) zur dritten Verhandlungsrunde Ende März. (…) Dass man im Kfz-Handwerk trotzdem kraftvolle und erfolgreiche Arbeitskämpfe führen kann, haben allerdings regionale Gliederungen der IG Metall 2017 in Hessen und 2021 in Baden-Württemberg bewiesen. Das Erfolgsrezept bestand bei beiden Runden in einem kampagnenförmigen, konfliktfreudigen und aktivierenden Herangehen. Ob die IG Metall in der Lage ist, diese Erfahrungen bundesweit aufzugreifen und umzusetzen, wird spannend. (…) Die Frühjahrsstreiks 2023 stellen zwar noch keinen Bruch mit dem üblichen Austragungsmodus industrieller Beziehungen in der Bundesrepublik dar, offensichtlich ist aber, dass sich neue Trends etabliert haben – eine offensivere und konfliktfreudigere Attitüde quer durch die Gewerkschaftslandschaft, ein wachsender Einfluss von Gewerkschaftssekretär*innen, die systematisch in Organizing-Methoden ausgebildet sind und diese souverän und selbstverständlich einsetzen und, last but not least, die Kombination aus verbreitetem Unbehagen bei gleichzeitig wachsendem Selbstbewusstsein innerhalb der arbeitenden Klasse. Wohin das alles führen mag, wird entscheidend davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche und weltpolitische Situation in den nächsten Monaten und Jahren entwickelt.“ Artikel von Jörn Boewe am 18. April 2023 im ak 692 - Neue deutsche Streikwelle: In Deutschland gibt es vergleichsweise selten Ausstände – doch plötzlich wird hart und oft gekämpft. Sind neue Zeiten angebrochen?
„… Es wird derzeit ungewohnt viel und energisch gestreikt in der Bundesrepublik. In den Kommentarspalten deutscher Zeitungen wird das mit Verwunderung und spätestens seit Montag auch offener Ablehnung zur Kenntnis genommen. »Falsch, falsch, falsch«, hieß es auf »Zeit Online«. »Geht da jedes Maß verloren?«, fragte der Journalist Nikolaus Blome. Die Bild-Zeitung warnte vor dem »schlimmsten Streik seit 31 Jahren« – 1992 hatte es das letzte Mal einen Vollstreik, also nicht nur Warnstreiks, im öffentlichen Dienst gegeben. Dieser Arbeitskampf dauerte zwölf Tage an und endete mit einem damals in der ÖTV, seinerzeit die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, höchst umstrittenen Kompromiss von 5,4 Prozent Lohnerhöhung – statt der geforderten 9,5 Prozent.
Interessanter als das mediale Geschimpfe oder die erwartbaren Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts durch Arbeitgeberlobbyisten war ein Kommentar des Medienunternehmers Gabor Steingart bei »Focus Online«: Der gemeinsame Verkehrsstreik von Verdi und EVG sei »der Anfang einer neuen Zeit«, schrieb Steingart. Vordergründig gehe es zwar um die Lohnforderungen der beiden Gewerkschaften – 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro mehr im Monat für den öffentlichen Dienst und sogar zwölf Prozent und mindestens 650 Euro mehr im Monat für die Bahn-Beschäftigten, jeweils bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Aber, so Steingart, »in Wahrheit klopft hier der Vorbote einer neuen Zeit an die Tür der Deutschen. (…) Die Angst vor dem Gespenst der Arbeitslosigkeit ist verschwunden. Heute fürchten sich nicht mehr die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber – und zwar vor der Leere in Büro, Fabrik oder Abfertigungshalle, ausgelöst durch den chronisch gewordenen Arbeitskräftemangel.« Die Kräfteverhältnisse hätten sich, behauptete er, verkehrt: Das Jahrhundert der Arbeitnehmer habe begonnen. Stimmt das? (…) Ob diese oder zumindest ein deutlich höherer Mindestbetrag als die bislang angebotenen 150 Euro durchgesetzt werden können, wird entscheidend sein: Endet die Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst, wie bei der Post, in einem nur halbgaren Kompromiss, lässt man hier die Muskeln spielen, ohne letztlich in den Erzwingungsstreik zu gehen, dann hat das Signalwirkung für die Tarifrunde bei der Bahn, im Einzelhandel oder beim zweiten Flächentarifvertrag des öffentlichen Dienstes, dem TV L, der im Herbst ausläuft. Dann wird es ein heißer, aber kurzer Streikfrühling 2023 gewesen sein.
Andersherum gilt das allerdings ebenso: Wenn die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einen wirksamen Inflationsausgleich erzwingen, wenn sie dafür sogar – zum ersten Mal seit es den TVöD gibt – nach der nun erst einmal aufgezwungen Schlichtung in einen Vollstreik gehen, dann wird das auch andere Branchen und Beschäftigtengruppen beflügeln. Kommt es so, dann könnte tatsächlich so etwas wie eine neue Zeit anbrechen in der bislang streikarmen Bundesrepublik.“ Artikel von Nelli Tügel vom 31.03.2023 im ND online - Die solidarische Form von Hoffnung: Französisches Streiken gilt Deutschen gern als Teil der dortigen „Volksseele“. Dabei sind schlicht die rechtlichen Bedingungen in Frankreich besser.
„In den Pariser Straßen soll es stinken. Um die 10.000 Tonnen gefüllter, seit Tagen rumliegender Müllsäcke allein in der Hauptstadt machen den üblichen Sehenswürdigkeiten Konkurrenz. Ohne parlamentarische Abstimmung hat Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 durchgedrückt. Laut Umfragen lehnen rund zwei Drittel der Franzosen die Rentenreform ab. Sie streiken und protestieren seit Monaten dagegen. Für den 23. März ist erneut ein landesweiter Generalstreik geplant. In Frankreich wird signifikant mehr als in Deutschland gestreikt. Die Zahlen dazu sind unterschiedlich. Historiker wie Jean Garrigues sprechen von einer französischen Streikkultur, die ihre Ursprünge im Spirit der Revolution von 1789 habe. Und auch hierzulande quasseln Politikwissenschaftler*innen wie Johannes Maria Becker liberalerweise von der „französischen Volksseele“. Dabei übersehen sie, dass die rechtlichen Bedingungen für Streiks in Deutschland grundsätzlich unterschiedlich sind und in Frankreich besser. Während dort fast alle, auch die meisten Beamt*innen, unabhängig von einer gewerkschaftlichen Organisierung streiken dürfen, ist Streik in Deutschland nur im Gewerkschaftsverbund erlaubt und es muss um den Tarifvertrag gehen. Das in Deutschland restriktive Streikrecht ist unter anderen auf den Nazi und Juristen Hans Carl Nipperdey zurückzuführen und kommt bis heute Arbeitergeber*innen und elitenfreundlicher Politik zugute. Die Kriminalisierung verbandsunabhängiger, sogenannter wilder Streiks trifft insbesondere Arbeitende mit prekären Arbeitsbedingungen und Rassismusbetroffene, zum Beispiel, wenn Deutschland duldet, dass Erntearbeitende aus Osteuropa illegal ohne Sozialversicherung und unter Mindestlohn arbeiten. (…) Denn so unterschiedlich die Umstände Streikender weltweit sind, so eindeutig zeigen sie, wie die Mächtigen vor ihnen zittern. Streiks sind die solidarische Form von Hoffnung und machen diese greifbar. In diesem Sinne: Newroz pîroz be, frohes Neues und Soli mit allen Streikenden!“ Artikel von Amina Aziz vom 21. März 2023 in der taz online