Der lange Hebel. Macht und Machtressourcen von Unternehmen und Arbeitgeberverbänden im Arbeitskampf

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitArbeitskämpfe finden innerhalb spezifischer Macht- und Kräfteverhältnisse statt. Diese haben sich in der Gesamtschau seit den 1990er Jahren zu Lasten der Beschäftigtenseite verschoben. Doch obwohl bei Streiks Ursache, -verlauf und -ergebnis entscheidend durch Unternehmen und Arbeitgeberverbänden bestimmt werden, richtet sich der Blick der Öffentlichkeit wie der Gewerkschaftsforschung zumeist allein auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften. (…) Jeder Streik zeigt aber, dass sich die Macht der Beschäftigtenseite immer im Verhältnis zur Macht der Arbeitgeberseite entfalten muss (vgl. Brookes 2018). Die strukturellen, organisatorischen, institutionellen sowie diskursiven Machtressourcen der Unternehmen und Arbeitgeberverbände sind in der Debatte um gewerkschaftliche Machtressourcen jedoch vergleichsweise unterbelichtet. Diese Lücke kann hier aus Platzgründen nicht geschlossen werden, doch soll im Folgenden zumindest kursorisch beleuchtet werden, wie sich das von Matthöfer angesprochene Machtgefälle auch in den Machtressourcen der Arbeitgeberseite niederschlägt. Insbesondere soll verdeutlicht werden, dass die institutionellen Machtressourcen der Gewerkschaftsseite weit weniger stabil sind als vielfach angenommen und Unternehmen und Arbeitgeberverbänden großen Einfluss auf die Reichweite und Wirksamkeit sowohl von gesetzlicher Mitbestimmung als auch des Tarifsystems haben…“ Artikel von Heiner Dribbusch, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 4/2022:

Der lange Hebel

Macht und Machtressourcen von Unternehmen und Arbeitgeberverbänden im Arbeitskampf – von Heiner Dribbusch*

»Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften stehen den Verfügern über die Produktionsmittel nicht als gleichstarke Partei auf gleichem Plateau gegenüber. Sie kämpfen als Fordernde, als Nichthabende um Anteile, die die Gegenseite auf Grund der bestehenden Eigentums- und Rechtsordnung hat
(Hans Matthöfer, damals noch Leiter der Bildungsabteilung bei der IG Metall, 1971.)

Arbeitskämpfe finden innerhalb spezifischer Macht- und Kräfteverhältnisse statt. Diese haben sich in der Gesamtschau seit den 1990er Jahren zu Lasten der Beschäftigtenseite verschoben. Doch obwohl bei Streiks Ursache, -verlauf und -ergebnis entscheidend durch Unternehmen und Arbeitgeberverbänden bestimmt werden, richtet sich der Blick der Öffentlichkeit wie der Gewerkschaftsforschung zumeist allein auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften. Geht es um deren Durchsetzungsfähigkeit, werden zumeist vier wesentliche Quellen von Macht unterschieden (u. a. Gumbrell-McCormick/Hyman 2013; Schmalz/Dörre 2013): zum einen strukturelle Macht, die durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch die Position der Beschäftigten im Produktions- oder Verwaltungsablauf beeinflusst wird; zum zweiten Organisationsmacht in Form gewerkschaftlicher Mitgliederstärke und Mobilisierungsfähigkeit; ­drittens institutionelle Macht in Form gesetzlicher Absicherung ihrer Stellung im Betrieb und im Tarifsystem, einschließlich des über die Rechtsprechung garantierten Streikmonopols; schließlich viertens die als gesellschaftliche und diskursive Macht bezeichnete Fähigkeit, öffentliche Diskurse zu beeinflussen und die politische Agenda mitzubestimmen.

Jeder Streik zeigt aber, dass sich die Macht der Beschäftigtenseite immer im Verhältnis zur Macht der Arbeitgeberseite entfalten muss (vgl. Brookes 2018). Die strukturellen, organisatorischen, institutionellen sowie diskursiven Machtressourcen der Unternehmen und Arbeitgeberverbände sind in der Debatte um gewerkschaftliche Machtressourcen jedoch vergleichsweise unterbelichtet.

Diese Lücke kann hier aus Platzgründen nicht geschlossen werden, doch soll im Folgenden zumindest kursorisch beleuchtet werden, wie sich das von Matthöfer angesprochene Machtgefälle auch in den Machtressourcen der Arbeitgeberseite niederschlägt. Insbesondere soll verdeutlicht werden, dass die institutionellen Machtressourcen der Gewerkschaftsseite weit weniger stabil sind als vielfach angenommen und Unternehmen und Arbeitgeberverbänden großen Einfluss auf die Reichweite und Wirksamkeit sowohl von gesetzlicher Mitbestimmung als auch des Tarifsystems haben.

Die strukturelle Überlegenheit der Arbeitgeberseite

Dies beginnt bei der strukturellen Macht. Zwar unterliegen auch Unternehmen den Wechselfällen der Konjunktur, und die Druckempfindlichkeit gegenüber Streiks ist bei vollen Auftragsbüchern größer, als wenn die Absätze stocken. Letzteres musste exemplarisch Ende 2008 die IG Metall erkennen, deren Tarifrunde ins Leere lief, da die meisten Metallunternehmen angesichts der Finanzkrise ohnehin vor der Kurzarbeit standen. Umgekehrt reichten in Zeiten der Hochkonjunktur begrenzte Warnstreiks in der Metallindustrie, um passable Entgeltsteigerungen durchzusetzen. Eine Sondersituation gibt es im öffentlichen Dienst. Da viele öffentliche Dienstleistungen durch öffentliche Mittel subventioniert werden, entsteht hier beispielsweise bei Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst die Situation, dass jede durch Streik geschlossene Kita der Arbeitgeberseite Geld spart. Hier führt der originäre Zweck des Streiks, ökonomischen Druck auf die Gegenpartei auszuüben, ins Leere.

Der Macht der Beschäftigten im Arbeitsprozess steht die Entscheidungsgewalt der Unternehmen, ob und wo sie wirtschaftlich tätig werden, gegenüber. In der konkreten Auseinandersetzung ist ihre Macht dabei umso größer, je größer die Bereitschaft ist, vorübergehend streikbedingte Verluste hinzunehmen. Wie diese Kombination wirkt, bekam die Vereinigung Cockpit im von 2014 bis 2017 dauernden Arbeitskampf um die Frage der betrieblichen Altersversorgung zu spüren. Obwohl die Pilot:innen über eine enorme Arbeitsplatzmacht verfügten und zugleich in hohem Maße organisiert und geschlossen auftraten, musste Cockpit am Ende dem von Lufthansa angestrebten Systemwechsel in der Altersversorgung zustimmen. Das entscheidende Druckmittel der Firma war die Möglichkeit der Auslagerung des Flugbetriebs ins Ausland, wodurch diese Unternehmensteile vollständig dem tarifpolitischen Zugriff der Gewerkschaft entzogen worden wären. Damit relativiert sich auch ein immer wieder vorgebrachtes Argument, Dienstleistungen seien leichter zu bestreiken, da sie ja vor Ort erbracht und nicht verlagert werden könnten. Dies stimmt zwar für die Dienstleistung selbst, doch bieten sich den Unternehmen vielfältige Möglichkeiten, den Konsequenzen von Arbeitskämpfen auszuweichen, in dem die kollektive Organisierung durch Solo-Selbstständigkeit und Ausgliederungen erschwert wird. Die Paket- und Lieferdienste sind hierfür ein Beispiel.

Analog zu den Gewerkschaften besteht die Organisationsmacht der Arbeitgeberverbände in ihrer Mitgliederstärke. Die Mitgliedschaft spart dem einzelnen Unternehmen Verhandlungskosten, bietet kollektiven Schutz gegen gewerkschaftliche Forderungen und vermindert das Risiko einer allein über die Lohnkosten ausgetragenen Konkurrenz. Zugleich bindet sie jedoch das Unternehmen an die ausgehandelten Tarifverträge. Aus diesem Grund sind Gewerkschaften prinzipiell an möglichst starken, umfassend organisierten Arbeitgeberverbänden interessiert und gegenüber der Drohung des Auseinanderfallens der Arbeitgeberseite druckempfindlich. Inzwischen wird die Reichweite von Tarif­verträgen häufig zudem durch Leiharbeit, Werkverträge und Fremdvergabe untergraben. Im Einzelfall vertreten Unternehmen jedoch ihre eigenen Interessen auch wirksamer alleine. Vor allem, wo die Gewerkschaften schwach sind, kann es für Unternehmen attraktiv sein, sich gar nicht erst kollektiv zu organisieren, wie zum Beispiel in Ostdeutschland nach 1990 oder bis vor Kurzem in der Fleischwirtschaft.

Die institutionelle Macht der Unternehmen ist eng mit der strukturellen Macht verknüpft. Zwar unterliegen sie dem gleichen gesetzlichen Rahmen wie Gewerkschaften. Doch ist dieser zu ihren Gunsten gestaltet. So sind wirtschaftliche Entscheidungen weitestgehend der tariflichen Regulierung und damit dem Streikrecht entzogen. Vor allem aber können Unternehmen selbst bestimmen, ob und wenn ja in welchem Rahmen sie Tarifverhandlungen führen. Nur zwei Beispiele: Als sich ab Mitte der 2000er Jahre zahlreiche Innungen im Kfz-Handwerk nicht mehr für tarifzuständig erklärten, brach für weite Teile dieses Handwerks die Tarifbindung zusammen. 2019 hatte Edeka 5.689 seiner insgesamt 6.934 Lebensmittelfilialen an 3.700 selbstständige Kaufleute vergeben. Diese Filialen sind bis auf wenige Ausnahmen nicht tarifgebunden. Die Ressourcen, diese 3.700 Unternehmen zu organisieren und dann Haustarifverträge zu erstreiken, hat ver.di nicht und Selbstorganisation ist bei hochgradig fragmentierten Belegschaften unwahrscheinlich. Andere Unternehmen wie Rewe folgen diesem Modell.

Auch der institutionelle Rahmen unterliegt sich wandelnden Kräfteverhältnissen und Interessenlagen. Wo und zu wessen Gunsten der Staat in das institutionelle Gefüge eingreift, ist eine Frage politischer Kräfteverhältnisse und Interessenlagen. Dabei kann es, wie das Tarifeinheitsgesetz gezeigt hat, auch zu Koalitionen einzelner Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu Lasten Dritter kommen. Die Einführung des Mindestlohns wiederum verweist auf die Bedeutung gesellschaftlicher Stimmungsänderungen in Folge gewerkschaftlicher Mobilisierung. Gleichwohl sind in der Regel staatlicherseits die Ohren für die Interessen der »Wirtschaft« weiter geöffnet als für die von Beschäftigten und ihren Gewerkschaften.

Dies führt zur Frage der diskursiven Macht. Der Kampf um die Deutungshoheit von Arbeitskämpfen ist ein zentraler Aspekt vieler Arbeitskämpfe, der jeweils neu ausgefochten werden muss. Auch hier hat die Unternehmensseite einige Feldvorteile. So ist es breit im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass Firmen, die am Markt erfolgreich sind, zugleich etwas für das Gemeinwohl tun. Geht’s »der Wirtschaft« gut, geht’s den Menschen gut. Die Unternehmen stellen die Arbeitsplätze zur Verfügung, nur wer Gewinn macht, kann Leute beschäftigen. Das ist tief verankert – auch in den Gewerkschaften. Reichtum gilt als Ausweis von Tüchtigkeit und das Wort Ausbeutung fällt in der Regel nicht in Zusammenhang mit der Aneignung von Mehrwert, sondern nur in Fällen offenkundig skandalöser Arbeitsbedingungen. Und auch das nicht gleich: Der Fleischindustrie ist erst die Pandemie zum Verhängnis geworden – wobei auch während der Pandemie die ersten Hilfspakete der Regierung »der Wirtschaft« galten und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten erst mit großem Abstand und nachrangig in den Blick gerieten.

Die Gewerkschaften haben es da schwerer. Zwar zeigen Umfragen, dass wiederkehrend große Mehrheiten mit »Gewerkschaften« etwas Positives verbinden, doch schlägt sich dies keineswegs in steigenden Mitglieder­zahlen nieder. Streikenden wird häufig mit Sympathie begegnet, zumal dann, wenn ihr Einkommen in einem offensichtlichen Missverhältnis zur öffentlichen Wertschätzung ihrer Arbeit steht. Zugleich werden Tarifverträge als öffentliches Gut wahrgenommen, das es umsonst gibt. Gewerkschaften sehen sich im Konfliktfall immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden ja in erster Linie nur Partikularinteressen vertreten. Viele Tarifforderungen werden allein an der Frage gemessen, ob sie wettbewerbskonform sind oder Unternehmen überfordern könnten. In einer Studie der Otto Brenner Stiftung von 2017 über die Berichterstattung in den Medien zu Tarifkonflikten wurde festgestellt, dass in der Zeitungs-Berichterstattung über Arbeitskämpfe die Gewerkschaftsseite deutlich häufiger als die Arbeitgeberseite negativ dargestellt wurde – und zwar durchaus auch in den sogenannten liberalen Blättern wie SZ, FR und taz (vgl. Köhler/Jost 2017, S. 94f.).

Der lange Hebel ist nicht immer der längere

Trotz allem sind die langen Hebel, über die Unternehmen und Arbeitgeberverbände verfügen, nicht immer die effektiveren längeren. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: In der über viele Jahre und in mehreren Arbeitskämpfen weiterentwickelten Kampagne für eine bessere Personalausstattung in den Krankenhäusern konnten die Streikenden bei Charité und Vivantes in Berlin im letzten Jahr einen großen Erfolg erzielen. Entscheidend war eine innovative, alle Krankenhausbereiche einschließende, umfassende Kampagne, bei der Arbeitskampfführung und Verhandlung mit den Streikenden verkoppelt waren. Im Ergebnis gelang es, strukturelle und diskursive Macht effektiv zu verbinden und im Vorfeld der Berliner-Wahlen die Landespolitiker:innen als Arbeitgeberseite unter Druck zu setzen.

Weniger bekannt ist der 2021 gleichfalls erfolgreiche Arbeitskampf der IG Metall im baden-württembergischen Kfz-Handwerk. Im Vertrauen auf die Schwäche der Gewerkschaft hatte hier der Arbeitgeberverband überraschend wichtige Teile des Manteltarifvertrags, darunter neben der Wochenarbeitszeit von 36 Stunden auch die Höhe der Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Wochenendarbeit sowie die bestehende tarifliche Absicherung der Effektivverdienste in Frage gestellt. Die IG Metall reagierte umgehend mit einer umfassenden, offensiv ausgerichteten und aktionsorientierten Organisierungs- und Mobilisierungskampagne, die in dieser Intensität im Kfz-Handwerk bisher unbekannt und von der Arbeitgeberseite nicht erwartet war. Im Ergebnis mehrerer Warnstreikwellen gelang es, nach drei Wochen alle Verschlechterungen des Manteltarifvertrags komplett abzuwenden und neben einer Corona-Prämie auch eine Erhöhung der Entgelte zu erreichen.

Fazit

Beginn, Verlauf und Ergebnis von Arbeitskämpfen werden entgegen einem auch unter Linken verbreiteten Missverständnis nie alleine von den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften bestimmt. Unternehmen und Arbeitgeberverbänden stehen grundsätzlich mehr und wirkungsvollere Machtressourcen zur Verfügung. Hinter der Idee »Gewerkschaft« steht deshalb ja auch, dieses dem Lohnarbeitsverhältnis eigene Machtungleichgewicht durch kollektive Organisierung und gemeinsames Handeln zumindest teilweise auszugleichen. Zugleich ist der kollektive Zusammenschluss die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Beschäftigte die Gegenseite überhaupt zu Verhandlungen bewegen können.

Alle am Arbeitskampf Beteiligten sind jedoch auch eigensinnige Akteure mit je eigenen Handlungsspielräumen (Birke 2016). Dies schließt auf beiden Seiten des Konflikts immer auch die Möglichkeit strategischer wie taktischer Fehleinschätzungen ein. Unterschiedliche Rahmenbedingungen und Machtkonstellationen beeinflussen deshalb den Verlauf von Arbeitskämpfen, bestimmen aber nicht zwingend ihr Ergebnis. So können aus ähnlichen Konstellationen ganz unterschiedliche Konfliktverläufe entstehen. Nur eine kleine Minderheit von Tarif- und Arbeitskonflikten entwickelt sich bekanntlich überhaupt zum Arbeitskampf. Auch hierin drücken sich im Einzelnen unterschiedliche Machtverhältnisse aus.

Artikel von Heiner Dribbusch erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 4/2022

*  Heiner Dribbusch, gelernter Schreiner und Sozialwissenschaftler, war bis zu seinem Ruhestand im Dezember 2019 am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in Düsseldorf beschäftigt.

Literaturtipps:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=199848
nach oben