Corona im Betrieb: Chancen und Gelegenheiten
Dossier
„Niemand muss überrascht sein. Epidemien traten und treten alle paar Jahre auf, gelegentliche umfassende Pandemien sind zu erwarten. Detaillierte Planungen für diese Krisen liegen seit rund 15 Jahren vor. Sie liegen heute nicht in den Schubladen der Managerschreibtische, aber im Internet. Betriebliche Aktivisten können diese Lage nutzen. (…) In einigen Monaten, wenn das herzliche Dankeschön der Arbeitgeber verhallt ist, werden die Beschäftigten sich wieder erinnern, wer da seit Jahren schlecht ausbildet, bezahlt und plant. Dann wird es wieder darum gehen, wie vor der Corona-Krise, Aktionären oder Krankenhausträgern im Arbeitskampf unseren Willen aufzuzwingen. Das kann vorbereitet werden. Selbst die gruseligste Krise bietet überraschende Gelegenheiten, um die Schwachstellen des Unternehmens zu identifizieren. Organizer haben dafür den Begriff «Betriebs-Mapping» gestanzt. Das dem Bundesgesundheitsminister unterstellte Robert-Koch-Institut (RKI) hat bereits vor mehr als zehn Jahren detaillierte Vorschläge für die betriebliche Pandemieplanung vorgestellt. Sie kreisen wieder und wieder um den Begriff «essenziell» – wesentlich, lebensnotwendig, unentbehrlich. Die pfiffige Interessenvertretung schreibt nun der Personalchefin: «Hallo Frau Hatsgeschafft, in der betrieblichen Pandemieplanung identifiziert die Betriebsleitung – so gibt es das RKI vor – zunächst die essenziellen Funktionen. Welche Funktionen haben Sie als wirklich notwendig zur Aufrechterhaltung dieses Betriebs erkannt? Welche sind weniger notwendig? Im weiteren Schritt haben Sie die Personen aufgelistet, die ebenfalls essenziell sind. Die wurden dann in der Bevorratung mit antiviralen Arzneimitteln des Landes berücksichtigt. Wer ist das, und wer ist nicht so unersetzlich?…“ Artikel von Tobias Michel in der Soz Nr. 03/2020 , siehe auch:
- Kämpfen in der Pandemie: Gewerkschaftliche Bewegungen. Von Niederlagen und Mobilisierungserfolgen
„Eins ist 2021 klar geworden: Die Coronapandemie ist für das Kapital kein Anlass, den Klassenkampf einzustellen und mit den Beschäftigten sowie ihren Interessenvertretungen »gemeinsam durch die Krise« zu gehen. Ganz im Gegenteil. Die multiplen Krisen der kapitalistischen Ökonomie – neben der andauernden Pandemie sind das der außer Takt geratene Welthandel sowie die diversen technologischen Umbruchsprozesse – sollen wie stets von den abhängig Beschäftigten ausgebadet werden. Entsprechend rigoros ist das Vorgehen der Unternehmer und ihrer Statthalter in Tarifrunden und betrieblichen Konflikten. Dies trifft auf Gewerkschaftsspitzenvertreter, die angesichts der aktuellen Lage vor einer Mobilisierung der Beschäftigten meist zurückschrecken. Wo sie dennoch dazu gezwungen sind, klappt das oft erstaunlich gut. In der Krise wird kräftig zu Lasten der Beschäftigten umverteilt. Das ist die Essenz der Bilanz der Tariflohnentwicklung 2021 (…) Wegen der hohen Inflationsrate werden die Realeinkommen in der Folge um 1,4 Prozent zurückgehen, so die Prognose der WSI-Experten. Das bedeutet, dass die Kaufkraft der Beschäftigten erstmals seit längerem wieder deutlich sinkt – wohlgemerkt derjenigen, für die ein Tarifvertrag gilt, bei anderen könnte es noch schlimmer sein. Trendsetter dieser Entwicklung war die IG Metall. (…) Das alles sollte die Konzerne dazu bewegen, die »betrieblichen Transformationsprozesse« so zu gestalten, dass die Beschäftigten und ihre Arbeitsplätze dabei nicht unter die Räder kommen. Doch ein Blick auf die vergangenen Wochen reicht, um festzustellen: Das ist nicht gelungen. Opel, Alstom, Airbus, Bosch, Mahle – das sind nur einige der Unternehmen, die massenhaft Jobs zur Disposition stellen. In all diesen Fällen war die IG Metall schließlich doch gezwungen, die Belegschaften zum Protest auf die Straße zu rufen. Dass das unter den Bedingungen von Corona-Schutzmaßnahmen geht, ist inzwischen klar. Auch die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) sammelte in den vergangenen Monaten viel Erfahrung mit der Mobilisierung von Beschäftigten in der Pandemie…“ Artikel von Daniel Behruzi in der jungen Welt vom 27.12.2021 [Jahresrückblick 2021] - Handlungsmacht erlangen. Zurück zum Grundwiderspruch: Über die Notwendigkeit von Klassenanalyse, Klassenpolitik und Klassenkampf
„… Nun hat die Coronapandemie fast alles überlagert und manches umgedreht, was die wieder aufflammende Diskussion aber nicht zum Erlöschen bringt, sondern eher befeuert. In der Pandemie wurden Tätigkeiten, meist niedrig entgolten und prekär, nun von vielen als »systemrelevant« erkannt, wobei die Ungleichheit noch lange nicht beseitigt ist. Alles scheint auf die »Normalität« zu warten, aber dazu gehört auch die Fortsetzung der Diskussion um Klassenanalyse und -politik, die an Breite und Intensität gewonnen hat. Es ist zu begrüßen, dass wieder verstärkt über Klassen, Klassenanalyse und Klassenpolitik diskutiert wird. Gerade in der Soziologie, den Politikwissenschaften und in den Medien ist schon vor Corona geradezu ein Hype darüber ausgebrochen. Gerade aber die Coronapandemie und die immer deutlicher sichtbaren und verstärkten Ungleichheiten scheinen das wiedererwachte Interesse am Thema zu befeuern. Leider hat die Diskussion um Klasse noch kaum die Gewerkschaften erreicht, wo sie um so dringlicher geführt werden muss. Hoffentlich stellt sich also dieser Hype nicht als Strohfeuer heraus. (…) Das erneute Entflammen der Klassendiskussion ist zu begrüßen. Aber sie weist Schwachpunkte auf. Dazu zählt die häufige Verkürzung des Klassenbegriffs auf den Reichtum und seine Verteilung – ohne darauf einzugehen, dass der Besitz der einen Klasse der Ausbeutung und Unterdrückung der anderen Klasse entspringt. (…) Das Kapital hat nicht nur einen Horror vor der Abwesenheit von Profit, sondern auch vor der Erosion seiner Geschäftsgrundlagen, sprich: der Abschaffung des Lohnsystems. Um dies zu verhindern, hat es zahlreiche Methoden entwickelt, den Grundwiderspruch zu übertünchen und die Klassenanalyse und -politik als Massenbewusstsein zu verhindern oder zu desavouieren. Eine davon ist, sie aufzugreifen und als unzulänglich und veraltet darzustellen. die Macht, das Wirtschaftssystem selbst zu bestimmen. (…) Zudem wird eine neue Stufe der Verwirrungsrakete gezündet. Sie zielt insbesondere auf linksorientierte Menschen. Ein Mittel dazu ist der »Intersektionalismus«. Sein mangelhafter Gesellschaftsbegriff kann dazu führen, dass der Grundwiderspruch, dessen Aufhebung sicher nicht alle Probleme beseitigt, aus den Augen verloren wird. Das ist das Ziel: das artikulierte Problem vom Grundwiderspruch abzutrennen. Vielfach ist das gelungen. (…) Wenn all dies nicht reicht, wird versucht, den Humanisten in uns anzusprechen. Klassenkampf bedeute schließlich Kampf und der wiederum Gewalt. Zudem wird bewusst verschwiegen, dass es in allen Systemen seit der Urgesellschaft Klassen gab und gibt und dass die Herrschenden immer Gewalt anwandten und anwenden, ob offen oder nicht. Herrschaft ist ohne Gewalt nicht zu haben. Allein die leeren Aufstiegsversprechen des Kapitalismus implementieren Gewalt, weil sie zu Selbstzügelung (gegenüber den Ausbeutern) und Selbstgeißelung der Massen führen. (…) Verhindert werden muss auf alle Fälle, dass die Klassenfrage zu einer Schichtenfrage mutiert oder einer behaupteten »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) geopfert wird und das Verbindende vernachlässigt oder gar negiert, das Trennende jedoch als bestimmend behauptet oder gar die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit eines Klassenkompromisses propagiert wird. (…) Wichtig ist, u. a. eine linke Mehrheit in den Gewerkschaften zu erreichen, um die in zahlreichen gewerkschaftlichen Grundsätzen geforderte Überwindung des Grundwiderspruchs wieder offensiv zu vertreten und in geeigneter Weise zu verbreiten, seine Überwindung als notwendige Voraussetzung für weitere Veränderungen zu popularisieren und wirkungsmächtig zu machen. Dass die Überwindung des Grundwiderspruchs und die Stärkung von Gewerkschaften notwendig sind, dürfte von vielen, aber noch zu wenigen Menschen kaum bestritten werden. (…) Dies wiederum setzt voraus, dass Gewerkschaften a) nicht beim Sammeln von Widerständigen stehenbleiben, dass b) die jeweiligen »Gewalttaten des Kapitals« in Zusammenhang mit dem Grundwiderspruch gebracht werden und c) der Widerstand dagegen eben auch. Dazu gilt es aus der eigenen Geschichte zu lernen, aus Niederlagen und Siegen.“ Artikel von Frank Rehberg in der jungen Welt vom 19.07.2021 – Frank Rehberg ist Bildungsreferent der Verdi Bildung und Beratung gGmbH (BUB) und Betriebsratsmitglied. - Wie kommen die Gewerkschaften aus der Defensive? Strategiesuche in der Coronakrise
„Gerade jetzt müssen die Gewerkschaften eine Strategie entwickeln, die über die betriebliche Arbeit hinausreicht. Wer zahlt für die Krise? Und wie sieht eine sozial gerechte Transformationspolitik aus? Tarifkämpfe werden sich unter Pandemiebedingungen zuspitzen. Erste Anzeichen dafür gab die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes (ÖD) im Herbst 2020. Hier wollten die Arbeitgeber nicht nur eine Nullrunde gegen die Beschäftigten durchsetzen, sondern forderten umfangreiche Verschlechterungen. Gleiches zeichnete sich in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie ab. Angesichts des starken wirtschaftlichen Einbruchs wächst der Druck auf die Konfliktparteien. Aber auch die Beschäftigten sind nicht machtlos, wie die Streiks im ÖD gezeigt haben. Trotz der erschwerten Pandemiebedingungen waren sie so mobilisierungsfähig wie lange nicht mehr. Dennoch wird deutlich: Den Gewerkschaften fehlt eine gesamtgesellschaftliche politische Antwort auf die Krise und ein aus ihrer Sicht verlässlicher Partner im politischen Parteienspektrum. Die Pandemie verlangt zudem nach einer neuen Diskussion über die Wahrnehmung des politischen Mandats. Dieses darf sich nicht darauf beschränken, politische Erwartungen zu delegieren, sondern muss betriebliche Kämpfe, soziale Bewegungen und politische Initiativen miteinander verzahnen…“ Artikel von Ulrike Eifler in der Zeitschrift LuXemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis – 1/2021 - Klassenverhältnisse nach einem Jahr Pandemie
„Die bisher vorliegenden statistischen Daten zeigen schon jetzt sehr deutlich, dass sich die soziale Ungleichheit im Zuge der Coronakrise weiter verschärft. Einen detaillierten Blick auf die Krisenentwicklung und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Vermögen und Einkommen zu werfen, ist unerlässlich für die Entwicklung linker Strategien. Auch wenn härtere Verteilungskämpfe erst nach der Bundestagswahl mit der dann zu verhandelnden Staatsverschuldung zu erwarten sind, ist heute schon absehbar, wer zum Verlierer und wer zum Gewinner diese Krise werden wird. Nur wenn wir die Verschiebungen und Kontinuitäten in den KLassenverhältnissen in Deutschland in der Pandemie verstehen, kommen mögliche Ansätze für linke Politik, für Intervention und Organisierung in den Blick. (…) Die vorliegenden statistischen Daten deuten darauf hin, dass sich die soziale Ungleichheit im Zuge der Coronakrise weiter verschärft. Während die lohnabhängige Mittelklasse unter den Bedingungen eines halbherzigen Lockdowns zum großen Teil im Homeoffice sitzt und weiterhin ihr volles Gehalt bezieht, muss sich die Arbeiterklasse in Fabriken, Logistikzentren, Supermärkten und Büros weiter dem Infektionsrisiko aussetzen oder ist von wachsender Erwerbslosigkeit, Kurzarbeit und damit einhergehenden Lohnverlusten betroffen. Hier sind wiederum die un- und angelernten Arbeiter*innen stärker betroffen als diejenigen mit abgeschlossener Berufsausbildung, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigten stärker als jene im ›Normalarbeitsverhältnis‹. Dies alles wird überlagert von den Spaltungen nach Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit sowie zwischen Ost und West. Bei den Selbstständigen muss zwischen dem Kleinbürgertum (den »Soloselbstständigen«), der mittleren Bourgeoisie (den Eigentümer*innen von Unternehmen mit wenigen Beschäftigten, die selbst in ihren Unternehmen mitarbeiten müssen) und der Kapitalistenklasse (Rentiers und Eigentümer*innen von Unternehmen, die ausschließlich von der Aneignung fremder Arbeit leben, sowie das Topmanagement größerer Unternehmen) unterschieden werden. Leider liegen für die verschiedenen Größenklassen von Unternehmen für das Jahr 2020 noch keine differenzierten Daten vor. Es deutet aber alles darauf hin, dass das Kleinbürgertum und die mittlere Bourgeoisie härter von der Krise getroffen werden als die Kapitalistenklasse, zumal gerade von der Krise besonders betroffene Branchen wie die Gastronomie oder der Kulturbereich stark durch kleinere Unternehmen geprägt sind. Wie in früheren Krisen wird sich vermutlich der Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigen; viele Unternehmen werden vom Markt verschwinden. (…) Letztlich geht es um die Durchsetzung einer neuen, am gesellschaftlichen Bedarf und an ökologischer Nachhaltigkeit orientierten, auf demokratischer Planung beruhenden Produktionsweise – und zwar binnen sehr kurzer Zeit, wenn die wachsende Barbarei, die mit der Klimakatastrophe einhergeht, noch abgewendet werden soll.“ Artikel von Thomas Sablowski in der Zeitschrift LuXemburg – Gesellschaftsanalyse und linke Praxis – 1/2021 - Arbeitskonflikte in der Corona-Zeit: Das demokratische Moment des Streiks
Arbeitskampf-Experte Thorsten Schulten zieht im Interview von Johannes Schulten am 4. Mai 2021 in neues Deutschland online eine Bilanz unter das Corona-Jahr 2020: „… Natürlich hat die Pandemie die Bedingungen für die Durchführung von Arbeitskämpfen erst mal deutlich verschlechtert. Allerdings sehen wir bei den streikbedingten Ausfalltagen wie auch bei der Anzahl der beteiligten Arbeitnehmer*innen keinen Rückgang. Mit 276 600 beteiligten sich sogar mehr Beschäftigte an Arbeitskämpfen als im Vorjahr. (…) Das Streikvolumen ist nicht zurückgegangen, was auf die beiden großen Flächenauseinandersetzungen 2020 zurückzuführen ist: die Tarifrunden im öffentlichen Dienst und im öffentlichen Nahverkehr. Dass die Anzahl der einzelnen Konflikte etwas abnahm, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass unmittelbar nach Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr das gesamte Tarifgeschehen heruntergefahren beziehungsweise zunächst ausgesetzt wurde. Über sechs Wochen hat es praktisch keine Streiks mehr gegeben. Das war tatsächlich historisch. Im Laufe des Jahres hat sich dann jedoch gezeigt, dass auch unter Corona-Bedingungen die Interessen- und Verteilungskonflikte nicht verschwinden. (…) Die Gewerkschaften haben sich schnell an die neuen Bedingungen angepasst und unter Einhaltung von Hygienekonzepten und Abstandsregeln gestreikt. Es gab tatsächlich viele Präsenz-Aktionen wie Menschenketten, Autokorsos oder Veranstaltungen im Autokino. Aber klar, viel hat sich auch ins Internet verlagert. (…) Etwa indem sich Angestellte im Homeoffice digital beim Arbeitgeber abmelden und stattdessen an einer digital durchgeführten Gewerkschaftsveranstaltung teilnehmen. (…) Natürlich überlegen Gewerkschaften gerade dreimal, ob sie wirklich zum Arbeitskampf aufrufen. Aber wenn sie es dann machen, ist das gut und auch ihr Recht. Und es deutet sich eher an, dass die Konfliktintensität aktuell stark zunimmt.“ - »Mal wieder streiken«. Corona spitzt die Situation aller Lohnabhängigen zu. Schlaglichter auf die Lage der Beschäftigten in sogenannten systemrelevanten Berufen
„Die Coronapandemie legt frei, was für viele sonst nur in Schattierungen erkennbar ist. Einerseits spitzen sich die Bedingungen für weite Teile der Arbeiterklasse zu, andererseits diskutieren Medien und Politik über die Systemrelevanz bestimmter Berufe und somit auch über gesellschaftlich notwendige Arbeit. Einige Schlaglichter auf Versandhandel, Pflege, Einzelhandel und Saisonarbeit zeigen die aktuelle Situation in diesen Branchen und wie sich dort, wo Homeoffice keine Option ist, wo überdurchschnittlich viele Migranten, Migrantinnen und andere Frauen arbeiten, die Arbeitsbedingungen durch Corona verändern. Können die Beschäftigten in diesen Bereichen die aktuelle Debatte nutzen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, sich zu organisieren und konkrete Verbesserungen zu erkämpfen? Beschleunigen sich durch die Pandemie Klassenkämpfe von unten – oder droht das Gegenteil? Und welche Rolle spielen Gewerkschaften und Linke dabei? (…) Durch die Pandemie könnten sich die Kampfbedingungen für die Beschäftigten verbessern. Gewerkschaftsaktivist Christian Krähling arbeitet seit mehr als zehn Jahren am Amazon-Standort im hessischen Bad Hersfeld. »Die Unzufriedenheit vieler Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Geschäftsleitung ist im Zuge der Coronapandemie merklich gestiegen«, sagt er. Amazons Umgang mit der Krise könnte noch eine weitere, für die Leitung unerwünschte Folge haben, meint Jean-François Bérot. Der Arbeiter in einem Amazon-Versandzentrum südlich von Paris sieht in der aktuellen Krise gute Voraussetzungen dafür, dass sich Belegschaften über die Ländergrenzen hinweg vernetzen. »Überall haben Amazon-Beschäftigte die gleichen Probleme. In Frankreich, den USA und in Deutschland haben sie Angst, sich mit Corona anzustecken«, sagt Bérot. Auch außerhalb Frankreichs haben Amazon-Beschäftigte mitbekommen, wie dort lautstark vor dem Amazon-Werk dessen Schließung gefordert wurde. Dass sich der Konzern dann nach einem Gerichtsbeschluss gezwungen sah, seine großen Lagerzentren tatsächlich dichtzumachen, hat allen Amazon-Arbeitern gezeigt, was theoretisch möglich ist. (…) Zusammenschlüsse wie die Amazon Workers International reagieren auf den global tätigen Konzern. Arbeitskämpfe gegen transnational operierende Konzerne können nicht in einem Land gewonnen werden; wenn in einem Land die Belegschaft streikt, kann Amazon einfach die Waren von einem anderen Land aus verschicken. Deshalb ist es notwendig, dass auch die Arbeiterinnen und Arbeiter Wege für transnationale Arbeitskämpfe finden, sich über Ländergrenzen hinweg organisieren – und gemeinsam kampffähig werden. Mittlerweile tauschen sich täglich Beschäftigte aus etwa einem Dutzend Staaten im Rahmen der Organisation aus. Dass sie unabhängig von den großen Gewerkschaften funktioniert, sieht Krähling als Vorteil: »Für konkrete Aktionen ist es leichter, wenn sich die Beschäftigten vor Ort austauschen, weil sie den Laden besser kennen.« Außerdem könnten schneller Aktionen anlaufen, wenn keine komplizierten bürokratischen Hürden genommen werden müssen. (…) Kerekes hat versucht, dafür Unterstützung von ihrer Gewerkschaft Verdi zu bekommen – bislang ohne Erfolg. Sie sieht die Gründe beim niedrigen Organisierungsgrad in ihrer Branche: »Im Einzelhandel sind nur wenige gewerkschaftlich organisiert, und ich glaube, die Gewerkschaften interessieren sich vor allem für Bereiche, in denen sie schon viele Mitglieder haben.« Sie müssen mehr werden, damit Verdi sich für sie interessiert – und sie brauchen Verdi, um mehr zu werden. Kerekes trifft hier auf ein Problem, das andere Beschäftigte in Branchen mit niedriger gewerkschaftlicher Organisierung ebenfalls kennen: Auch Gewerkschaften müssen mit Ressourcen haushalten und überlegen, wo sich Organisation für sie lohnt. Dabei wären Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen dort dringend nötig (…) Der Aktivist Christian Frings war in den Tagen des Arbeitskampfes häufiger in Bornheim und Teil der Unterstützungsstruktur. »Bemerkenswert ist, dass einige der Feldarbeiterinnen und -arbeiter sich bei der Suche nach neuen Jobs erst einmal die Unterkünfte und die Arbeitsverträge angeschaut haben«, sagt er. Und auch IG-BAU-Sekretär Zimmermann sieht für sein Gebiet, zu dem Bornheim nicht zählt, eine Veränderung im Vergleich zu den Vorjahren: »Für die Arbeiter gab es in der Landwirtschaft selten so gute Voraussetzungen wie jetzt, denn es sind wegen der Coronakrise deutlich weniger Saisonarbeitskräfte als sonst da.« Die würden teilweise von einem anderen Hof abgeworben. Manche Felder seien aus Mangel an Arbeitskräften gar für die private Ernte freigegeben worden. Unterstützer Frings zieht eine positive Bilanz. Man habe gesehen, dass sich Linke an solchen realen Kämpfen beteiligen können: »Wir müssen die Augen aufhalten, dann können wir uns auch nützlich machen.« Denn dass Linke überhaupt von solchen wilden Streiks erfahren, ist nicht selbstverständlich. Anders als sozialrevolutionäre Aktivisten und auf Klassenpolitik fokussierte Journalistinnen und Journalisten haben die spontan Streikenden häufig andere Sorgen, als diese häufig illegalen Formen des Arbeitskampfes an die große Glocke zu hängen. (…) Noch vor wenigen Wochen war im linksliberalen Feuilleton zu lesen, die Coronapandemie läute das endgültige Ende des Neoliberalismus ein. Davon ist, so lässt sich vorläufig bilanzieren, in den betrachteten Branchen wenig zu spüren. Die Beschäftigten berichten von schlechteren Arbeitsbedingungen und haben Angst um ihre Gesundheit. Der neoliberale Kapitalismus könnte durch Corona sogar eine Renaissance erfahren: Eine Intensivierung der Ausbeutung, die Stützung der Kapitalseite durch die Regierungen, Appelle an die Arbeiterklasse, die Gürtel zum Wohle der Wirtschaft enger zu schnallen, deuten sich bereits jetzt an. Vielleicht bringt die Pandemie, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit, die besonders oft von Migranten, Migrantinnen und anderen Frauen erledigt wird, für die aktuell immer sichtbarer werdenden Klassenverhältnisse auch einen Schub für die Kämpfe von unten…“ Artikel von Sebastian Friedrich und Nina Scholz in der jungen Welt vom 05.06.2020 - Kybernetische Proletarisierung: Wie in der Pandemie existierende Konflikte verschärft werden
„Die Covid-19-Pandemie hat Unternehmen wie Amazon oder Deliveroo Gewinne beschert, geht aber auch mit einer Zunahme von Konflikten am Arbeitsplatz einher.“ Der Techniksoziologe Simon Schaupp argumentiert im Interview der Berliner Gazette vom 14. Mai 2020 , „dass die Pandemie Konflikte verschärft hat, die auf die Degradierung von Arbeitnehmer*innen durch digitale Technologien zurückzuführen sind – ein Prozess, der als “kybernetische Proletarisierung” beschreibbar ist. (…) Man kann natürlich davon ausgehen, dass diese Abwertungsprozesse nicht auf große Freude treffen und konflikthafte Reaktionen auslösen. Das ist tatsächlich auch empirisch so: es gibt eine starke Zunahme von Arbeitskämpfen in genau den Bereichen die am stärksten von dieser algorithmischen Arbeitssteuerung betroffen sind. Vor kurzem wurde eine Studie für den englischen Arbeitsmarkt veröffentlicht, die zeigt dass im Bereich der Essenslieferdienste 42 Prozent mehr Arbeitstage an Streiks verloren werden im Jahr als in der sonstigen Ökonomie. Das heißt, es gibt eine wesentliche höhere Streik-Intensität und auch gesteigerte Häufigkeit von informellen Arbeitskämpfen. Betonenswert dabei finde ich, dass es zwar die Tendenzen zu Überwachung und Atomisierung der Arbeiter*innen gibt, von denen man überall zu diesem Thema lesen kann. Vor allem Forscher*innen, die dazu keine empirische Arbeit machen, sehen vor allem immer diese Tendenzen. Und folgern daraus, dass eine Organisierung quasi unmöglich sei. Lustigerweise wurde ja genau dasselbe von den Automobilarbeiter*innen behauptet, bevor die Hochzeit der Organisierung in dieser Branche begann. Da wurde gesagt, die stehen da nur am Fließband, das ist alles technisch vorgegeben, die kann man nicht organisieren. Und danach sind genau diese Beschäftigten zum Rückgrat der Arbeiter*innenbewegung geworden. Etwas ähnliches könnte man sich durchaus auch für das kybernetische Proletariat vorstellen, also für die Personen, die eben dieser algorithmischen Arbeitssteuerung unterworfen sind und unter diesen dequalifizierten Arbeitsprozessen arbeiten. (…) Generell gibt es einen sehr engen Zusammenhang von technologischer Entwicklung und ökonomischer Krise. Ich glaube das ist ein fruchtbarer Ansatz, aus dem sich viel erklären lässt. Dabei ist meines Erachtens nach aber ein Krisenverständnis angezeigt, das nicht nur auf die Kapitallogik schaut, sondern auch auf die Reaktionsweisen von Arbeiter*innen auf die jeweiligen Restrukturierungen. Und da kann man aktuell beobachten, dass es zu Konflikten und Arbeitskämpfen kommt, auch in den neu entstandenen Bereichen der digitalen Ökonomie. Spannend wird sein, welche Formen der Konfliktkultur sich dort etablieren. Für Deutschland kann man sagen, dass sich das etablierte Modell der Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmen und Gewerkschaften schwer tut in der digitalen Ökonomie. Teilweise wird versucht, die hier üblichen Institutionen wie Betriebsräte und Gewerkschaften als Sozialpartner zu etablieren. Generell zeichnet sich aber eine antagonistischere Form der industriellen Beziehungen ab. Dabei stellt sich die Frage, ob das zu einer Zuspitzung von Klassenkonflikten führen könnte. Das scheint mir keine unwahrscheinliche Option zu sein, wenn es nicht eine präventive Reaktion der Unternehmensseite gibt, sich auf sozialpartnerschaftliche Lösungen einzulassen.“ - Klassenkampf in Zeiten der Coronakrise
„… Nachdem die vom Coronavirus befallenen Passagiere evakuiert wurden, musste das im Hafen von Yokohama stehende Kreuzfahrtschiff »Diamond Princess« gründlich gereinigt werden. Eine australische Reinigungsfirma gewann die Ausschreibung und schickte seinen Angestellten eine SMS, in der sie ihnen eine »große Chance« auf eine Woche Arbeit anbot. Es handelte es sich um Schulreinigungskräfte, die im Umgang mit solch gefährlichen Bedingungen unerfahren waren. Doch angesichts ihrer niedrigen Löhne mussten ihnen die versprochenen umgerechnet 2700 bis 3300 Euro attraktiv erscheinen. Glücklicherweise war die Gewerkschaft United Workers Union nicht bereit, die nachlässige Haltung der Unternehmensleitung hinzunehmen. Sie protestierte am Unternehmenssitz und forderte die Reinigungskräfte auf, die Arbeit nicht anzutreten, da die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen alles andere als transparent waren. Weder erhielten die Reinigungskräfte eine spezielle Ausbildung, noch wurden sie auf ihren eigenen Gesundheitszustand hin untersucht. (…) Der Streit um die »Diamond Princess« illustriert ein Problem, das in der medialen Darstellung der Coronakrise kaum vorkommt: Es wird viel darüber berichtet, wie Regierungen und Unternehmen mit der Pandemie umgehen. Weniger Aufmerksamkeit wird jedoch der Frage geschenkt, wie die Arbeitswelt umgestaltet wird – und noch weniger der Belastung der Beschäftigten selbst. (…) Die Gewerkschaften müssen sich dringend organisieren, um die Sicherheit der Beschäftigten zu schützen und dafür sorgen, dass sie sowohl den verdienten Lohn als auch den notwendigen Schutz erhalten. Darüber hinaus werden die Gewerkschaften alles tun müssen, damit die Kosten des wirtschaftlichen Abschwungs nicht von den Belegschaften übernommen werden. (…) Gegenwärtig sieht es so aus, dass das Coronavirus die bestehenden Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen wird. Aber die Arbeiterbewegung sollte die Arbeitgeber nicht vom Haken lassen, als wären sie nur Opfer der Situation. Die Unternehmen sollten Schutzkleidung bereitstellen, mehr Heimarbeit anbieten und zusätzliche bezahlte Krankentage und Gesundheitsleistungen anbieten. Unterdessen haben die Sicherheitskräfte am Frankfurter Flughafen gefordert, dass sie Gesichtsmasken tragen dürfen. Obwohl Gesichtsmasken die Verbreitung des Virus nicht unbedingt verhindern, sollten die Gewerkschaften auf jeden Fall verstärkte Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen für die Beschäftigten an vorderster Front fordern. Wie bei jeder Krise stellt sich die Frage, wer die Rechnung bezahlen wird. Die Arbeiterbewegung sollte darauf bestehen, dass die Unternehmer Verantwortung übernehmen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Öffentlichkeit zu schützen.“ Analyse von Mark Bergfeld vom 1. April 2020 bei Marx21