Wird die deutsche Mitbestimmung jetzt durch den EuGH unter dem liberalen Dogma der „Wettbewerbsfähigkeit“ ausgehebelt?

Dossier

MitbestimmungEin Jungunternehmer hat es sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Mitbestimmung in Unternehmen – europaweit –  zu beseitigen. Nun hat er sein „Zwischenziel“ erreicht: Ein Berliner Gericht hat sein Ersuchen dem EuGH vorgelegt – und das lässt düstere Vorahnungen über die weitere Zukuft der deutschen Mitbestimmung aufkommen, denn der EuGH arbeitet seit Jahren an der Vereinheitlichung des europäischen Rechts – unter dem Vorzeichen liberaler Wirtschaftspolitik. Siehe dazu eine kleine Presseschau von Volker Bahl vom 29.7.2016 und weitere Informationen zum Vorhaben

Wird die deutsche Mitbestimmung jetzt durch den EuGH
unter dem liberalen Dogma der „Wettbewerbsfähigkeit“ ausgehebelt?

Presseschau von Volker Bahl vom 29.7.2016

Wird die deutsche Mitbestimmung jetzt durch den EuGH unter dem liberalen Dogma der „Wettbewerbsfähigkeit“ ausgehebelt? Dieser Frage widmet sich am 29. Juli 2016 Franziska Augstein in der SZ externer Link: „… Der EuGH hat nun das Ansinnen des Berliner Gerichts aber angenommen. Warum? Seit Jahren arbeitet der EuGH an der Vereinheitlichung des europäischen Rechts. Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist dem nachgegangen und hat ermittelt, dass der EuGH auf diesem Weg liberale Wirtschaftspolitik zufällig unterstützt. Anders gesagt: Der kleinste gemeinsame Nenner in der europäischen Wirtschaftspolitik ist dem EuGH recht. Und weil in keinem Staat so viel Mitbestimmung herrscht wie in Deutschland, passt die nun möglicherweise nicht mehr ins Gefüge…“ Siehe die Studie von Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung externer Link , vgl. Vorwort und Teil I)

Und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) versucht sich erst einmal durch Gutachten der HBS zu wehren: Nagelprobe EuGH – Mitbestimmung untergraben oder festigen? EuGH prüft europarechtliche Konformität der deutschen Mitbestimmung. Studie von Lasse Pütz und Sebastian Sick externer Link

Der EuGH wird voraussichtlich 2017 entscheiden. Und Franziska Augstein schließt ihren Beitrag in der Süddeutschen mit der Bemerkung: „Sollte der Europäische Gerichtshof die Mitbestimmung in Deutschland zunichte zu machen, dann gäbe es noch einen Grund weniger, für die EU zu sein.“

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Weitere Informationen zum Vorhaben

  • [Mitbestimmung] Regime Shopping unter dem Schutz des Europarechts: Das Polbud-Urteil des Europäischen Gerichtshofs New
    „Die Freude über das Erzberger-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) währte nicht lange. Wir erinnern uns: Der EuGH hatte der Rechtsauffassung der Europäischen Kommission, die deutsche Unternehmensmitbestimmung beschränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit, eine klare Absage erteilt (das Erzberger-Urteil C-566/15 vom 18. Juli 2017 findet sich hier). Zudem hatte der EuGH Zweifel an der Europarechtskonformität des Territorialitätsprinzips als Anknüpfungspunkt mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts beseitigt und sich mit dem Sinn und Zweck, dem Telos, der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschäftigt. (…) Das Hauptproblem besteht (…) in dem unverantwortlichen Eingriff in das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, den der EuGH hier vorgenommen hat. Man versetze sich in die Lage der Arbeitnehmerbank eines Aufsichtsrats, in dem gerade eine für die Beschäftigten wichtige Entscheidung ansteht, eine Verschärfung des unternehmensinternen Standortwettbewerbs etwa oder die Bestellung eines umstrittenen Personalvorstands. Dank des EuGH haben sich die Machtressourcen, die sich nunmehr gegen die Arbeitnehmerbank einsetzen lassen, vergrößert. Polbud bedeutet nichts anderes, als dass die Kapitalvertreter im Aufsichtsrat jederzeit mit dem Rechtsformenwechsel drohen können, um die Arbeitnehmervertreter gefügig zu machen. (…) In Richtung vor allem der in Mitbestimmungsfragen responsiven SPD, aber auch der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker aus CDU und CSU wird daher nun maximale Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit notwendig sein. Denn leider geben die Ergebnisse der zurückliegenden Sondierungen wenig Anlass zum Optimismus. Dort findet sich kein Bekenntnis zu einem Mitbestimmungserstreckungsgesetz, sehr wohl aber ein Bekenntnis zu der bisher von Deutschland wegen der Möglichkeiten zur Mitbestimmungsvermeidung blockierten Europäischen Privatgesellschaft („Europa GmbH“), und zwar gut versteckt auf Seite 18 im Kapitel zur Innenpolitik, dort im Unterpunkt „Recht“, und hier in einem eigentlich von der Digitalisierung handelnden Spiegelstrich (…). Würden also die derzeit vorliegenden Sondierungsergebnisse 1:1 in einen Koalitionsvertrag überführt, würden die Möglichkeiten zur Mitbestimmungsvermeidung nicht beseitigt, sondern sogar zusätzlich maximiert.“ Beitrag von Martin Höpner vom 23. Januar 2018 beim Verfassungsblog externer Link
  • EuGH zu deutscher Mitbestimmung: Kein Verstoß gegen Unionsrecht 
    „Das deutsche Mitbestimmungsgesetz verstößt nicht gegen das Unionsrecht. Nicht nur Unternehmen mit mitbestimmten Aufsichtsräten können aufatmen…“ Analyse von Thomas Gennert vom 18. Juli 2017 bei Legal Tribune Online externer Link, siehe dazu auch:

    • Verfahren zur Mitbestimmung: EuGH-Urteil beseitigt akute Gefahr für Arbeitnehmerrechte – Politik in Deutschland und Europa sollte daran anknüpfen
      „Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute in der Rechtssache Erzberger entschieden, dass das deutsche Mitbestimmungsgesetz uneingeschränkt europarechtskonform ist. Der Kleinaktionär Konrad Erzberger hatte das angezweifelt und gegen die Zusammensetzung des mitbestimmten Aufsichtsrats der TUI AG geklagt…“ Pressemitteilung vom 18. Juli 2017 von und bei der Hans-Böckler-Stiftung externer Link
  • [Interview zum EU-Recht] Ein guter Tag für die Mitbestimmung 
    „… Die deutsche Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist mit EU-Recht vereinbar, sagt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe, der am EuGH die Klage eines Aktionärs der TUI AG bearbeitet. Sein Schlussantrag bereitet die Entscheidung der EuGH-Richter vor, die im Juni erwartet wird…“ Cornelia Girndt im Gespräch mit Norbert Kluge, Leiter der Abteilung Mitbestimmungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung, beim Magazin Mitbestimmung externer Link (ohne Datum)
    Wichtiges aus dem Interview: „… Am 4.Mai begründete der Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe im TUI-Fall am EuGH seine Schlussanträge. Er sagt, das deutsche Mitbestimmungsgesetz sei mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar. Der Generalanwalt sieht keine Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer und auch keine Einschränkung der Freizügigkeit. Folgen die EuGH-Richter diesem Plädoyer, so wird der 4. Mai als ein guter Tag für die Arbeitnehmer in Deutschland und in Europa in die Geschichte eingehen. (…) Folgt der EuGH dem Schlussantrag des Generalanwalts, so verschwindet erst einmal wieder der dunkle Schatten, den der TUI-Fall über die Rechtssicherheit für Arbeitnehmer und Unternehmen gelegt hatte. Die generelle Bedrohung der Mitbestimmung in Deutschland ist damit allerdings nicht vom Tisch: Der Auftrag an die nächste Regierung lautet: Gesetzliche Schlupflöcher in den deutschen Mitbestimmungsgesetzen müssen geschlossen werden. Keinem Unternehmen mit operativer Basis in Deutschland soll es möglich sein, die europäische Niederlassungsfreiheit zu nutzen, um durch einen Rechtsformwechsel aus der Mitbestimmung auszusteigen…“
  • EuGH-Verhandlung. EU-Kommission: Deutsche Mitbestimmung mit EU-Recht vereinbar
    Die EU-Kommission hat heute vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) klar gemacht: Aus ihrer Sicht ist die deutsche Unternehmensmitbestimmung absolut mit europäischem Recht vereinbar. Hintergrund: Der EuGH entscheidet noch in diesem Jahr über die Klage eines Kleinaktionärs beim Reisekonzern TUI gegen die deutsche Unternehmensmitbestimmung mit Arbeitnehmermitbestimmung in Aufsichtsräten…“ DGB-Meldung vom 24.01.2017 externer Link
  • Europäischer Gerichtshof zur Mitbestimmung: Weg da!
    „Seit 40 Jahren gibt es die deutsche Mitbestimmung. In vielen Aufsichtsräten sitzen Eigner und Arbeitnehmer. Am Dienstag will ein Banker erreichen, dass die Arbeitnehmer ihre Sitze räumen. (…) Konrad Erzberger, 30, ist kein Animateur; sein Milieu ist das einer Bank in Berlin, bei der er die Bezeichnung „Business Development Manager“ trägt. Er hält zudem Anteile an dieser Bank, so wie er auch Aktien des Touristikkonzerns Tui besitzt. (…) Erzberger greift an, dass nur diejenigen Arbeitnehmer an den Wahlen der Arbeitnehmer-Aufsichtsräte mitwirken dürfen, die für Tui in Deutschland arbeiten – nicht aber diejenigen im Ausland. Tui beschäftigt in Deutschland 10 000 Menschen, in anderen EU-Staaten insgesamt fast 40 000. (…) Gäben die Luxemburger Richter ihm recht, hieße das: Der Aufsichtsrat bei der Tui ist rechtswidrig zusammengesetzt, zumindest was die Arbeitnehmer betrifft. Deren Vertreter hätten darin nichts länger zu suchen. Und was bei der Tui rechtswidrig wäre, wäre es naturgemäß bei allen anderen Kapitalgesellschaften auch. Die Konsequenz: Vorerst nirgendwo mehr ein Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, die Eigner wären unter sich. Die Mitbestimmung im Aufsichtsrat, in mehr als 600 Firmen, wäre vorerst am Ende…“ Beitrag von Detlef Esslinger vom 22. Januar 2017 bei der SZ online externer Link
  • Die Mitbestimmung vor dem EuGH: Die Rolle der Kommission
    Der Kampf gegen die Mitbestimmung im nationalen Rahmen ist nicht neu. Jetzt aber erkennen ihre Feinde im Europarecht ein Instrument, diesen Kampf doch noch zu gewinnen. Die EU-Kommission spielt dabei eine unrühmliche Rolle. (…) Der EuGH folgt überzufällig häufig den Eingaben der Kommission. Den Nachweis führt der Politikwissenschaftler Michael Malecki in Ausgabe 1/2012 des Journal of European Public Policy (…) Malecki hat einen Datensatz von gut 1500 Streitfällen vor dem EuGH untersucht, bei denen die Kommission eine Stellungnahme abgegeben hatte. Der Datensatz besteht ausschließlich aus so genannten Vorabentscheidungsverfahren, also Vorlagefragen von nationalen Gerichten (um so ein Verfahren handelt es sich auch bei dem Erzberger-Fall; Erzberger ist der klagende TUI-Aktionär). Wie sich zeigt, folgte der EuGH in 75% der Fälle den Eingaben der Kommission. (…) Neu ist (…), dass die Feinde der Mitbestimmung nunmehr im Europarecht ein Instrument erkennen, einen Kampf doch noch zu gewinnen, den sie im nationalen Rahmen immer wieder verloren. Man beachte, dass es sowohl die Grundfreiheiten als auch das Diskriminierungsverbot, mit dem die Mitbestimmung nach Meinung von Kläger und Kommission kollidiert, in den Verträgen ja schon lange gab. Noch zu Zeiten der Biedenkopf-Kommission, deren Arbeit ich seinerzeit beobachten durfte, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, die Mitbestimmung ließe sich unter Verweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aushebeln. Die Variable im Spiel ist nicht die Anzahl der Gegner, sondern vielmehr die immer extensivere Ausdeutung der etwaig kollidierenden primärrechtlichen Grundsätze durch Kommission und EuGH. Das Europarecht muss man in diesem Spiel als in Veränderung begriffene Opportunitätsstruktur begreifen, die die inländischen Kräfteverhältnisse umstrukturiert, indem sie die Befürworter von Liberalisierung mit neuen Waffen ausstattet…“ Artikel von Martin Höpner vom 9. Dezember 2016 bei Makroskop externer Link
  • Mitbestimmung: Große deutsche Errungenschaft – Mitbestimmung gehört zur sozialen Marktwirtschaft
    In einem gemeinsamen Beitrag im Handelsblatt erklären der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, warum das deutsche Mitbestimmungsmodell eine echte Errungenschaft ist – und warnen vor möglichen negativen Folgen des anstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Unternehmensmitbestimmung…“ Artikel erschienen im Handelsblatt vom 26. September 2016 dokumentiert beim DGB externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=101954
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