Interessenvertretung ohne Streikrecht. Betriebsräte stärken den Beschäftigten den Rücken, dürfen sich aber nicht am Arbeitskampf beteiligen
„Warum wir das der SPD zu verdanken haben und wie sich die betriebliche Mitbestimmung stärken lässt“, erklärt die Soziologin Ingrid Artus im JACOBIN-Interview von Sophie-Marie Aß vom 30. Mai 2023 : „… Wir haben ein duales System industrieller Beziehungen in Deutschland. Das heißt, es gibt zwei Säulen der Interessenvertretung. Die eine ist die Betriebsverfassung, die durch das Betriebsverfassungsgesetz gesetzlich geregelt ist. Die andere ist die Tarifautonomie als Aufgabe der Gewerkschaften. Das ist die Krux, wenn wir über das Betriebsverfassungsgesetz sprechen. Die Betriebsverfassung ist von Anfang an – seit der Weimarer Republik – als von den Gewerkschaften getrennt konzipiert worden. Das heißt, die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben und auch die Rechte des Betriebsrats sind formal gesehen völlig gewerkschaftsunabhängig verfasst…“ Siehe mehr aus dem Interview:
- Weiter im Interview von Sophie-Marie Aß vom 30. Mai 2023 in Jacobin.de : „… In vielen anderen Ländern gibt es entweder eine Verknüpfung der beiden Instanzen, sodass die Gewerkschaften etwa für die Wahl der betrieblichen Vertretungen ein Vorschlagsrecht haben. Oder die Gewerkschaften sind direkt in den Betrieben repräsentiert. So war es beispielsweise in der DDR; in Großbritannien oder den USA ist es bis heute so. (…) Die meisten Betriebsräte sind Gewerkschaftsmitglied und die Gewerkschaften bieten Schulungen für sie an. Viele der ehrenamtlichen Tätigkeiten in den Geschäftsstellen der Gewerkschaften werden von Betriebsräten übernommen. Aber rein formal haben die Gewerkschaften in Deutschland nur ein sehr beschränktes Zugangsrecht zu den Betrieben. Die Gewerkschaften sind also auf die Kooperation der Betriebsräte angewiesen, auch was die Mitgliederwerbung angeht. Umgekehrt haben die Betriebsräte kein Streikrecht und formal nichts mit den Tarifverträgen zu tun. Sie dürfen keine Betriebsvereinbarungen über Löhne und die Länge der Arbeitszeiten abschließen. Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften. (…) [D]as Stinnes-Legien-Abkommen nach der gescheiterten deutschen Revolution 1918 ist die eigentliche Geburtsstunde der formalen Anerkennung der Gewerkschaften. Hugo Stinnes war ein Schwerindustrieller und führte die Arbeitgeberseite an. Carl Legien war der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, der Vorgängerorganisation des DGB. Sie haben letztendlich ein Tauschgeschäft vollzogen. Die Gewerkschaften und auch die SPD wandten sich gegen die Revolution. Die Produktionsmittel wurden nicht enteignet. Dafür wurden die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter gestärkt, der Achtstundentag eingeführt und die Abmachung getroffen, in Zukunft Kollektivvereinbarungen zu beschließen. Der Tarifvertrag als Institution ist damals anerkannt worden und wurde dann später rechtlich verfasst. Die Gewerkschaften haben sich damals zwar durchgesetzt, aber mit dem Ziel, ihren Vorrang an Verhandlungsmacht nicht an die Arbeiter und Arbeiterinnen der radikalen Betriebsrätebewegung abtreten zu müssen. Aus diesem Grund gibt es das juristische Streikmonopol der Gewerkschaften. Die Betriebsräte haben kein Streikrecht. Man hatte Angst vor einer Basis, die man nicht kontrollieren kann. Im Grunde stammt das Betriebsrätegesetz aus der Feder der SPD und der SPD-Gewerkschaften. (…) Was man sinnvollerweise einführen könnte, wäre eine jährlich verpflichtende Informationsveranstaltung, wo das Management gemeinsam mit der Gewerkschaft über die Möglichkeit eines Betriebsrats informiert, also eine verbindliche Aufklärungsveranstaltungen und eine geheime Abstimmung darüber, ob ein Betriebsrat im Unternehmen gewünscht wird. Viele Beschäftigte wissen gar nicht, dass sie das Recht haben, einen Betriebsrat zu gründen. Da müsste man eigentlich sehr viel tun. Man müsste übrigens auch in den Berufsschulen viel mehr aufklären über Gewerkschaften und Betriebsräte…“ – deshalb legen wir so viel Wert auf Vertrauensleute arbeit!
Siehe (von vielen) dazu auch im LabourNet:
- Von nix kommt nix, nä? Möglichkeiten und Grenzen kritischer Betriebsratsarbeit – ein Gespräch mit Wolfgang Schaumberg
- und unser Dossier: Betriebsrätemodernisierungsgesetz: Arbeitsminister Heil will die Rechte von Betriebsräten stärken – zu wenig
- oder auch Wolfgang Däubler zum Betriebsverfassungsgesetz: „Zeit für den nächsten Reformschub“