Krise und Ausweg: Die Gewerkschaften müssen sich erneuern. Zum aktuellen Stand der internationalen Arbeiterbewegung
„… Es dürfte keine Übertreibung sein zu sagen, dass die klassischen Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegungen weltweit in einer Krise stecken. Diese Krise scheint das Ende eines langen Zyklus zu markieren. (…) Wie sehen unter diesen Umständen die Aussichten aus? Langfristig gesehen, sind die Dinge vielleicht nicht so düster, wie sie heute erscheinen. Erstens ist vielleicht ein Hinweis auf eine paradoxe Entwicklung nützlich. Die Schwächung der Arbeiterbewegungen hat es anderen Bewegungen ermöglicht, sich einen Teil ihres ehemaligen Aktionsfeldes anzueignen. Religiöse und nationalistische Bewegungen füllen teilweise das derzeit bestehende sozial-politische Vakuum, indem sie Klassenkonflikte umlenken. Sie bieten ihren Anhängern elementare Formen sozialer Sicherheit und Vertrauensnetze, aber auch Selbstwertgefühl und klare Lebensziele. (…) Zweitens werden die Klassenkonflikte nicht abnehmen…“ Vorabdruck des letzten Kapitels von Marcel van der Linden in der jungen Welt vom 23. September 2024 aus: »… erkämpft das Menschenrecht«. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen“ – siehe mehr daraus und zum Buch:
- Weiter aus dem Vorabdruck des letzten Kapitels von Marcel van der Linden in der jungen Welt vom 23. September 2024 aus: »… erkämpft das Menschenrecht«. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen“: „… Werfen wir nur einen kurzen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre. Die Carnegie Endowment for International Peace beobachtet seit einigen Jahren soziale Proteste auf globaler Ebene. In ihrem Bericht über das Jahr 2023 stellt die Organisation fest: »Die Flut von Antiregierungsprotesten, die weltweit Länder in Aufruhr versetzt hatte, dauerte auch 2023 an. (…) Neue Proteste brachen in dreiundachtzig Ländern aus, von China und der Demokratischen Republik Kongo bis zum Irak und Nordmazedonien. (…) Hinzu kommt – drittens –, dass die globale Erwerbsbevölkerung größer und stärker vernetzt ist als je zuvor. Die Zahl der Beschäftigten stieg weltweit stark an. Gleichzeitig finden innerhalb der einzelnen Regionen enorme Verschiebungen statt. Eine historische Migration vom Land in die anschwellenden Megastädte ist im Gange. Im Jahr 1960 lag die Gesamtzahl der internationalen Migranten weltweit bei etwa 72 Millionen; bis 2015 hatte sie sich auf 243 Millionen verdreifacht. (…) Viertens gibt es auch explizite Anzeichen für eine Erneuerung. Die Organisierungsbemühungen für zuvor nicht organisierte Beschäftigte in Krankenhäusern und im Pflegesektor nahmen in den letzten Jahren zu. Der Aufstieg des Internationalen Netzwerks für Hausangestellte seit 2009 und seine Kampagne, die zum IAO-Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte führte, war für viele eine Inspiration. Die aktuellen Streiks von inhaftierten Arbeitern in den Vereinigten Staaten zeigen, dass neue Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren beginnen. In vielen Ländern versuchen die Gewerkschaften, sich für »informelle« und »illegale« Arbeiter zu öffnen. (…)
Sollte es zu einer Wiederbelebung kommen, werden die neuen politischen Formen wahrscheinlich anders aussehen als die traditionelleren. Optimal wäre wohl ein völlig neuer »Bauplan«, der mindestens drei wesentliche Merkmale aufweist.
Erstens scheint es sicher zu sein, dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die großen Herausforderungen (Weltwirtschaft, Ökologie, Gleichstellung der Geschlechter, soziale Sicherheit, Klimawandel usw.) substantiell kombiniert und transnational angegangen werden. Zweitens sollte das Verhältnis zwischen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen völlig neu überdacht werden. (…) Und drittens muss die Zweiteilung in Anarchismus und Parteisozialismus, die die globale Arbeiterbewegung seit den 1860er Jahren beherrschte, überdacht werden. (…) Dieser Lernprozess ist aus mindestens drei zusammenhängenden Gründen absolut unentbehrlich, wenn wir eine selbstverwaltende Gesellschaft errichten wollen. Erstens, weil nur autonome Menschen sich autoritären Verführungen widersetzen werden. Zu Recht verwies Otto Fenichel schon vor langer Zeit darauf, dass sozialer Unfriede nicht notwendig Aufruhr erzeugt. (…)
Zweitens, weil eine wirklich demokratische Umwälzung nur auf einer Massenteilnahme basieren kann – und nicht nur auf einer Unterstützung durch die Massen.
Drittens, weil das selbständige Handeln und Denken eine unverzichtbare Voraussetzung für das Durchbrechen einer Konsumhaltung ist. (…) Um schließlich die Autonomie zu fördern, sind kleine und große Erfolge erforderlich, die erkennen lassen, dass der Kampf lohnt. Diese Erfolge können auch andernorts, von anderen erzielt worden sein, wie es die Geschichte vielmals gezeigt hat (z.B. erfolgreiche Streiks, die andere Streiks stimulierten). Dies jedoch erfordert wiederum eine umfassende Kenntnis und Einsicht in den Kampf anderer, also den Aufbau alternativer transkontinentaler Netzwerke und Massenmedien.“ - Buch von Marcel van der Linden: »… erkämpft das Menschenrecht«. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen“, Promedia, Wien 2024, 216 S., 25 Euro – siehe mehr Infos beim Verlag