EU-Verordnung über ein Binnenmarkt-Notfallinstrument (SMEI) gefährdet das Streikrecht
Dossier
„Das Streikrecht könnte durch neue EU-Rechtsvorschriften untergraben werden, die sicherstellen sollen, dass der Binnenmarkt Krisen wie der Covid-Pandemie standhalten kann, so eine rechtliche Analyse des EGB. Die Europäische Kommission wird am Dienstag ihren Vorschlag für eine Verordnung über ein Binnenmarkt-Notfallinstrument (SMEI) verabschieden, mit dem Notfallmaßnahmen eingeführt werden sollen, um den freien Verkehr sowie die Verfügbarkeit wichtiger Waren und Dienstleistungen in künftigen Krisen zu gewährleisten. Als Teil der Reform plant die Kommission jedoch, eine bestehende Verordnung über das Funktionieren des Binnenmarktes aufzuheben, die ausdrücklich das Streikrecht schützt. Der Kommissionsentwurf für die KMU-Initiative enthält keinen solchen Schutz…“ engl. EGB-Pressemitteilung vom 12.09.2022 („Right to strike at risk in new EU law“) siehe dazu den ersten Protest aus Österreich:
- Streikrecht in Gefahr: Die brisanten Pläne der Europäischen Kommission
„Der EU-Binnenmarkt ist in der Krise: Jahrelang wurde das Binnenmarktparadigma mit den Marktfreiheiten als heiliger Gral behandelt, der Wohlstand und fairen Wettbewerb bringen sollte. Multiple Krisen wie die COVID-19-Pandemie, die Energie- und die Klimakrise zeigen, dass die bisherige Binnenmarktphilosophie ein fragiles Konstrukt mit tiefgreifenden Schwächen ist. Die EU-Kommission will mit einem neuen Paket an Rechtsvorschlägen gegen Notfälle im Binnenmarkt anzusteuern. Die soziale Dimension bleibt dabei wieder auf der Strecke. Schlimmer: Die Initiative gefährdet Grund- und Arbeitsrechte. (…) Bereits bisher war im Bereich der EU-Binnenmarktpolitik festzustellen, dass Arbeitnehmer:innen- und Gemeinwohlinteressen gegenüber den Marktfreiheiten nachrangig behandelt werden. Besonders die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu Viking und Laval machten das deutlich. Das neue Gesetzespaket zu SMEI ist aus Sicht von Gewerkschaften und der Arbeiterkammer jedoch als brandgefährliches trojanisches Pferd zu bewerten, das eine unmittelbare Gefährdung von Grund- und Arbeitsrechten darstellt: Denn die geplanten Regelungen drohen das Streikrecht sowie arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen infrage zu stellen: So wird durch den neuen Rechtsvorschlag die sogenannte „Erdbeer-Verordnung“ ersatzlos gestrichen. Diese regelte bislang das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr und enthielt in Artikel 2 eine explizite Bestimmung zum Schutz von in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechten, wie insbesondere dem Recht auf Streik. Außerdem sieht der Vorschlag vor, dass im Krisenmodus strenge Anforderungen an neue Beschränkungen am Binnenmarkt gestellt werden. Problematisch ist hierbei, dass in der EuGH-Judikatur der Begriff der Beschränkungen sehr weit ausgelegt wird: Demnach wäre fast das gesamte Arbeits- und Sozialrecht potenziell als eine solche Beschränkung erfasst. Auch die derzeit viel zu weit gefasste Definition des Begriffs Krise als „außergewöhnliches unerwartetes und plötzliches natürliches oder vom Menschen verursachtes Ereignis von außerordentlicher Tragweite“ könnte von manchen geradezu als Aufforderung zu Einschränkungen des Streikrechts (miss)verstanden werden. Hier ist klar festzuhalten: Ein unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen organisierter Streik darf niemals unter die Definition von Krise fallen. Aus all diesen Gründen kritisieren Arbeitnehmer:innenorganisationen wie der Europäische Gewerkschaftsbund den Kommissionsvorschlag heftig. Zudem ist die Zusammensetzung der Beratungsgruppe mit Skepsis zu sehen. Die Entscheidungen werden von Vertreter:innen der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission getroffen. Die Sozialpartner und andere haben nur einen Status als Beobachter:innen. Gerade die Mitglieder der Sozialpartner stehen in der Frage des Binnenmarkts aber in der Mitte des Geschehens und müssen daher aus Sicht der Gewerkschaften und Arbeiterkammer mit Stimmrecht voll eingebunden werden. (…) Der Vorschlag zum Notfallinstrument im Binnenmarkt zeigt eines ganz deutlich: Erneut wird das neoliberale Modell des freien Binnenmarkts ins Zentrum gerückt und alles im Umfeld davon angepasst. Die soziale Dimension in Krisenzeiten wird völlig außer Acht gelassen: Der Entwurf geht mit keinem Wort darauf ein, dass gerade in Krisen der Druck auf sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen ansteigt und damit ein erhöhtes Schutzbedürfnis besteht, sichere und gute Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer:innen aufrechtzuerhalten. Die Absicherung des Streikrechts spielt dabei eine zentrale Rolle, ermöglicht es Arbeitnehmer:innen doch erst, nachdrücklich für Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen einzutreten. Was es braucht, ist eine grundlegende Neuausrichtung der EU-Binnenmarktpolitik, die ihre einseitige Schieflage zugunsten von Wirtschaftsinteressen aufgibt und sich am Wohlergehen aller orientiert. Und gerade in Krisenzeiten gilt es, arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen zu stärken und nicht auszuhöhlen. Solange diese Forderungen nicht berücksichtigt werden, wird auch die ablehnende Haltung der Arbeitnehmer:innenorganisationen zum neuen Kriseninstrumentarium der EU-Kommission – völlig berechtigt – bestehen bleiben.“ Beitrag von Julia Wegerer und Frank Ey vom 13. Januar 2023 beim A&W Blog - Krisenpolitik: EU will Notfall-Rechte bei Produktion und Lieferung von Waren
„Bildung strategischer Reserven, Priorisierung bei der Produktion: Mit dem „Binnenmarkt-Notfallinstrument“ (SMEI) will die EU einen Instrumentenkasten mit weitreichenden Durchgriffsmöglichkeiten bei Mitgliedsstaaten und Unternehmen im Krisenfall.
Versorgungssicherheit wird gerade höher gehängt als das „freie Schalten“ auf dem Markt. Dieser Eindruck bestätigt sich mit dem „Binnenmarkt-Notfallinstrument“, das die EU-Kommission heute vorgestellt hat. Single Market Emergency Instrument (SMEI) heißt es in englischer Sprache. Dahinter steckt ein ganzer Werkzeugkasten, der es der EU-Führung in einem abgestuften Prozess im Extremfall gestattet, in die Produktion und Lieferung von Unternehmen einzugreifen. „Priorisierung“ ist das Schlüsselwort dazu. Die Webseite Euractiv veranschaulicht dies mit einem Beispiel aus einer Pandemie-Krise. Demnach wäre es der EU-Kommission – sofern das SMEI vom EU-Parlament und dem EU-Ministerrat angenommen wird – möglich, einen „Impfstoffhersteller dazu (zu) zwingen, Bestellungen für EU-Bürger gegenüber anderen Bestellungen zu bevorzugen, wenn der Notfallmodus als Reaktion auf eine Pandemie aktiviert wurde“. Dem folgt ein Satz, der die Dimension des neuen Instruments andeutet: Das SMEI würde der EU „die Möglichkeit geben, solche Maßnahmen auf jede Branche anzuwenden, die für die jeweilige Krise relevant ist“. Hält man sich vor Augen, dass der Vorschlag der EU-Kommission zur Krisenbekämpfung nicht nur mit Unterbrechungen von Lieferketten durch die Covid-19-Pandemie begründet wird, sondern auch mit einem Blick auf den Krieg in der Ukraine (…), so wird hier ein Möglichkeitsraum eröffnet, der noch nicht absehbar ist. Die Faz hatte schon Anfang September über den SMEI-Entwurf, der ihr nach eigenen Angaben vorlag, berichtet und erstaunliche Durchgriffs-Kompetenzen beschrieben: Demnach könne die Kommission in Notfallsituationen direkt in Produktion von wichtigen Waren oder auch Vorprodukten eingreifen. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission wolle sie „Unternehmen dann direkt vorschreiben können, welchen Aufträgen sie Vorrang zugestehen sollen. Die Unternehmen sollen sich dem nur widersetzen können, wenn sie das in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt oder sie dazu aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage sind“. Zur Brisanz der Kompetenzausweitung gehört laut Informationen der wirtschaftsnahen Zeitung, dass privatwirtschaftliche Verträge, Verträge mit anderen Unternehmen, weniger Priorität haben und also zurückstehen sollen. Die Kommission gestehe zu, dass „die Regeln für die Neuorganisation oder den Aufbau von Fertigungslinien ein weitgehender Eingriff in die Geschäftsfreiheit ist“. (…) Die Befugnisse betreffen nicht nur Unternehmen, sondern auch Staaten. Auch Mitgliedsstaaten könnte die EU-Kommission „im Extremfall“ vorschreiben, innerhalb eines bestimmten Zeitraums konkrete Lagerbestände wichtiger Waren aufzubauen. (…) Laut Reuters erwartet man „heftigen Widerstand seitens der Unternehmen und einiger EU-Länder“. Wie der Nachrichtendienst berichtet, vergleichen Kritiker die Zugriffsrechte des Single Market Emergency Instrument (SMEI) mit einem „Staatskapitalismus à la China“. Auch im Europaparlament und im EU-Ministerrat, die beide zustimmen müssen, gibt es Kritik am Notfallinstrument.“ Beitrag von Thomas Pany vom 19. September 2022 in Telepolis - ÖGB-Katzian: Keine Krise dieser Welt darf das Streikrecht außer Kraft setzen. Auch die EU-Kommission muss Grundrechte von ArbeitnehmerInnen stärken statt sie einzuschränken
„„Wir erteilen jedem Versuch, Arbeitskämpfe einzuschränken, zu erschweren oder sie unmöglich zu machen, eine deutliche Absage“, kommentierte ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian bei einer Sitzung des Bundesvorstands der Produktionsgewerkschaft PRO-GE eine geplante neue Rechtsvorschrift der EU. Der Vorschlag für die Verordnung über ein Binnenmarkt-Notfallinstrument (SMEI), der kommenden Montag präsentiert werden soll, sieht Notfallmaßnahmen vor, um in künftigen Krisen die Verfügbarkeit wichtiger Waren und Dienstleistungen sicherzustellen. Informierten Kreisen zufolge sieht ein Teil der Reform aber auch die Aufhebung einer Verordnung vor, die ausdrücklich das Streikrecht schützt, warnen die ExpertInnen des EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund). „Das wäre eine Einschränkung, die es mit allen Mitteln und vereinten Kräften zu verhindern gilt“, so Katzian weiter. „Das Streikrecht ist untrennbar mit dem Recht der ArbeitnehmerInnen auf Kollektivvertragsverhandlungen und faire Arbeitsbedingungen verbunden. Es ist absurd, dass es ausgerechnet in Krisenzeiten außer Kraft gesetzt werden soll.“ Gerade die Covid-19-Pandemie habe gezeigt, wie sehr ArbeitnehmerInnen unter den Folgen einer Krise leiden und wie wichtig die Unterstützung der Gewerkschaften ist. „Weder die Krisenvorsorge noch ihre Bewältigung dürfen als Mittel zur Aushöhlung oder Aufhebung von Grundrechten eingesetzt werden“, sagt der ÖGB-Präsident.
PRO-GE-Wimmer: „Hände weg vom Streikrecht“
„Hände weg vom Streikrecht, das durch die Menschenrechtskonvention abgesichert ist und von der EU-Grundrechtecharta garantiert wird. Jeder Versuch der Einschränkung ist ein Angriff auf fundamentale ArbeitnehmerInnenrechte und auch auf die Demokratie“, stellt auch Rainer Wimmer, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft PRO-GE, klar. Die Rechte von ArbeitnehmerInnen dürften auf keinen Fall durch neue EU-Rechtsvorschriften untergraben werden. Niemand, der an einem Arbeitskampf teilnehme, dürfe deswegen benachteiligt werden.„Wir unterstützen die EGB-Forderung an die EU-Kommission, die Garantien für die Grundrechte in dieser Gesetzgebung zu stärken, insbesondere wenn es um soziale, Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte geht“, halten Katzian und Wimmer fest: „ArbeitnehmerInnen brauchen Unterstützung, keine Knebel – auch die EU-Kommission muss diese Verantwortung wahrnehmen.“ Pressemitteilung vom 13.9.2022 von und bei PRO-GE
Siehe zum Thema auch:
- Infos zum Binnenmarkt-Notfallinstrument bei EURACTIV
- Internationalen Überblick im Dossier: Du bist „systemrelevant“, wenn Dein Lohn nicht steigt, aber Dein Streik – mal wieder – verboten werden soll
- Dossier: Kampagne für ein umfassendes Streikrecht – auch gegen massive Preissteigerungen, hohe Mieten oder Heizkosten…
- Dossier: Mythos wilder Streik + Illegalität. Neue Debatte zum Grundrecht auf Streik am Bsp. Gorillas