BAG-Entscheidung: ver.di darf Streikposten auf Amazon-Betriebsparkplatz aufstellen

Dossier

12.7.2016: Amazon-Mitarbeiter legen am Prime-Day die Arbeit niederDas Bundesarbeitsgericht (BAG) hat heute in zwei Verfahren entschieden, dass ver.di auf von Amazon gepachteten Parkplätzen Streikposten aufstellen durfte. „Diese Urteile sind eine wesentliche Entscheidung zur Rechtsklarheit bei der Durchführung von Streiks – nicht nur bei Amazon. Mit der Entscheidung hat das BAG anerkannt, dass dem verfassungsrechtlich verbrieften Streikrecht Vorrang gegenüber dem Besitzrecht an einem Betriebsparkplatz gebühren kann“, sagte ver.di Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Gegenstand der beiden Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht (1 AZR 12/17 und 1 AZR 189/17) war die Frage, ob die Gewerkschaft Informationen über den laufenden Streik an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf einem nicht zum eigentlichen Betriebsgelände gehörenden Parkplatz weitergeben darf, den Amazon angemietet hat, der aber wesentlicher Zugangsbereich zum Betriebsgelände ist. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob das schrankenlose Grundrecht aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz (Streikrecht) mit dem Besitzrecht an diesem Parkplatz kollidiert, wobei der Einsatz der Streikposten den Betriebsablauf nicht gestört hat…“ ver.di-Pressemitteilung vom 20. November 2018 externer Link – siehe dazu:

  • [BVerfG bestätigt BAG-Entscheidung – Kommentar] Verfassungsbeschwerden gegen Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände der Arbeitgeberinnen [amazon] erfolglos New
    „Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen Entscheidungen der Arbeitsgerichte über die Zulässigkeit von Streikmaßnahmen auf dem Betriebsparkplatz direkt vor dem Haupteingang zum Betrieb richteten. Die Kammer entschied, dass die nicht tarifgebundenen Beschwerdeführerinnen durch Streikmaßnahmen auf dem betriebseigenen Parkplatz vor dem Eingang zum Betrieb nicht in ihren Grundrechten auf Eigentum und unternehmerische Handlungsfreiheit verletzt werden, da die Gewerkschaft auf die Möglichkeit angewiesen sei, Beschäftigte ansprechen zu können, um ihre Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG auszuüben. Diese Abwägung der betroffenen Grundrechte verkennt die grundgesetzlichen Wertungen nicht. Daher sind die fachgerichtlichen Entscheidungen hier verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. (…) Das Bundesarbeitsgericht hat mit Blick auf das Hausrecht der Beschwerdeführerinnen zutreffend die Wertungen der Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG sowie der von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten unternehmerischen Handlungsfreiheit zugrunde gelegt. Demgegenüber hat es zu Recht nicht auch auf die negative Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerinnen aus Art. 9 Abs. 3 GG abgestellt. Diese umfasst das Recht, sich nicht zu Koalitionen zusammenzuschließen, bestehenden Koalitionen fernzubleiben sowie aus diesen auszutreten. Hier zielten die gewerkschaftlichen Aktionen nicht darauf, die Unternehmen zu einem Verbandseintritt zu bewegen. Vielmehr sollte ein Haustarifvertrag erkämpft werden, der keine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband erfordert. Es ist nicht Bestandteil der negativen Koalitionsfreiheit, von jeglichen Betätigungen der Koalitionen gänzlich verschont zu bleiben. (…) Wenn das Gericht hier unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass die konkret auf eine Arbeitskampfmaßnahme bezogene Ansprache Arbeitswilliger nur auf dem Betriebsparkplatz möglich sei, ist das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Damit werden die Grundrechte der Gewerkschaft nicht einseitig privilegiert; insbesondere muss das Eigentumsrecht der Beschwerdeführerinnen nicht vollständig zurücktreten. Das Bundesarbeitsgericht hat vielmehr darauf abgestellt, dass die Aktivitäten der Gewerkschaft in engem zeitlichen Zusammenhang zur Ansprache der arbeitswilligen Beschäftigten stehen müssten. Dabei musste das Bundesarbeitsgericht der Gewerkschaft auch nicht vorwerfen, keine Streikgasse gebildet zu haben. Der Platzbedarf von den in einem Verfahren genannten 65 Personen kann im Verhältnis zu einer ebenfalls genannten Parkplatzfläche von nahezu 30.000 Quadratmetern keine Beeinträchtigung erzeugen, die den Beschwerdeführerinnen ihre Grundrechte insbesondere aus Art. 14 Abs. 1 GG nehmen würde. Vielmehr konnten Arbeitswillige auf dem Betriebsparkplatz weiter ihr Fahrzeug abstellen und an ihren Arbeitsplatz gelangen.“ BVerfGE-Pressemitteilung vom 5. August 2020 externer Link zum Beschluss 1 BvR 719/19, 1 BvR 720/19 vom 9. Juli 2020 und der Kommentar:

    • Kommentar von Armin Kammrad
      Ist das wirklich ein „gewerkschaftlicher Erfolg“ (so die SZ am 5. August), wenn ver.di – nun höchstrichterlich bestätigt – nach gut sechs Jahren zermürbenden Anstrengungen um angemessene Entlohnung und Arbeitsbedingungen, ausnahmsweise auch mal auf dem firmeneigenen Parkplatz für solidarischen Streik werben darf, um so überhaupt in relevanter Nähe zur Arbeitsstätte die betroffenen abhängig Beschäftigen zu erreichen? Wer dies ernsthaft annimmt, versteht offenbar nicht so recht, welche Bedeutung der Kampf um die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ (Art. 9 Abs. 3 GG) für die abhängig Beschäftigten – natürlich nicht nur bei amazon – hat. Dass das BAG hier zugunsten von ver.di das Hausrecht aus §§ 858, 862 BGB mal hintenan stellte, tut amazon nicht weh. Dies schon deshalb nicht, weil das BAG hier die „Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG sowie der von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten unternehmerischen Handlungsfreiheit zugrunde“ legte – so das dem BAG zustimmende BVerfG -, obwohl Gewerkschaften die Interessen der Beschäftigten nur dann durchsetzen können, wenn sie durch Streik und auch ggf. Boykott massiv in diese Handelsfreiheit eingreifen. So etwas wäre durchaus verfassungskonform, auch wenn das leider sowohl das BAG als auch nun die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG nicht zur verfassungsrechtlich entscheidenden Grundlage ihrer Wertung machen.
      So bestätigt der 3. Senat die BAG-Herangehensweise im Beschluss mit dem konstruierten, angeblich verfassungskonformen, Auftrag: „im Ausgangspunkt gleichberechtigte Freiheit auch im Fall kollidierender Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zur Geltung zu bringen“ (1 BvR 719/19, 1 BvR 720/19, Rdnr. 9). Dabei sollte jedem, der Art. 9 Abs.3 GG ernst nimmt, eigentlich klar sein: Die Interessen der abhängigen Beschäftigten bei amazon stimmen nun einmal ganz praktisch nicht mit denen der Eigentümer und Vernutzer der Arbeitskraft bei amazon überein. Solche „praktischen Konkordanz“ ist ausschließlich ein Vorteil für die Kapitalseite – was das Beispiel amazon gerade seit Jahren sehr anschaulich beweist.
      Es ist deshalb auch völlig verfehlt, das Koalitionsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG im Sinne einer Sozialpartnerschaft im beiderseitigen Interesse auszulegen. Wählt amazon den Weg einer „negative Koalitionsfreiheit“ – verzichtet also auf Mitgliedschaft in einer Arbeitgeberkoalition -, so stellt sich amazon damit nicht nur außerhalb der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 GG. Auf einen „Haustarif“ hat amazon nämlich keinerlei (Ersatz)-Anspruch, wohl aber ver.di auf Arbeitskampf als rechtmäßige Koalition im Sinne von Art. 9 GG. Der Verweis der Gerichte auf den Haustarif als Rechtfertigung, geht also am Thema völlig vorbei und stellt sogar einen unzulässigen Eingriff in das Arbeitskampfrecht nach dem Grundgesetz dar. Ebenso hat amazon keinen Anspruch auf unbehinderten Zugang seiner abhängig Beschäftigten zum Arbeitsplatz, was das BVerfG als sehr entscheidet für ein Verständnis für ver.di’s Parkplatznutzung anführt (vgl. oben PM). Letztlich geht es amazon doch nur darum, ob überhaupt sein Kapitaleigentum durch Arbeitskampfmaßnahmen beeinträchtigt werden darf. Und nur das hätten BAG und BVerfG auch unabhängig von irgendwelchen örtlichen Besonderheiten beantworten müssen.
      So sollte niemand diese höchstrichterliche Auslegung des Streikrechts falsch verstehen und meinen, man könnte nun guten Gewissens für Streikaktionen das Eigentum der kapitalistischen Gegenseite betreten. Hierzu ist die den Entscheidungen zugrundeliegende Situation viel zu speziell. Aber gerade deshalb lässt sich aus dieser Entscheidung auch nicht umgekehrt herauslesen, dass Betriebsbesetzungen im Streikfall oder ein Boykott der Zugänge zum Arbeitsplatz eindeutig verfassungswidrig seien. In diesem Streitfall nutzten beide Gerichte nur die spezielle örtliche Situation, um mit einem scheinbaren Entgegenkommen zugleich eigenwillige Grundsätze eines sozialpartnerschaftlichen Ausgleiches vorzutragen, ohne das Problem fehlender Parität im realistischen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit überhaupt nur zu erwägen. Die „unternehmerische Handlungsfreiheit“ müssen die Gewerkschaften jedoch antasten, wollen sie wirklich bestehende Machtverhältnisse ändern. „Schließlich hat das Bundesarbeitsgericht das Spannungsverhältnis zwischen Eigentum sowie Handlungsfreiheit der Unternehmen als Arbeitgeber und Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft nachvollziehbar aufgelöst“, frohlockt die 3. Kammer des Ersten Senats. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass der ehemalige hochdotierte Arbeitgeberanwalt Herr Harbarth diese Absegnung mit zu verantworten hat. Was will amazon denn anderes als eine von gewerkschaftlichen Kämpfen ungetrübte Allmacht kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und kein kritisches Spannungsverhältnis durch Arbeitskämpfe?
      Verfassungsrechtlich soll nun alles klar sein und Ruhe herrschen: Der Rest „ist in erster Linie Sache der Fachgerichte. Der ihnen zustehende Spielraum ist nicht überschritten, denn die Abwägung der betroffenen Rechtspositionen genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen“, behauptet zufrieden die Kammer. Nicht nur ver.di sollte jedoch dem destruktiven kapitalistischen Eigentumsrecht gerade keinen Spielraum zugestehen und sich statt am BAG und BVerfG eher an Art. 14 Abs. 2 GG orientieren: „Eigentum verpflichtet“ – auch zum Recht ggf. durch effektiven Streik die Interessen der werktätigen Mehrheit durchsetzen zu können. Würde amazon übrigens nach Art. 15 GG in Gemeineigentum überführt, gäbe es kein Problem mehr mit der Nutzung privater Firmenparkplätzen und das Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit wäre in diesem Fall wenn wahrscheinlich nicht ganz gelöst, so doch deutlich entschärft. Außerdem: BAG und BVerfG wären entlastet von der Klärung solch zeitaufwändiger und völlig überflüssiger Rechtprobleme.“ Kommentar von Armin Kammrad vom 6.8.2020 – wir danken!
  • Streikposten im Betrieb? Das BAG-Urteil und falsche Interpretationen dazu 
    „… Das war und das ist nichts Neues. Schon im Jahre 1901 (!) hatte das Reichsgericht festgestellt, dass die blosse Einwirkung von Streikposten auf Streikbrecher straflos sei. Ansonsten versuchten die Unternehmer jahrzehntelang das Streikpostenstehen mit dem Argument zu verhindern, Streikbrecher würden in ihrer „Freiheit“ von Streikposten bedroht oder beeinträchtigt. Die Frage, ob ein Streik auf dem Betriebsgelände stattfinden könne (also quasi Betriebsbesetzungen zulässig seien) wurde weder damals noch heute gestellt. Streikposten standen und stehen am „Eingang“. Was sich änderte war nicht die Rechtsprechung sondern die Lokalität von „Betriebseingängen“. Was früher direkt an eine öffentliche Strasse grenzte, hat jetzt im Vorfeld riesige Parkplätze, denn die wenigsten Beschäftigten kommen noch mit Fahrrad oder zu Fuss. Und wenn bei einem solchen Sachverhalt die Streikposten nur noch an der Einfahrt zum Parkplatz stehen dürfen, dann rauschen die Beschäftigten mit ihren PKW garantiert an ihnen vorbei. Ein Recht der Streikposten, die Fahrer anzuhalten besteht nicht. Damit hätte das Streikpostenstehen n u r noch dekorativen Charakter. Deshalb urteilte jetzt das BAG, dass das Streikpostenstehen gegebenfalls „mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten“ auf einem Firmenparkplatz „vor dem Betriebsgelände zulässig“ sein k ö n n e. Ein Schelm, wer darin die Zulassung von Streiks auf dem Werksgelände sieht… (…) Der Schritt hin zu einer „Legalisierung“ des Streiks auch auf dem Betriebsgelände steht noch aus. Und doch zeigt das Urteil, dass gewerkschaftliche Praxis auf Dauer sehr wohl auch zu einer weniger streikfeindlichen Rechtsprechung führen kann…“ Kommentar von und bei Rolf Geffken vom 22.11.2018 externer Link. Darin nicht unwichtig zu ver.di bei amazon: „… Zweifellos hat bei der Beurteilung des Falles für das BAG auch eine Rolle gespielt, dass die grösste Dienstleistungsgewerkschaft der Welt (!) nun seit über 4 Jahren erfolglos versucht, den Giganten amazon zum Abschluss eines Tarifvertrages zu bewegen. Wenn sich das fortsetzt dann steht über kurz oder lang sogar der vom BAG entwickelte und von den DGB-Gewerkschaften anerkannte BEGRIFF der Gewerkschaft auf dem Spiel. Danach ist eine Gewerkschaft nur dann „tariffähig“, wenn sie „genügend Druck auf den sozialen Gegenspieler ausüben kann“ und dieser sich deshalb zum Abschluss von Tarifverträgen veranlasst sieht: amazon hat sich bis heute zu n i c h t s veranlasst gesehen. Es führt die Gewerkschaften u n d die Rechtsprechung regelrecht vor…“
  • Siehe zum Hintergrundaus 2015: Amazon-Klage gegen Streikrechte gescheitert sowie von 2016: [Amazon Pforzheim] Flugblatt-Verteilaktion auf Amazon-Gelände untersagt und Amazon scheitert vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – ver.di darf auch auf Amazon-Firmengelände streiken
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=140317
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