Logistik: Lagerkoller. Markiert Corona das Ende des billigen Transports?

Wildcat 110 vom Herbst 2022„… Eine Zäsur im Klassenkampf war die Einführung des Containers Ende der 60er Jahre. Er hat Transportarbeit und Infrastruktur gewaltig verändert, erlaubt schnelles Umladen zwischen Schiff, Eisenbahn und LKW – und den Abbau von Arbeitsplätzen. (…) Das globale Logistiknetzwerk führte zu einem weltweiten Preisdruck nach unten, »reaktionsschnelle Lieferketten« konnten lästige ArbeiterInnen und ihre Kämpfe eindämmen. Aber seit einigen Jahren treten im Just in time-­Regime immer mehr systemische Probleme zu­tage. In der Covid-Pandemie wurden »gerissene Lieferketten« zum ersten Mal auf der ganzen Welt gleichzeitig spürbar. Ausgerechnet die Transportunternehmer ziehen riesige Gewinne aus diesem jahrelangen Chaos. Ihre Extraprofite tragen zur Verteuerung aller Güter bei. Die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen im Transport sind heute fast so populär wie die für die Pflege. Die Löhne der LKW-FahrerInnen sind in einigen Ländern deutlich gestiegen; denn es herrscht Arbeitermangel. Weltweit sind ein Fünftel der Stellen unbesetzt; durch den Krieg in der Ukraine fehlen zusätzlich Zigtausende ukrainische und weißrussische LKW-Fahrer. Der Zeitpunkt für Arbeiterkämpfe ist also günstig. Und tatsächlich gibt es 2022 massive Streiks…“ Artikel „Logistik: Lagerkoller“ aus der Wildcat 110 vom Herbst 2022 (dort in der english version externer Link: „Container Fever“) – wir danken der Redaktion und empfehlen selbstverständlich das gesamte Heft 110 externer Link

Lagerkoller

Heinrich Heine schrieb 1843, die Eisenbahn töte den Raum, uns bliebe nur noch die Zeit. Karl Marx verdichtete das zum berühmten Satz, dass die neuen Kommunikations- und Transportmittel den Raum durch Zeit vernichten. Durch die Industria­lisierung konnten die Unternehmer (auch lange) Strecken immer schneller überwinden und bei sinkenden Transportkosten die Produktion »über jede räumliche Schranke hinaus« verteilen (Grundrisse). Die Ausweitung von Energieeinsatz und Transport hat mehr als 150 Jahre gut funktioniert, um Märkte und Arbeitskraft-Reservoirs zu erschließen, die Produktivität zu steigern und die Umschlagszeit zu verkürzen.

Vorausgegangen war die Ausweitung des Schiffsverkehrs – mit dem Bau von Kanälen für die Binnenschifffahrt und der Entwicklung von interkontinentalen Seewegen für den Transport von Sklaven und »Kolonialwaren«.

Ab Ende des 18. Jahrhunderts setzten die Kapitalisten auf Dampfkraft in Bergwerken und Textilfabriken. Um die Kohle heranzuschaffen, wurde im 19. Jahrhundert das Eisenbahnnetz ausgebaut, Lokomotiven und Schiffe wurden ebenfalls mit Dampf betrieben.

Seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts fahren riesige Öltanker durch die Meere; Erdöl war der Rohstoff der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Schiffsantrieb, Autos, Heizung, Chemie­industrie).

Eine Zäsur im Klassenkampf war die Einführung des Containers Ende der 60er Jahre. Er hat Transportarbeit und Infrastruktur gewaltig verändert, erlaubt schnelles Umladen zwischen Schiff, Eisenbahn und LKW – und den Abbau von Arbeitsplätzen.

Seit den 1970ern flossen immer mehr Investitionen in den Aufbau globaler Transportrouten. Sie waren die Voraussetzung dafür, um Großfabriken zu zerschlagen und Produktion auszulagern. Ab den 1990er Jahren setzte man weltweit auf die globale Zulieferung just in time. »Logistik« wurde nicht mehr als eine Unternehmensabteilung unter vielen behandelt, sondern als eigenständige Sphäre, auf die sich Wissenschaft, Unternehmensberater, IT-, Sicherheits- und Finanzbranche stürzten. Das globale Logistiknetzwerk führte zu einem weltweiten Preisdruck nach unten, »reaktionsschnelle Lieferketten« konnten lästige ArbeiterInnen und ihre Kämpfe eindämmen.

Aber seit einigen Jahren treten im Just in time-­Regime immer mehr systemische Probleme zu­tage. In der Covid-Pandemie wurden »gerissene Liefer­ketten« zum ersten Mal auf der ganzen Welt gleichzeitig spürbar. Ausgerechnet die Transportunternehmer ziehen riesige Gewinne aus diesem jahrelangen Chaos. Ihre Extraprofite tragen zur Verteuerung aller Güter bei.

Die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen im Transport sind heute fast so populär wie die für die Pflege. Die Löhne der LKW-FahrerInnen sind in einigen Ländern deutlich gestiegen; denn es herrscht Arbeitermangel. Weltweit sind ein Fünftel der Stellen unbesetzt; durch den Krieg in der Ukraine fehlen zusätzlich Zigtausende ukrainische und weißrussische LKW-Fahrer.

Der Zeitpunkt für Arbeiterkämpfe ist also günstig. Und tatsächlich gibt es 2022 massive Streiks. Zum ersten Mal seit 1978 Jahren legten die norddeutschen HafenarbeiterInnen wieder die Arbeit nieder – für höhere Löhne und gegen das »Inflationsmonster«. In England streik(t)en Eisenbahner­Innen, U-BahnfahrerInnen, Amazon-ArbeiterInnen; gerade haben ArbeiterInnen im größten englischen Hafen Felixstowe mit 92 Prozent für einen Streik gestimmt. An fast allen großen europäischen Flughäfen gab und gibt es Kämpfe, zuletzt die Piloten… Auch außerhalb Europas kommt es zu Arbeitsniederlegungen. In Südkorea stand nach einem LKW-Fahrerstreik die Exportwirtschaft kurz vor dem Kollaps; die Regierung setzte das Militär als Fahrer ein. Im Juli organisierten Amazon-ArbeiterInnen in der US-Stadt Atlanta den ersten Walkout in den Südstaaten.[1]

In der Geschichte sind in den unterschiedlichen »Transportregimen« immer wieder kämpferische Klassenzusammensetzungen entstanden. Hafenarbeiter und Seeleute konnten sich schon sehr früh international organisieren und in Kämpfen ihre Macht ausspielen. Im Eisenbahnbau kam es zu den ersten großen Arbeiterkämpfen. Lokführer und Bahnarbeiter konnten durch ihre Streiks immer wieder bessere Bedingungen durchsetzen. Die Durchsetzung von Erdöl machte einen der militantesten Teile der Arbeiterklasse überflüssig: die Kohlekumpel. Heute sehen wir von London bis Myanmar, wie sich Rider organisieren; ihre Kampfbereitschaft ist groß, ihre Machtposition eher schlecht. In Fortsetzung der Artikel in den letzten Heften zu Lagerarbeit und zu den Hafenarbeiter-Streiks in Piräus (Griechenland) schauen wir im folgenden das Kampfterrain im Transportsektor genauer an.

LKW, Bahn, Schiff: drei Staus

Im Just in time-Regime gelten LKWs als »rollende Lager«, Schiffe als »verlängertes Fließband«. Mit diesem System verkleinerten die Unternehmer nicht nur die Kernbelegschaften, sondern auch Lagerkosten. Alle Waren sollten möglichst zu dem Zeitpunkt angeliefert werden, an dem sie weiterverarbeitet (oder weiterverkauft) werden. In diesem System entfalteten lokale Störungen globale Wirkungen. 2004 kam es zum ersten »globalen Stau« – wegen fehlenden Arbeitskräften im Hafen von Los Angeles/Long Beach. Er dauerte mehrere Wochen und breitete sich über den Pazifik und den Panamakanal bis in die europäischen Häfen aus.[2] Die Unternehmer hielten mit noch mehr Technik, mehr Kontrolle, größeren Transportmitteln, mehr Auslagerungen dagegen – bis das ganze System in der Covid-Pandemie einknickte.

Markiert Corona das Ende des billigen Transports?

Über 90 Prozent des weltweiten Warentransports geht über Schiffe. Vor Corona waren in etwa 90 Prozent der Schiffe pünktlich; 2021 waren es nicht einmal 40 Prozent. Vor der Pandemie brauchte ein Containerschiff von Asien nach Europa etwa 30 bis 40 Tage; 2021 waren es durchschnittlich 18 Tage mehr. 2019 dauerte ein durchschnittlicher Be- und Entladevorgang in nordamerikanischen Häfen acht Stunden; 2021 33 Stunden! Im Januar 2022 warteten vor dem Hafen von Los Angeles/Long Beach 109 Containerschiffe auf Einfahrt. Anfang Juli 2022 stauten sich 100 Schiffe in der Nordsee – zwei Prozent der globalen Frachtschiffkapazität. In Shanghai, dem größten Hafen der Welt, und in der angrenzenden Provinz Zheijiang, von wo etwa 20 Prozent der chinesischen Exporte verladen werden, ging wochenlang wegen der Lockdowns fast nichts mehr. Im Juni steckten dort fast vier Prozent der weltweiten Kapazitäten fest.

Global ist die Gütermenge auf unbewegten Schiffen von etwa sieben Prozent vor der Pandemie auf zwölf Prozent Mitte Juli 2022 gestiegen (Mitte 2021 waren es sogar 14 Prozent).

In den Corona-Lockdowns waren zunächst große Transportkapazitäten stillgelegt worden, Transportarbeiter saßen wegen der Quarantäneregeln fest (auf den Schiffen, in den LKWs im Ausland…), manche wurden entlassen. Später wollten viele nicht mehr zurück in ihre Jobs und sich dem Risiko einer langen Quarantäne aussetzen (am stärksten in China); nach den schlimmen Quarantäne-Erfahrungen wollen viele Seeleute ihre Verträge nicht verlängern.

Die Bestellungen über das Internet haben in der Pandemie zugenommen; in Großbritannien etwa hat sich der Anteil der Online-Verkäufe an den Einzelhandelsumsätzen zwischen Februar 2020 und Januar 2021 fast verdoppelt, auf nun 25 Prozent. Im größten Konsumland USA ist der Online-Umsatz seit 2019 um 50,5 Prozent gestiegen und macht nun 19 Prozent des Einzelhandels aus. Zudem hat sich in den Lockdowns der Konsum von Dienstleistungen auf materielle Güter verschoben: Die Amerikaner gaben im Jahr 2021 fast eine Billion Dollar mehr dafür aus als vor der Pandemie (U.S. Census Bureau).

Im Zuge dessen haben sich die Frachtraten massiv verteuert. Laut Drewry World Container Index bewegten sich die Fracht-Preise für einen 40-Fuß-Container für die acht wichtigsten Routen[3] in den Jahren vor der Pandemie bei etwa 1500-2000 Dollar; im Juli 2022 lagen sie bei fast 7000 Dollar – während der Pandemie waren sie noch höher gestiegen. Bei langfristig vereinbarten Frachtraten, die fast 90 Prozent aller Geschäfte ausmachen, haben sich die Preise »nur« verdoppelt, der Aufwärtstrend ist allerdings stabiler.

Die Preissteigerungen im Transport machen etwa ein Viertel bis ein Drittel der globalen Inflation aus und tragen überproportional zur Teuerung bei. Vor Corona machten die Transportkosten bei vielen Warengruppen ein paar Prozent aus, inzwischen sind sie bei manchen Waren teurer als die Produktion – und der Transport lohnt sich nicht mehr.

Leute, die an den Markt glauben, könnten sagen: »Verknappung von Transportkapazitäten bei gestiegener Nachfrage treibt die Transportpreise. So what?« Dahinter werden aber strukturelle Probleme sichtbar.

Leercontainer

Sehr viele im Westen konsumierte Güter werden in Südostasien produziert. Viele Container kommen voll aus China an und gehen leer zurück. Das führt zu einem großen Preisunterschied zwischen teurer Hin- und günstiger Rückfahrt, Mitte 2021 kostete zum Beispiel ein Container-Transport von Shanghai nach Rotterdam 15 000 Dollar – in die umgekehrte Richtung 1600 Dollar. Viele Reeder warteten nach Entladung der vollen Container nicht mehr auf die leeren und fuhren mit wenigen vollen gleich zurück nach China – bis heute verstopfen Leercontainer die Häfen von Amerika und Europa. In Los Angeles/Long Beach dürfen LKW-Fahrer mit leeren Containern nicht mehr in den Hafen einfahren, um sie abzustellen und volle aufzunehmen, wenn sie nicht vorweisen können, dass der leere Container bereits auf ein Schiff gebucht ist. Ende 2021 berichtete die weltweit fünftgrößte Reederei Hapag-Lloyd aus Hamburg, dass sie 20 Prozent mehr Container brauchen, um dieselbe Menge Waren wie vorher zu bewegen.[4] Ein Kollege vom Hamburger Hafen erzählte im Mai, dass sie ein Schiff der chinesischen Reederei COSCO (China Ocean Shipping Company) drei Schichten lang nicht anrühren konnten, weil kein Platz mehr für Container auf der Anlage war.

Je mehr Container übereinander stehen, desto mehr muss man umstapeln, um an den richtigen zu kommen; die »Umstapelrate« ist bis Mai 2022 um 60 Prozent gestiegen.[5] Der Hafen Hamburg mietet nun neue Flächen für Leercontainer und kassiert lukrative Standgebühren. Der Hafen Antwerpen stabilisiert damit seine Umsätze. Der Chef von Duisport, die in Antwerpen an einem Terminal beteiligt sind, kommentierte: »Das ist schön für die finanziellen Kennzahlen, aber operativ der Untergang.«[6]

Fahrermangel

Im Herbst 2021 wurden Supermarktregale in Großbritannien immer leerer und bis zu 90 Prozent der Tankstellen ging der Sprit aus, weil viele migrantische Fahrer wegen des Brexits, chaotischer Quarantäneregeln und mieser Arbeitsbedingungen zurück in ihre Heimat gegangen waren. Wie in Südkorea hat die Regierung das Militär mit Lastwagenfahrten beauftragt.

Der Fahrermangel kam nicht plötzlich – lange vor Corona mieden Jüngere den Job. Ein LKW-Fahrer in den USA verdient heute 60 Prozent weniger als vor 40 Jahren. In der BRD kriegt ein LKW-Fahrer zehn bis 20 Prozent weniger als ArbeiterInnen derselben Leistungsgruppe in anderen Branchen – und viele werden gar nicht nach Tarif bezahlt. Die EU-Osterweiterung 2004 und die Einführung der »Dienstleistungsfreiheit« haben zu einem Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen geführt. Ein Großteil der Fahrer kommt aus Osteuropa und fährt für 500 Euro im Monat. Zudem haben die Speditionen viele Arbeiten, die man früher zu zweit oder zu dritt machte, auf die FahrerInnen abgewälzt.

Russlandsanktionen

Der Krieg verstärkt die Verstopfung, weil Container mit Russland-Bezug wegen der Sanktionen entweder zu 100 Prozent geprüft werden müssen oder nicht angerührt werden (zum Beispiel macht im Hafen Rotterdam das Russlandgeschäft 13 Prozent aus, in Hamburg neun Prozent). Zudem stellen Russland und die Ukraine fast 15 Prozent der weltweiten Seeleute: 200 000 kommen aus Russland, 76 000 aus der Ukraine. Mehr als die Hälfte der ukrainischen Matrosen befand sich zu Kriegsbeginn auf Schiffen – am Anfang hieß es, dass ein Fünftel kämpfen will. Oft arbeiten russische und ukrainische Seeleute auf demselben Schiff. Berichtet wird auch von Problemen bei Lohnzahlungen für russische Seeleute wegen der Sanktionen gegen russische Banken.

Zu große Schiffe

Mega-Containerschiffe können nur in wenigen dafür geeigneten Häfen abgefertigt werden. 2015 meckerte der Chef der weltweit größten Reederei ­Maersk, dass einem 46-prozentigen Anstieg der Kapazitäten eines Containerschiffs eine nur 20-prozentige Produktivitätssteigerung beim Ladevorgang gegenübersteht. Seither sind die Schiffe weiter gewachsen – und die Geschwindigkeit bei der Abfertigung von Mega-Containerschiffen mit mehr als 13 500 TEU (20-Fuß-Standard-Container) nimmt von 26 Ladebewegungen pro Stunde auf 24 bis 25 ab. Es braucht größere Kräne – deren Lade- und Entladezyklen dauern länger, weil sie bei den breiteren Schiffen weitere Wege zurücklegen müssen.[7]

Aus dem Hafen heraus stockt die Verteilung, weil LastwagenfahrerInnen fehlen – theoretisch bräuchte man für jeden einzelnen Container einen LKW mit FahrerIn; ein großes Containerschiff mit 24 000 beladenen Containern entlädt in einem Hafen ungefähr 4-6000 Container – so viele LKW-Fahrten wären nötig. Bei der weiteren Verteilung fehlen dann ebenfalls wieder LKWs – und Güterzüge, die wegen der vielen Baustellen nicht vorankommen.

Auslagerungen

Das gigantische Containerschiff Ever Given, das im März 2021 im Suezkanal steckte, gehört einer japanischen Leasingfirma, die im Besitz der größten japanischen Werft ist; das Schiff ist in Panama registriert und fährt unter einer taiwanesischen Reederei; die Fahrt wurde von einem deutschen Management organisiert (»bereedert«) und das Schiff mit einer indischen Crew besetzt. Es dauerte nach der Bergung noch vier Monate, bis geklärt war, wer für den Schaden aufkommt; erst dann konnte das Schiff mit Waren im Wert von drei Milliarden Dollar ägyptische Gewässer verlassen.

In den Häfen ist es ähnlich – Boden und Anlagen haben unterschiedliche Besitzer, werden von verschiedenen Firmen betrieben, die wiederum Verträge mit Subfirmen haben, usw. Diese Eigentümerstruktur macht es fast unmöglich, auftretende Probleme zu lösen. Wenn unklar ist, wer notwendige Investitionen übernehmen muss, übernimmt sie schlussendlich niemand. Vor allem bei Sicherheitsfragen ist dies dramatisch; öfter als woanders kommt es in Häfen zu (tödlichen) Arbeitsunfällen.

Monopolpreise in Nadelöhren

Die Preise steigen nicht nur wegen des verteuerten Treibstoffs, der fehlenden Infrastruktur und des Mangels an Arbeitskräften. Den Suezkanal passieren zwölf Prozent aller weltweiten Transporte; die ägyptische Kanalbehörde hat die Durchfahrtsgebühren je nach Frachtsorte verdoppelt oder verdreifacht. Im Juli 2022 gab sie einen Rekordumsatz von sieben Milliarden Dollar im Geschäftsjahr bekannt, ein Fünftel mehr als im Jahr davor.

Auf den globalen Transportrouten gibt es viele solcher Nadelöhre. Wegen der Dürre wird nun der Rhein-Main-Wasserweg zum Flaschenhals. Drei Viertel aller deutschen Binnenschiff-Transporte gehen über den Rhein – Kohle, Öl, Chemieprodukte… Die größte Chemiefabrik der Welt – BASF ­Ludwigshafen – bezieht so 40 Prozent der Rohstoffe. Beim niedrigen Wasserstand Anfang August konnte man die Schiffe nur zu einem Drittel ­beladen. Die Rhein-Schiffer konnten sich wegen der Knappheit über steigende Frachtraten freuen – und verlangten zusätzlich den »Kleinwasserzuschlag«, einen vertraglich fixierten höheren Preis, wenn sie wegen niedrige Pegelstände mehr Schiffe einsetzen müssen.

Zentralisation und Überkapazitäten

Reeder sind Unternehmen, die Schiffstransporte betreiben, die Schiffe besitzen und/oder chartern. Drei große Reeder-Allianzen kontrollieren über 80 Prozent der weltweiten Containerschiff-Kapazitäten. Sie nutzten die Transportkrise zu Preiserhöhungen und haben absolute Rekordgewinne eingefahren. Das ist gesetzlich abgesichert – die EU-Kommission erlaubt Kartellpreise durch eine Verordnung namens »Gruppenfreistellungsverordnung für Seeschifffahrtskonsortien«. Und durch die vom deutschen Einkommenssteuergesetz 1998 fest­geschriebene »Tonnagegewinnermittlung« zahlt ­Hapag-­Lloyd nicht einmal ein Prozent Gewinnsteuer. Diese Besteuerungsmethode orientiert sich nicht am Gewinn, sondern am Frachtvolumen.

Die Investitionen dieser Reedereien verstärken unproduktive Zentralisierungsprozesse: Kauf von noch mehr großen Schiffen, Flugzeugen, Hafen-Terminals, Speditionen; Beteiligungen an anderen Konzernen; Übernahmen und Fusionen.

Die aberwitzigste Ineffizienz steckt im Zusammenhang von erwartetem Wachstum und Schiffbau. Zwischen 1980 und 2005 war der Containerverkehr jährlich um fast neun Prozent gewachsen, in manchen Jahren stieg das Verhältnis von Schiffsbestellungen zu bestehenden Kapazitäten (»orderbook to fleet ratio«) auf über 50 Prozent. In der globalen Krise 2008 wurden die Überkapazitäten manifest; in den darauffolgenden zehn Jahren gab es immer wieder Krisenhöhepunkte. Hapag-Lloyd, die heute nicht wissen, wohin mit ihren Milliarden­gewinnen, musste 2009 mit Staatsgeld und staatlichen Garantien gerettet werden, die Stadt Hamburg ­wurde größter Einzelaktionär. 2013 brachen Schiffsfinanzierer zusammen, unter anderem die HSH Nordbank, die Bremer Landesbank, die DVB Bank, die Nord/LB. 2016 ging die weltweit siebtgrößte Reederei Hanjin pleite. 2013 gab es noch 20 große Reedereien, 2018 waren noch elf übrig. Seit jenem Jahr pendelte sich die »orderbook to fleet ratio« bei etwa zehn Prozent ein. Doch seit 2020 sprudeln die Gewinne – auch dank abgesprochener Kapazitätsbegrenzungen unter den drei großen Allianzen. (Das ist neu. Vor Corona hatten sich die zwei führenden Reedereien Maersk und MSC noch einen heftigen Unterbietungswettbewerb geleistet – »Die anschließende Preisschlacht eskalierte weltweit und demolierte sämtliche Carrier«).[8]

Im Verlauf des Jahres 2021 stieg die Zahl der Schiffsbestellungen schon wieder auf etwa 15-20 Prozent der vorhandenen Kapazität. In absoluten Zahlen wurden noch nie so viele Kapazitäten bestellt wie heute. Wenn daraus reale Schiffe werden, versinkt der Frachtschiffmarkt für lange Zeit im Überangebot. Die Schiffe werden in drei Jahren fertig sein. Die Nachfrage nach Transport geht bereits jetzt zurück. Der Baltic Dry Index, ein relativ verlässlicher Indikator für die globale wirtschaft­liche Entwicklung auf Basis von Rohstoff-Transporten auf See [9], fiel in den letzten Monaten um fast 40 Prozent und liegt nur noch knapp über dem ­Level vor der Pandemie.

Neue Geschäftsmodelle in der Logistikblase

Investmentfirmen wie Blackstone stecken das viele nach Anlage suchende Geld nicht in den Erhalt oder die Verbesserung von Infrastruktur, sondern in Lagerfläche.[10] Häfen, Lagerimmobilien und Schiffe gelten als »Assets« – Kapitalsprech für Vermögensanlagen, die jährlich eine Rendite abwerfen sollen. Es gibt längst eine »Hafen-« und vor allem eine »Lagerblase«. Während des Nachfragebooms in den letzten zwei Jahren haben viele Unternehmen auf Vorrat bestellt und Lager aufgebaut – ­angesichts der gebremsten Nachfrage wegen der Teuerung sitzen vor allem große Einzelhändler auf ihren Vorräten. Für die »Hafenblase« ist der Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven ein perfektes Beispiel – er wurde mit viel Staatsknete gebaut und schließlich 2012 eröffnet; bis heute ist er nicht einmal zu 30 Prozent ausgelastet.

Verrückterweise verfällt derweil immer mehr Infrastruktur. Die kapitalistische Logistik steht in einem umgekehrten Verhältnis zum gesellschaftlichen Nutzen, ihr Flächen- und Energieverbrauch ist gewaltig, viele Transporte – zum Beispiel die exzessiven Retour-Sendungen – sind unsinnig. Nun sollen »Lieferketten regionalisiert« werden; man will weg vom Risiko der Just in time-Anlieferung, hin zu »Near-« und »Friendshoring«, also in der Nähe oder »bei Freunden« produzieren (zum Beispiel nicht mehr in Russland). Der Vorstandsvorsitzende des weltgrößten Paketlogistikers DHL forderte die Ausrichtung auf »Kreislaufwirtschaft« – vor allem Elektronikgeräte sollten nicht weggeworfen und neu produziert, sondern eingesammelt und repariert werden.[11] Das »Einsammeln« erledigt natür­lich DHL. (Renault macht das übrigens schon: in der Fabrik in Flins werden keine Neuwagen mehr produziert, sondern Gebrauchtwagen restauriert.) Die Konsumgüterindustrie mit ihren langen Transportwegen und kurzen Produktlebenszyklen kommt unter Beschuss – aus der Logistik selber!

Artikel „Logistik: Lagerkoller“ aus der Wildcat 110 vom Herbst 2022 externer Link (dort in der english version externer Link)

Fußnoten

1) Hier ein schönes Video einer Amazon-Arbeiterin: https://www.tiktok.com/@nikkithecreative/video/7120298046381903146 externer Link

2) Siehe dazu ausführlich Wildcat 94, Frühjahr 2013

3) Shanghai – Rotterdam, Rotterdam – Shanghai, Shanghai – Genua, Shanghai – Los Angeles, Los Angeles – Shanghai, Shanghai – New York, New York – Rotterdam, Rotterdam – New York

4) Christoph Koch: Kein Schiff wird kommen, www.brandeins.de, 12.11.2021

5) Alexandra Stühff, Maximilian Mann: Stau vor dem Hamburger Hafen: «Du kannst dich auf nichts mehr verlassen», sagt die Schiffsplanerin, www.nzz.ch, 27.5.2022

6) Christian Müssgen, Jonas Jansen, Christoph Hein: Versinken in der Containerflut, www.faz.net, 19.10.2021

7) Quellen: Measuring Port Performance 2015, www.theloadster.com und Container Port Performance Index 2021, www.ihsmarkit.com

8) Michael Machatschke: Cash aus der Kiste, www.manager-magazin.de, 19.3.2021

9) Basis sind die Preise von 20 Hochsee-Transportrouten für Kohle, Eisenerz, Getreide, usw. – also Ausgangsstoffen für die Produktion. Werden weniger Rohstoffe bestellt, dann wird weniger transportiert, dann fällt der Preis und damit der Index. Somit kündigt ein Fallen des BDI mit ein paar Monaten Vorlauf eine niedrigere Auslastung der Produktionsmittel an – und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wirtschaftskrise.

10) Blackstone-Chef Jonathan Gray: »Wir setzen auf Lagerhäuser«, www.faz.net, 25.6.2022.: »Wir haben vor gut einem Jahrzehnt angefangen, Lagerhäuser zu kaufen… In fast jedem Land der Welt steigt die Häufigkeit, mit der die Menschen online bestellen. Und diese Ware muss ja irgendwo gelagert werden. Es gab in dem Segment eine kleine Übertreibung wegen Corona, dennoch wird der Trend uns erhalten bleiben. Denn Lagerhäuser sind auch noch aus einem zweiten Grund wichtig. Firmen haben gelernt, dass sie in Zeiten von Lieferengpässen nicht mehr ›just in time‹ produzieren können – also nicht mehr ohne Lagerhaltung. Nein, jetzt ist ›just in case‹-Produktion angesagt, also die Vorbereitung auf alle Eventualitäten. Dafür braucht man Waren auf Vorrat. Und dafür braucht man Lagerfläche.­Black­stone ist mit einem Investi­tionsvolumen von gut 200 Milliarden Dollar mittlerweile der größte Besitzer von Lagerhäusern auf der Welt

11) Christoph Hein: DHL fordert ein radikales Umdenken der Industrie, www.faz.net, 27.1.2022.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204416
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