Solidarische Alternativen zu kapitalistischen Pleiten: Arbeiterinnen und Arbeiter erobern ihre Betriebe zurück und öffnen Wege zu einer nichtkapitalistischen Produktion

Wir übernehmen. Vortrag von Dario Azzellini „Laut Insolvenzstatistik des Statistischen Bundesamts wurden im vergangenen Jahr 2023 in Deutschland rund 176000 Unternehmen geschlossen. Davon haben 11 Prozent Insolvenz angemeldet. Immer wieder wird berichtet, dass Firmen trotz voller Auftragsbücher Insolvenz anmelden. Entweder stimmt die Gewinnmarge nicht, oder das Geld soll woanders lukrativer angelegt werden. Die Beschäftigten müssen schauen, wo sie bleiben. Manchmal bleiben sie dort, wo sie waren: In ihren Betrieben, die sie weiterführen wollen. Dario Azzellini nennt diesen Prozess, in Anlehnung an den berühmten Marxschen Begriff »Wiederaneignung«, Rückeroberung der Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle…“ Artikel von Ayse Tekin in der Soz Nr. 09/2024 externer Link und mehr daraus – siehe auch ein Interview mit Dario Azzellini zum Thema:

  • Weiter aus dem Artikel von Ayse Tekin in der Soz Nr. 09/2024 externer Link : „… Auf einer Veranstaltung in Köln im Mai dieses Jahres stellte er [Dario Azzellini] dies an Beispielen von Betrieben in Europa und Lateinamerika dar. Die historische Rückblick reicht bis zu einem Zitat von Friedrich Engels: »In einem mir bekannten Fall wurde nach der Krisis von 1868 ein fallierter Fabrikant bezahlter Lohnarbeiter seiner eignen frühern Arbeiter. Die Fabrik wurde nämlich nach dem Bankrott von einer Arbeitergenossenschaft weitergeführt und der ehemalige Besitzer als Dirigent angestellt.« (MEW 25:401.) Es folgten weitere Krisen und Umwälzungen, allen voran die Pariser Kommune, wo Arbeiterräte 72 Tage lang das Leben von Paris – von Produktion und Verteilung bis zu Bildung und Kultur – organisierten. Karl Marx stellte damals fest, das kapitalistische System lasse sich verdrängen, »wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigne Leitung nehmen…« (MEW 17:343). Die nächsten Beispiele waren die Arbeiterräte nach der Revolution 1905 in Russland. 1915 kam es auch in England, 1918/1919 in Berlin und mehreren Teilen Deutschlands, sowie in Österreich und Ungarn zur Arbeiterräten. In Italien folgten auf den Weltkrieg »zwei rote Jahre«. Ende 1919 waren in Turin nahezu alle Fabriken von Arbeiter:innen besetzt, rund 120000 Arbeiter:innen organisierten die Fortführung der Produktion. (…) Früher fanden die meisten Besetzungen, Übernahmen von Betrieben und Selbstverwaltung der Produktion im Rahmen von Offensiven der Arbeiter:innenklasse und der revolutionärer Kräfte statt. In den letzten 24 Jahren, so Dario Azzelini, findet die Rückeroberung der Betriebe dagegen aus einer defensiven Situation heraus statt. Die Rückeroberung fängt in der Regel mit einem Kampf gegen die Betriebsschließung an, die Produktion wird unter kollektiver und demokratischer Selbstverwaltung weitergeführt, machmal auch umgestellt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird in einem sozialen und ökonomischen Prozess in kollektives Eigentum verwandelt. (…) Die Auseinandersetzung fußt auf drei Säulen: Produktion, Mobilisierung von Unterstützung und juristischer Kampf. Im Kapitalismus einen Betrieb aufzubauen, der nicht streikt, der der Kapitallogik folgt, trotzdem demokratische Strukturen und angemessene Arbeitsbedingungen hat, Löhne und Sozialleistungen bietet, ist schwer. Ob das Ziel der Übernahme in Selbstverwaltung zu erreichen ist, ist davon abhängig, ob das juristische Problem (Änderung der Eigentumsform) in ein politisches Problem verwandelt werden kann. Die Interaktion mit der Nachbarschaft, kulturelle Aktivitäten bis hin zur Öffnung der betrieblichen Räume für verschiedene gesellschaftliche Zwecke ist überall Praxis. Es entstehen neuartige soziale Beziehungen, die Arbeitsweise verändert sich. Vertrauen und Solidarität aus dem Kampf reduzieren spätere Konflikte um Arbeitszeit und Bezahlung. Selbstverwaltung beruht auf den Grundsätzen Solidarität, Gleichheit und Selbstorganisierung unter allen Beteiligten. Sozialprogramme werden eingeführt. Andere Arbeitskämpfe werden solidarisch unterstützt. Die Kampfform der Wiederaneignung privater Betriebe ist kein vorübergehendes Phänomen. Sie ist in das Repertoire der Arbeitskämpfe eingegangen und breitet sich aus.“
  • „Sie sind nicht nur Arbeitskräfte“: Aktuelle Analyse zu rückeroberten Betrieben
    Im Interview von Ayse Tekin, Manfred Neugroda und Nuria Cafaro in der Soz Nr. 09/2024 externer Link, erläutert Dario Azzellini seine Arbeit der Dokumentation rückeroberter Betriebe in Europa und Lateinamerika: „[Es] gibt tatsächlich überall Beispiele auf der Welt. Ich wähle nur nach Sprachen, die ich gut beherrsche. (…) Bei einer Betriebsbesetzung und Übernahme ist weniger Mediation dabei, sondern das sind direkte Aktionen und eine direkte Konfrontation. In einem sehr traditionellen Gewerkschaftsverständnis müssen wir unterscheiden, auf welche Epochen und welch historisches Gewerkschaftsverständnis wir eingehen. Gewerkschaften sind ja anders entstanden und auch die Genossenschaften kamen ursprünglich aus der Arbeiter:innenbewegung, um gegen die Defizite des Kapitalismus vorzugehen, also beispielsweise selbstverwaltete Krankenkassen über Begräbniskassen und alles Mögliche andere. Auch das deutsche Sozialsystem beruht darauf, dass Bismarck die Genossenschaftskassen mehr oder weniger enteignet hat und darauf den Sozialstaat aufgebaut hat. Sagen wir es mal so, je institutionalisierter und verregelt der Arbeitskonflikt ist, desto schwerer oder desto seltener ist es, dass Gewerkschaften daraus ausbrechen, weniger noch als das Kapital. (…) Es gibt auch in Europa Gewerkschaften, die zwar nicht offensiv aufrufen, das zu tun, aber in dem Moment, in dem Betriebe von AktivistInnen aus ihrer Gewerkschaft besetzt werden und diese Solidarität einfordern, Unterstützung geben. Das reicht von der CGT in Frankreich bis hin zu den Cobas und Basisgewerkschaften und den USB in Italien, was so ungefähr den Betriebsräten in Deutschland entspricht, die die Konflikte unterstützen. Wir haben andere Beispiele in Brasilien: Die Metallergewerkschaft, die auch dazu übergegangen ist, solche Betriebe zu unterstützen. Es gibt allerdings in den letzten Jahren keine Besetzungen mehr in Brasilien, was wesentlich mit einer Gesetzesänderung zum Bankrottgesetz zusammenhängt. Die hat dazu geführt, dass es in Brasilien kaum noch solche Besetzungen gibt und dass zudem noch sehr viele Betriebe in den letzten 10, 15 Jahren dicht gemacht haben. Das ist das einzige Land, wo es aktuell weniger rückeroberte Betriebe gibt, während in allen anderen Ländern Betriebsbesetzungen zugenommen haben. In Argentinien haben sie auch unter rechten Regierungen zugenommen, in Uruguay haben wir den Sonderfall, dass die Gewerkschaften die Unternehmen unterstützen, weil der Genossenschaftsverband seit den 60er Jahren einen Sitz im Dachverband der Gewerkschaften hat. In Uruguay existiert eine Tradition der Zusammenarbeit von Genossenschaften und Gewerkschaften. Wenn die Gewerkschaft in einem Sektor streikt, dann wird das von den Genossenschaften oder von den besetzten Betrieben oder von den Betrieben unter legalisierter Arbeiterkontrolle, die sind ja alle nicht mehr besetzt in Uruguay, mitgetragen. Es ist immer eine Frage, was diese Institutionalisierung der Gewerkschaften bringt: Es gibt Vor- und Nachteile. Vorteil ist, dass es bestimmte geordnete Bahnen gibt und man wird nicht erschossen oder ins Gefängnis geworfen oder in entsprechender Weise angeklagt; der Nachteil ist aber, dass diese Institutionalisierung die Konflikte oder die Kampfmaßnahmen mittlerweile in bestimmte Kanäle bringt, die mittlerweile fast alle ineffektiv sind. Wir haben gesehen, dass in Griechenland ein Generalstreik nach dem anderen stattfand und sich trotzdem nichts ändert, in Argentinien gibt es auch Aufstände und einen Generalstreik nach dem andern, aber der neue Päsident Milei zieht trotzdem alles durch. In bestimmten Ländern gibt es noch nicht mal ein Gewerkschaftsrecht und wir finden das ganz schlimm. Es gibt dort allerdings andere Mechanismen: Wir hatten gerade Diskussionen mit Kolleg:innen aus Hongkong, und die meinten, dass es ganz gut sei, dass bei ihnen nichts reguliert ist, weil sie damit die Möglichkeit haben, Arbeitskämpfe zu führen, die sie sonst nicht führen könnten. (…) GKN ist das Paradebeispiel für die Alternative: Da ist es gelungen, eben diese Verbindung zwischen industrieller Transformation und sozioökologischer Transformation hinzukriegen und deutlich zu machen, dass es nicht nur um Arbeitsplätze geht, sondern auch um die gesellschaftliche Zukunft. Es gibt die Möglichkeit, hier ein Pilotprojekt von unten zu starten, was weit über das hinaus geht. Und es zudem auch wichtig, zu zeigen, dass es aus eigener Kraft entsteht. (…) Da, wo es Initiativen gibt, kommen die von unten, die kommen von den Beschäftigten, das find ich auch nicht weiter verwunderlich, weil, in der Regel sind diejenigen, die konkret in der Arbeit sind, die „Experten“, und die wissen natürlich, dass das, was sie da tun, wenig Zukunft hat, und dass es darum geht, sich daraus anderes zu überlegen. (…) Es gibt eine Untersuchung in Argentinien, im Verlaufe derer 100 Betriebe angeschaut wurden, wie sie sich entwickelt haben und es gibt einzelne andere Stichproben. Man kann grundsätzlich sagen, dass die Quote der Betriebe, die wieder zu machen oder sich wieder Bankrott erklären, wesentlich geringer ist als die im normalen kapitalistischen Sektor und das, obwohl es Betriebe sind, deren Ausgangsbasis ja schon der Bankrott des kapitalistischen Unternehmens war. Das sollte man hier nochmal unterstreichen.“

Siehe auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=223107
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