Zeit für eine neue Lehrlingsbewegung. Parallel zu den Studierenden brachten 1968 auch Azubis frischen Wind in die Politik – und in die Gewerkschaften

Dossier

Lehrlingsbewegung 1968ffMehr als eine halbe Million Lehrlinge starten am 1. September ins Berufsleben. Auch in diesem Jahr ist der Ausbildungsbeginn begleitet vom Lamento der Arbeitgeberverbände, es gebe zu wenige Azubis. Tatsächlich blieben im Ausbildungsjahr 2016 43 000 Ausbildungsplätze unbesSetzt, ihnen standen jedoch zugleich 280 000 junge Menschen gegenüber, die keine Stelle fanden. Der vielfach beklagte Fachkräftemangel ist also durchaus hausgemacht. (…) Vor allem aber setzen die jungen Gewerkschafter auf eine Reform des veralteten Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Dieses wurde 1969 verabschiedet und ist seither nur wenig verändert worden. Auf eine solche Reform hatten sich eigentlich auch Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag von 2013 geeinigt – jedoch ohne Resultat. Nun setzt die Gewerkschaftsjugend ihre Hoffnungen in die erneute Große Koalition, denn auch im aktuellen Koalitionsvertrag wurde eine Novellierung des Gesetzes vereinbart. Geschehen ist seitdem jedoch wenig. Entstanden ist das BBiG 1969 allerdings ebenfalls nicht aus der Einsicht der damals Regierenden in die Notwendigkeit gesetzlicher Ausbildungsstandards. Es ist vielmehr ein Resultat des Kampfes der Lehrlingsbewegung, der vor 50 Jahren begann…“ Artikel von Stefan Dietl vom 02.08.2018 beim ND online externer Link und dazu:

  • [Buch] Das andere 1968 – Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen im Speyer-Kolleg 1968-72 New
    Unser Buch „Das andere 1968“ wirft einen Blick zurück in die Anfänge der Jugend- und Protestbewegung, die sich Ende der 60er-Jahre entwickelte und das Gesicht der Bundesrepublik nachhaltig veränderte. So sehr die Aktionen der Studentenbewegung medial breit präsent sind und zum Gedächtnis der Republik gehören, so wenig bekannt sind die Bewegungen, die gleichzeitig bei dem Teil der Jugend stattfanden, der nicht auf einen akademischen Beruf vorbereitet wurde. Und es gab auch richtige Begegnungen dieser beiden „Welten“, die in beide Richtungen abfärbten.
    “Das andere 1968“ stellt eine solche „Grenzüberschreitung“ vor. Zu Wort kommen damalige Akteure. Ihr Aktionsort war das pfälzische Speyer. Hier kamen 1969/70 an das frisch gegründete Speyer-Kolleg viele jungen Menschen zusammen, die ihre Ausbildung gerade abgeschlossen oder auch schon einige Jahre Berufserfahrung hatten, um ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen. Der Kolleg-Betrieb war zu dieser Zeit klassisch schulisch strukturiert und inhaltlich autoritär organisiert. Dies bedeutete im alltäglichen Schulbetrieb unter anderem das die Schüler:innen, obwohl fast alle älter als 21 Jahre, wie Minderjährige behandelt wurden. Dies führte zwangsläufig zu wachsenden Auseinandersetzungen mit der Schulleitung, die 1970/71 am Speyer-Kolleg zu mehreren Streik- und Boykottaktionen führten. Mit vielen juristischen Nachspielen für die Organisator:innen.
    Die gesamte Stadtgesellschaft von Speyer war damals in die Vorgänge einbezogen und hatte hierzu eine mehr oder minder fundierte Meinung. Es gab große Veranstaltungen in der Stadthalle zu den Vorgängen am Speyer-Kolleg und den Forderungen der Kollegiat:innen. Diese beschäftigten seinerseits sogar den Mainzer Landtag. Es ging den Initiator:innen der Schülerbewegung um die Frage, ob der zweite Bildungsweg – beziehungsweise Bildung überhaupt – emanzipatorisch oder eher in Richtung Anpassung und Verwertung als spätere Arbeitskraft ausgerichtet sein soll. Die Rede ist von der Lehrlingsbewegung und den politischen Aktivitäte von Jungarbeiter/innen.
    Die damals engagierten Kollegiat:innen hatten aber auch verschiedene Basisgruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. Unter anderem hatte eine Basisgruppe enge Beziehungen zu den örtlichen Gewerkschaften. Denn auch in der VFW Fokker – der heutigen PFW Aerospace – gab es zu dieser Zeit eine starke Auszubildendenbewegung und viele gewerkschaftliche Aktivitäten im Betrieb. So wurden unter anderem Vertrauensleute-Schulungen mit Kollegiaten als Dozenten durchgeführt um Erfahrungen auszutauschen.
    Diese Ereignisse liegen mittlerweile über 50 Jahre zurück und scheinen langsam in Vergessenheit zu geraten. Um dem entgegenzuwirken, haben die beiden Autoren Wolfgang Hien und Herbert Obenland gemeinsam mit dem Göttinger Historiker Peter Birke diese spannende Zeit in „Das andere 1968“ aufgearbeitet.
    Hien und Obenland geben als damalige Akteure klug reflektierend biografische Auskunft über ihre Erfahrungen auf den institutionellen Feldern der Auseinandersetzung: Hauptschule, Berufsschule, Labor, Lehrlingsheim, Kolleg, Betrieb und Universität. Die Autoren stellen dabei überzeugend unter Beweis, wie sie durch „1968“ verändert wurden und sich trotzdem treu blieben.“ Die Buchmacherei zum Buch von Wolfgang Hien, Herbert Obenland, Peter Birke externer Link (Seiten: 260 / ISBN 978-3-9823317-3-7 / März 2022 / 260 Seiten / 15,00 €), siehe dazu:

    • Die Verbindung von Arbeitskämpfen und Umweltbewegung ist notwendig
      Interview von und bei Peter Nowak vom 24. April 2022 mit den Herausgebern Wolfgang Hien, Herbert Obenland und Peter Birkeexterner Link: „… Was war bei Ihnen 1968 anders? (…) Wir kamen aus der Lehrlingsbewegung, Herbert und ich hatten eine Ausbildung zum Chemielaboranten in der BASF Ludwigshafen gemacht und dann noch einige Zeit in der Fabrik gearbeitet, bis wir uns dann entschlossen, am Speyer-Kolleg das Abitur nachzumachen. Das war eine besondere Zeit. Nicht nur an den Universitäten passierte etwas, sondern auch in den Betrieben, da gärte es, was sich dann auch in den Septemberstreiks 1969 und der Welle der spontanen Streiks 1973 zeigte. Und es waren eben nicht nur Lohnforderungen, sondern es gab auch da Ideen eines anderen Lebens, die Sehnsucht nach Freiheit und auch die Sehnsucht nach mehr Wissen, wenn man so will, ganz klassisch die Sehnsucht nach Bildung und Aufklärung. (…) [Im Speyer-Kolleg] sollten jungen Menschen, die aus der Arbeitswelt kamen, eine sogenannte höhere Bildung bekommen können. Wir dachten, wir würden behandelt wie erwachsene Menschen. Doch das war leider nicht so. (…) Nun, in dieser Zeit entwickelte sich auf der Basis des sowieso in der Nachkriegszeit vorhandenen Antikommunismus eine Hetz-Stimmung gegen alles, was links ist. (…) Wir haben nie die Beziehungen zu Gewerkschaften, Vertrauensleuten und Betriebsrät*innen abgebrochen. In Speyer gab es damals einige große Betriebe, zum Beispiel Siemens, Romeka und VFW Fokker, die Flugzeugwerke. Bei VFW hatten wir im Vertrauenskörper an Schulungen mitgearbeitet. Wir haben über einen »Betriebsreport« die betrieblichen Auseinandersetzungen im Sinne der Interessen der Arbeitenden unterstützt. Die Kolleg*innen haben uns daher ebenfalls unterstützt, als wir in die Bredouille kamen. (…) Es kamen Leute aus Betrieben auf uns zu und erzählten über ihre Konflikte dort. Da gab es beispielsweise einen Werftarbeiter, der erzählte, dass es in seinem Betrieb keine Toiletten gibt. Darüber haben wir dann berichtet und Forderungen aufgestellt. Wir haben Betriebsrät*innen interviewt und durften aus gewerkschaftlichen Versammlungen berichten. Wir haben aber auch über kommunale, nationale und weltweite Themen informiert, von Kindergartenplätzen über Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. (…) Es war ein Versuch, der bei den nachfolgenden Generationen nachwirkt. Zum einen haben sich gewisse Dinge durchaus verbessert, zum anderen aber bleiben die zentralen Konfliktlinien bestehen: zwischen einer angepassten Ausbildung und dem Interesse an emanzipatorischer Bildung…“
  • Lehrlingsbewegung: „Ausbildung statt Ausbeutung“ 
    „Vor 50 Jahren erreichte die Lehrlingsbewegung ihren Scheitelpunkt – und verlor dann ihre Anziehungskraft. Unter dem Motto „Ausbildung statt Ausbeutung“ hatte die heute nahezu vergessene Bewegung junge Menschen mobilisiert. Ein breites Bündnis, zu dem die Gewerkschaften erst zögerlich fanden. (…) Werkstatt fegen, Bier holen, Umkleideräume schrubben, wochenlanges Ablegen von Karteikarten statt Wissens- und Fertigkeitsvermittlung. Wer sich gegen ausbildungsfremde Aufgaben wehrt, erhielt zur Antwort „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ Im Oktober 1968 formierten sich Lehrlinge verschiedener Hamburger Betriebe zu einer „Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung“, organisierten eine Demonstration, und rund 400 protestierten gegen ihre Lehrherren. Zeitgleich fanden sich Lehrlinge aus Essener Industriebetrieben zusammen, gründeten eine Arbeitsgemeinschaft und prangerten bei einer Pressekonferenz konkrete Ausbildungsmissstände in ihren Betrieben an. Aufmüpfigen Lehrlingen und ihren betrieblichen Jugendsprechern wurde gekündigt. Damals übliche Freisprechungsfeiern zum Lehrende gerieten zu Anklagen über Ausbildungsmängel. An vielen Orten entstanden selbst organisiert überbetriebliche Lehrlingsgruppen und Lehrlingszentren, bewusst abseits vom parlamentarischen Parkett und mit Skepsis gegenüber Parteien und Organisationen. Der Lehrlingsprotest traf die Gewerkschaften unvorbereitet, mit ihrer kooperativen Politikausrichtung waren sie auf gesetzgeberische Reformen fokussiert. Die Zeit war tatsächlich reif. Die Berufsausbildung für rund 1,5 Mio. junge Menschen erfolgte nach der Gewerbeordnung aus dem Kaiserreich. Das von der Großen Koalition im Juni 1969 durch den Bundestag gebrachte Berufsbildungsgesetz (BBiG) war letztlich eine Festschreibung bisheriger Berufsbildungsstrukturen. Kein Wunder, dass die Lehrlingsbewegung dagegen Sturm lief. So sah sich SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt am 1. Mai 1969 in Hamburg einem Pfeifkonzert wütender Lehrlinge gegenüber. (…) Verlief die Lehrlingsbewegung im Sande? Eindeutig Nein! Die Aktivitäten verlagerten sich. Das 1972 reformierte Betriebsverfassungsgesetz gab den Jugendvertretungen erstmals einen wirkungsvollen Handlungsspielraum, um Missstände aufzugreifen und zu beheben. Die Jugendvertretungen stießen die Gründung von Betriebsjugendgruppen an, stärkten ihren Einfluss auf Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute. Die Berufsausbildung war zwischen 1969 und 1974 ein bildungspolitisches Schwergewicht geworden, Reformen zielten auf Modernisierung. Grundlegende Reformen wie die Überleitung der Berufsausbildung in öffentlich-rechtliche Trägerschaft, vergleichbar mit der Bundesanstalt für Arbeit, blieben aus. (…) In den nachfolgenden Jahrzehnten blieb die Berufsbildung, abgesehen von Reformen im Detail, im bildungspolitischen Diskurs eher auf den hinteren Plätzen.“ Beitrag von Gunter Lange bei der DGB-Gegenblende am 14. März 2022 externer Link
  • Siehe dazu auch unseren Beitrag vom 5. März 2018: Autonomer Handwerkernachwuchs: Die Gruppe »anstiften« will eine neue Lehrlingsbewegung anstoßen. Ihr Vorbild ist der linke Aufbruch Auszubildender in den 1970er Jahren
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=135656
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