Wie geht man mit oppositionellen Gruppen im Betrieb um? Eine Erinnerung an die Stuttgarter „Plakat-Gruppe“ anlässlich des Todes von Jürgen Stamm

Zeitung der Stuttgarter „Plakat-Gruppe“ bei Mercedes„Zu dieser Frage habe ich 1983 eine empirische Studie vorgelegt und dabei auch die Stuttgarter „Plakat-Gruppe“ interviewt, die im Daimler-Benz-Konzern eigene Betriebsratslisten initiiert hatte. In der damaligen Zeit Anfang der achtziger Jahre nahmen linksoppositionelle Betriebsratslisten in vielen Regionen stark zu. (…) Über die Ergebnisse und Schlussfolgerungen hatte ich auch mit meinem langjährigen Freund Jürgen Stamm gesprochen. Lang ist es her. Nun ist Jürgen am 14. April 2014 gestorben. In einem Nachruf der Stuttgarter Zeitung zum Tod von Jürgen Stamm am 19.4.2024 heißt es unter der Überschrift „Nachruf auf Jürgen Stamm. Wortgewaltiger Chef der IG-Metall-Bastion Stuttgart“ externer Link: „1986 übernahm Stamm die Betreuung des Betriebsrats und der Vertrauensleute im Mercedes-Benz Werk Untertürkheim, wo er die „Plakat-Gruppe“ erfolgreich in die IG Metall integrierte und eine geeinte Vertretung der Beschäftigten vorantrieb.“…“ Anmerkung von und bei Klaus Pickshaus vom April 2024 externer Link zu seiner 24-seitigen Studie von 1983 externer Link : „Politische Differenzierungen im Großbetrieb: Zur Herausbildung linksoppositioneller Betriebsratslisten“ – und einige Hinweise dazu:

Anmerkung zu „Einer der vielen Verdienste von Jürgen Stamm: Er integrierte die „Plakat-Gruppe“ in eine einheitliche Interessenvertretung!„: Diese „Integration“ hat Tom Adler rückblickend mehrfach sehr kritisch gesehen… Diese ist bei der GoG (Opel Bochum) trotz ihrer Wiederaufnahme der GoG in die IGM 1993 glücklicherweise nicht gelungen, siehe zum Film über die GoG unser Dossier: [Video mit und über die GoG] Filmprojekt über den Widerstand der Belegschaft bei Opel in Bochum. Siehe dazu auch:

  • Über Mitbestimmung im Betrieb und Stadtrat – Ein Gespräch mit Tom Adler
    Tom Adler verbindet durch seine Geschichte als langjähriger Betriebsrat bei Daimler und als Stadtrat verschiedene Ebenen des Kampfes um (Mit-)bestimmung und Arbeiterkontrolle auch über den betrieblichen Rahmen hinaus. Aus dem Grund haben wir Tom Adler zu seiner Geschichte, den Kämpfen und zum Thema (Mit-)bestimmung interviewed. (…) Ich war dann, wie das sich für einen Linken bei Daimler gehört hat, bei der Gruppe Hoss/Mühleisen1. Das war die linke Betriebsgruppe schlechthin damals und in Stuttgart natürlich gleich zweimal. Dort hat man sich – und ich mich auch – genau am richtigen Ort gefühlt, da es ja sowas wie ein „common sense“ war, dass wenn Daimler hustet, die Region krank wird, wenn man die Bedeutung von Daimler für die Region betonen wollte. Das war dann auch mit der Erwartung verbunden, dass man „nur“ wenige Jahre im Betrieb aktiv sein und sein politisches Engagement einbringen muss, bis sich die Verhältnisse verändern und man dann als Linker überflüssig wird, weil die Selbsttätigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter stimuliert ist, die Jungs und Mädels in der Fabrik ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und man sich dann selber wieder den Dingen widmen kann, die man vielleicht lieber macht, als 8 Stunden Lohnarbeit am Tag. 1984 bin ich dann über die Hoss/Mühleisen Gruppe, die dann später Plakatgruppe hieß, in den Betriebsrat gewählt worden und war dann zuständig für die Bereiche, in denen ich auch meine Ausbildung gemacht habe. Das Betriebsratsmandat hatte ich bis 2012 bis ich in Altersteilzeit gegangen bin. (…)
    Die Friedensbewegung, die Ökobewegung, die Hausbesetzer, all diese Bewegungen haben einiges aufgebrochen und den Horizont auch der linken Betriebsgruppe enorm erweitert. Und die Gruppe, in die ich dann 1976 gekommen bin, hatte zu dem Zeitpunkt schon begonnen, linke Politik nicht mehr nur über die klassische Verteilungsfrage zu definieren, sondern auch mit der Frage was wir in diesem Betrieb eigentlich bauen auch die Kritik am Auto aufgeworfen und eine Verbindung zur aufkommenden Ökobewegung hergestellt. Und aus dieser Verbindung sind dann mehrere Kampagnen und Aktivitäten heraus entstanden. Z.B. stand 1984 die Alptraum-Auto-Austellung auf dem Karlsplatz – ganze vier Wochen lang. (…)
    Die Diskussion, die da von uns angestoßen wurde, ging dann darum, ob es denn wirklich sinnvoll ist, im Betrieb mit Milliardeninvestitionen eine Produktionstechnologie einzuführen, die sich zum einen schlecht auf die Qualität der Arbeit auswirkt und die zum andern Arbeitsplätze vernichtet. Die Einführung dieser Technologie hätte ja bedeutet, dass die Zahl der Arbeitsplätze nur mit enormem Mengenwachstum zu halten wäre. Und mit dieser Maschinerie wäre auch nichts anderes zu produzieren möglich als eben Zylinderköpfe, Kurbelgehäuse, Pleuel. Also Verbrennungsmotorenteile! Wir entwickelten in der Plakatgruppe dann einen Vorschlag, den man heute wohl Transformation nennen würde. (…)
    Mit diesem Vorschlag haben wir nicht nur die Diskussion darüber aufgemacht wie wir arbeiten wollen, sondern auch darüber was wir eigentlich produzieren wollen. Und das war natürlich schon ein Schritt in die Richtung Mitsprache über das „Was“ und „Wie“ der Produktion einzufordern. Diese Debatte wurde dann auch über Monate im Betrieb geführt, Dutzende von Flugblättern und Betriebszeitungen sind verteilt worden, und die Resonanz auf das Konzept alternativer Industriearbeit8, wie wir das nannten, war in der Belegschaft sehr positiv, eben weil es auch mit der Qualität ihrer Arbeit zu tun hatte. Die Geschäftsleitung hat sich dann tatsächlich genötigt gefühlt zu dem Zeitpunkt, ihre Investitionsentscheidung für diese Transferstraßen auf Betriebsversammlungen und in Schreiben an ihre Führungskräfte und an die Belegschaft immer wieder zu verteidigen. Die waren richtig unter Druck geraten. Das war zu dem Zeitpunkt auch in linken Betriebsgruppen noch nicht üblich, dass man das Produkt so in Frage stellt. (…)
    Da gab es also diese Öffnung der IG Metall, die gleichzeitige Desorientierung der Linken im Betrieb und gleichzeitig hatte die Plakatgruppe keinen gemeinsamen Nenner mehr, warum ihre Kollegen in der Fabrik eigentlich wichtig sind. Daraus hat sich dann bei uns in der Gruppe die Diskussion entwickelt: Sollen wir in der Situation nicht versuchen die Spielräume, die die IG Metall mit ihrer Öffnung macht, auszunutzen? Sollen wir versuchen in der IG Metall, mit den Vertrauensleuten, in den Vertrauenskörpern neue Kraft zu sammeln?
    Die IG Metall, insbesondere in Stuttgart, war damals aber noch nicht so weit, um zuzulassen, dass eine Betriebsgruppe wie die „Plakatgruppe“ dann autonom unter dem Dach der IG Metall existieren könnte und dann noch ihr eigenes Publikationsorgan hat. Daraus entstand dann die Bedingung für unsre Aufnahme, dass die Zeitung eingestellt wird. Darauf haben wir uns auch eingelassen nach der Zusage, dass in den Publikationen der IG Metall unterschiedliche und weitergehende Positionen, die auch Kritik an Mehrheits-Positionen offen formuliert, publiziert werden könnten und zur Abstimmung gestellt werden würden. Das war dann die nächste Etappe: Die Verbliebenen, die nach wie vor der Meinung waren, dass man die Belegschaften nicht einfach abschreiben kann, sondern dass man sie braucht, um gesellschaftliche Mehrheiten für große, notwendige Veränderungsprozesse hinzukriegen, haben sich dann in der IG Metall engagiert.
    Nur wenige aus der früheren Plakatgruppe haben diese Chancen allerdings in diesem Sinn genutzt. Die meisten aus der Gruppe haben sich dann sozusagen als brave Mainstream-IG-Metall-Betriebsräte untergeordnet. Das ist ja auch, wenn man das so macht, ein komfortables Auskommen in einem Großbetrieb. Denn in so einem Großbetrieb sind alle Betriebsräte de facto von der Arbeit freigestellt…“ Interview vom 30. September 2023 in Gasparitsch Blättle externer Link – in umfassender Gänze sehr lesenswert!

Siehe dazu im LabourNet:

  • Von 2015: [Buch] Wettbewerbspakte und linke Betriebsratsopposition. Fallstudien in der Automobilindustrie zur Dissertation von Daniel Behruzi und daraus:
  • Historische Vorläufer der heutigen Linksopposition bei Daimler
    Sowohl das Daimler-Werk in Untertürkheim als auch das in Sindelfingen haben eine lange gewerkschaftliche Kampftradition, die bis in die Weimarer Republik zurückreicht. Anders als in Sindelfingen besteht in Untertürkheim aber eine starke Fragmentierung der betrieblichen Interessenvertretung. Es existiert eine einflussreiche linksoppositionelle Strömung, die auf eine gewisse historische Kontinuität zurückblicken kann. Unterschiedliche betriebspolitische Traditionen spielen hierbei eine Rolle. Deshalb soll an dieser Stelle zunächst ein kursorischer Blick auf die geschichtlichen Vorläufer der heutigen Linksopposition geworfen werden, bevor deren Neukonstituierung skizziert wird…“ Teil 2, Kap. 1.4. der Dissertation von Daniel Behruzi 

Siehe im LabourNet-Archiv zur späteren Entwicklung:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=220069
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