[Tagungsbericht] Gewalt am Arbeitsplatz im 20. Jahrhundert
„… Die Geschichte der Menschheit ist von gewalttätigen Momenten und Episoden der Gewalt durchzogen. Historisch werden allerdings zumeist „Großereignisse“ der Gewalt untersucht: Kriege, Revolutionen, Aufstände. In der Alltags-, Sozial- und Arbeitsgeschichte jedoch spielen bislang Phänomene der Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. Gewalt war und ist dabei – trotz aller „Pazifizierungstendenzen“ in den (westlichen) Gesellschaften – Teil des alltäglichen Lebens. Die Tagung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung näherte sich der Geschichte der Alltagsgewalt durch unterschiedliche arbeitshistorische Zugriffe…“ Tagungsbericht von Philipp Urban vom 9. Februar 2024 bei hsozkult.de der Veranstaltung am 23.11.2023 – 24.11.2023 in Bonn vom Arbeitskreis Gewerkschaftsgeschichte u.a. – siehe mehr daraus:
- Weiter aus dem Tagungsbericht von Philipp Urban vom 9. Februar 2024 bei hsozkult.de : „(…) Das erste Panel thematisierte zwei bislang historisch kaum untersuchte Berufsgruppen: Kellnerinnen und Hausangestellte. MAREEN HEYING (Düsseldorf) arbeitete die vielgestaltige klassistische und geschlechtsbezogene Gewalt gegen Kellnerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Kellnerinnen erlebten einerseits Gewalt und Abhängigkeit von Gästen und Wirten, andererseits waren sie auch den Angriffen der bürgerlichen Frauenbewegung ausgesetzt. (…)
Vor einer vergleichbaren Herausforderung stand auch MAREIKE WITKOWSKI (Oldenburg), die sich mit Gewalt gegen Hausangestellte auseinandersetzte. „Dienstmädchen“ und Angestellte in privaten Haushalten waren bis in die 1960er-Jahre eine der größten weiblichen Berufsgruppen in der Bundesrepublik. Die Dienstherren oder -damen sahen sich als Erzieher:innen der meist jungen Frauen, die unter ihrem Dach lebten. Züchtigungen wie Ohrfeigen waren alltäglich und wurde nicht als problematisch angesehen, auch wenn die Preußische Gesindeordnung, die „geringe Tätlichkeiten“ erlaubt hatte, seit 1918 abgeschafft war. (…)
SOPHIA KUHNLE (Bochum) untersuchte in ihrem Beitrag, wie in der zweiten Frauenbewegung der 1970er-Jahre über sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz berichtet und gesprochen wurde. Hierzu nutzte sie Beiträge in den weitreichenstärksten Zeitschriften der Frauenbewegung, „Emma“ und „Courage“, die zumeist von betroffenen Frauen verfasst und eingeschickt worden waren. Frauen in klassischen „Männerberufen“ berichteten hauptsächlich über verbale Gewalt am Arbeitsplatz. Täter waren vor allem die Kollegen und Ausbilder, aber auch Kunden wurden übergriffig. (…)
Das zweite Panel der Tagung beschäftigte sich mit Gewalterfahrungen von Prostituierten und Sexarbeiterinnen. Am Beispiel der Frankfurter „Edelprostituierten“ Rosemarie Nitribitt zeigte MONA RUDOLPH (Kiel), in welcher Form Prostituierte sich gegen Gewalt zu wehren und zu schützen versuchten (…)
Drei Fallstudien zu Gewalt als Mittel des Arbeitsprotestes wurden im Rahmen des dritten Panels vorgestellt. JOHANNES PLATZ (Köln) thematisierte auf Grundlage von Akten des Bundesvorstands des DGB und der IG Metall Debatten der Gewerkschaften um eine doppelte Problemlage zu Beginn der 1980er-Jahre: Einerseits versuchten die Gewerkschaften gegen die Aussperrungspolitik von Arbeitgebern vorzugehen, andererseits versuchten linksextreme „revolutionäre Zellen“ durch terroristische Anschläge auf Gewerkschaftsfunktionäre Einfluss auf die Gewerkschaftspolitik auszuüben. (…)
Der FDGB als Gewerkschaftsbund der DDR hatte sich nicht mit Gewalt als Mittel von Arbeitsprotesten auseinanderzusetzen. Erst nach seiner Auflösung kam es vereinzelten Ausbrüchen von Gewalt in DDR-Betrieben. Dieser Gewalt im Rahmen der „friedlichen Revolution“ ging JAKOB WARNECKE (Leipzig) am Beispiel des Stahlwerks Henningsdorf nach. (…)
Das vierte und abschließende Panel ergänzte die Tagung durch gegenwartsbezogene Vorträge. Der Soziologe MATTHIAS WEBER (Bielefeld) berichtete über die „symbolische Verletzbarkeit“ von Rettungsdienstmitarbeiter:innen durch verbale Gewalt. (…) Auch TINA JUNG (Magdeburg) griff aktuelle Gewaltphänomene aus dem Arbeitsalltag des Gesundheitswesens auf. (…)
Im Rahmen der Tagung wurden die Herausforderungen deutlich, vor denen eine historische (Alltags-)Gewaltforschung steht. Selbstzeugnisse von Menschen, die Gewalt erlebten, sind nur selten erhalten und die behördlichen Dokumente lassen kaum Rückschlüsse auf das Alltagserleben von Gewalt zu. Gewerkschaftsgeschichte kann hier möglicherweise Zugriffe ermöglichen, allerdings waren nur wenige Vorträge originär gewerkschaftshistorisch. Die Heterogenität und Breite der Gewalterlebnisse erfordert jeweils eigene, auf den konkreten Gegenstand und die konkrete Fragestellung zugeschnittene analytische Zugänge. Gleichzeitig liegen eben hier auch die enormen Potentiale des Themas, wie die sehr unterschiedlichen Beiträge zeigten: durch unterschiedliche Forschungsansätze ließe sich der Wandel von Verständnis, Wahrnehmung und Umgang mit verschiedenen Formen der Gewalt historisieren und so der Fortschrittserzählung der gesellschaftlichen „Pazifizierung“ an die Seite stellen. Notwendig wäre hierzu aber die bereits in der Keynote angemahnte Konkretisierung des Gewaltbegriffs…“