[Buch] Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen

Buch von Slave Cubela im Verlag Westfälisches Dampfboot: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen ArbeiterklassenIn Zeiten der ökologischen Krise wird die Geschichte der modernen Arbeiterklassen insofern wieder aktuell, da der Kampf für sozial kontrollierte Produktionsprozesse wesentlicher Teil dieser Geschichte war. Mit dem Konzept der industriellen Leidarbeit wirft das vorliegende Buch einen neuen Blick „von unten“ auf diese Kämpfe, indem es das Leiderleben in der Arbeit wie auch die sprachliche Verarbeitung dieses Leids durch die Arbeiter in den Mittelpunkt stellt. Dabei gelingt es dem Autor nicht nur, drei Epochen dieser Leidarbeit – Wortergreifung, Worterstarrung und Wortverlust – zu unterscheiden. Indem er zugleich den Hauptakzent seiner Darstellung auf die letzten beiden Epochen legt, wird die lange Lähmung der modernen Arbeiterklassen im 20.Jahrhundert sichtbar, die mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und dem Niedergang dieser Klassen ab den 1970er Jahren endete. Dabei ist das Buch aber kein Abgesang auf die Möglichkeiten der sozialen Emanzipation und der menschlichen Produktion. Vielmehr sucht es durch das genaue Verständnis des historischen Niedergangs der modernen Arbeiterklassen einen neuen Anlauf zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft denkbar zu machen, die gegenwärtig dringender denn je nötig geworden ist.“ Klappentext des Buches von Slave Cubela im Verlag Westfälisches Dampfboot – siehe mehr zum Buch und ein Teilkapitel als Leseprobe:

  • Das Buch: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen
  • [Leseprobe] Drei weitere Überlegungen zum Arbeit-Sprache-Nexus im beginnenden 21. Jahrhundert
    Diese Forschungsreise durch die Arbeiterwelten im Zeitalter des Wortverlusts zusammenzufassen, ist nicht einfach. Arbeiter sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur in einer zerklüfteten Welt voller Nuancen, Abstufungen und Brüchen reproduktiv tätig. Diese Welt ist, durch das Aufkommen der fluiden Fabrik zudem in unablässiger Bewegung. Was gestern noch galt, kann morgen schon Vergangenheit sein. Trotz dieser Schwierigkeiten kann man als wesentliches Ergebnis zusammenfassen: Neben den Erfahrungen, die tatsächlich viele Arbeiter der fluiden Fabrik betreffen, wie etwa der unablässigen Wechsel der meisten Prozesse in der  fluiden Fabrik und dem hohen Anteil vom neoliberalen Individualismus geprägter heroischer Narrative, mit denen Arbeiter versuchen, diese unablässige Disruption ihrer Arbeitsprozesse zu kompensieren, sind es vor allem drei Schlagworte, mit denen wir den Unterschied zwischen den drei großen Gruppen der Arbeiterschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts markieren können: Bewahren, Begehren, Bestehen.
    Die Kernarbeiter sind die Arbeiter des Bewahrens. Obgleich ihre Arbeitswelt durch
    eine immense Flexibilisierung, eine hohe Arbeitsintensivierung und eine neue Kälte in den Betrieben gekennzeichnet ist, erhalten diese Arbeiter zumal in Großbetrieben immer noch häufig derart gute Löhne und Sozialleistungen, dass sie individuell wie kollektiv darum bemüht sind, diese materiellen Vorteile wie auch die Möglichkeiten der längerfristigen Lebensplanung für sich zu erhalten. Entsprechend sind Prozesse der industriellen Leidarbeit, die grundsätzlichere Widerstandspraxen nach sich ziehen, bei diesen Arbeitern selten geworden, der neoliberale Arbeit-Sprache-Nexus dominiert die Welt der Kernarbeiter mit seinen flexiblen Leistungsnarrativen, seinen individuellen Anreizen und den überall anzutreffenden Team-Optimierungs-Workshops. (…)
    Aber es steht zu vermuten, dass aus den Reihen der Kernarbeiterschaft kaum Impulse für einen radikalen Widerstand „von unten“ zu erwarten sind, denn der materielle Spatz ist ihnen wichtiger als die utopisch anmutende Taube auf dem Dach. Diese Dominanz des Bewahrungswillen dürfte die Kernarbeiterschaft vielmehr in einer zunehmend turbulenten Welt anfällig machen für einen aggressiven Konservatismus von oben, denn der Schritt vom eigenen Betriebsnationalismus zu anderen, schlimmeren Formen exklusiver Politik ist nicht weit.
    Die fluiden Arbeiter wiederum sind Arbeiter des Begehrens. Dies liegt nicht nur daran, dass sie oftmals Seite an Seite mit Kernarbeitern tätig sind und dabei sehen, wie nah ein besseres und vor allem planbares Leben scheint. Es liegt auch daran, dass insbesondere die jungen fluiden Arbeiter seit der großen Finanzkrise 2008/2009 einen sozialen Kampfzyklus entfesselt haben, der jenseits großer Organisationen, Führungen und Programme mit jähen und massenhaften Unterbrechungen die Wechseldynamik der fluiden Fabrik durchbricht. In den darauffolgenden Phasen auf den diversen Platzversammlungen- und -camps gelang es zudem, massenwirksame Prozesse der industriellen Leidarbeit zu initiieren. Der neoliberale Arbeit-Sprache-Nexus wurde hinterfragt und kritisiert; die völlige Aussichtslosigkeit der fluiden Arbeiter in diesem Nexus, eine planbare Zukunft zu erlangen, wurde deutlich und eine andere, post-neoliberale Welt wurde in einem lebendigen und dynamischen Wortergreifungsprozess Thema. Zumeist rekurrieren die fluiden Arbeiter im Rahmen dieser „Körper-Allianzen“ auf die Sprache der Politik, was insofern verständlich ist, da sich ihre prekäre Situation durch neue Arbeitsgesetzgebungen, Migrationspolitiken oder Mindestlöhne tatsächlich schnell bessern würde. Sie wissen, dass der Neoliberalismus keineswegs weniger Staat meint, sondern vielmehr einen Staat, der auch mit Gewalt dem Kapital neue  Akkumulationsmöglichkeiten eröffnet. Andererseits jedoch hat dieser Rekurs auf den bürgerlichen Staat bis auf das Beispiel Chiles kaum bleibende Ergebnisse gezeitigt, so dass er oftmals nahezu naiv wirkt. Man darf allerdings gespannt sein, ob bei den jungen fluiden Arbeitern diese Naivität nicht bald neuen sozialen Sprachen weicht, die womöglich Ähnlichkeiten mit der Klassen-Kultur der Arbeiter haben könnten. Wenn überhaupt, dann sehe ich hier das Potential für eine Wiederbelebung der Arbeiterkämpfe als Klassenkämpfen, die dann auch den Verkürzungen und Verdinglichungen der ökonomischen Kategorien kritisch begegnen könnten.
    Die überflüssigen Arbeiter schließlich sind die Arbeiter des Bestehens. Ihr Leben ist nicht nur eine unablässige Abfolge von schwersten Prüfungen der Deklassierung, der De-Humanisierung und der Gewalt, die sie zu durchleben haben. Ihre Reproduktion kann deshalb auch nicht mehr sein als ein Kampf ums Bestehen, also der Versuch, so gut es geht von Tag zu Tag zu kommen, ohne Aussicht auf einen Ausbruch aus diesem unendlichen Zirkel tiefsten Leids. (…)
    Die Hoffnung früherer Zeiten, dass Industrialisierung globale Wohlstandseffekte generieren kann, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts verflogen. Die kommende ökologische Katastrophe wird diese überflüssigen Arbeiter zudem zuerst treffen, weil der Großteil der überflüssigen Arbeiter in jenen Ländern wohnt, die keine Ressourcen haben, um ihre Bevölkerungen gegen steigende Temperaturen, Extrem-Wetter, Wasserkrisen etc. zu schützen. (…)
    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts trifft in der Welt vieler Arbeiter eine maximale  informative und begriffliche Desorientierung auf ein gigantisches soziales Bedürfnis nach Orientierung. Zwar gelingt es Arbeitern, in sozialen Kämpfen durchaus diesen ambivalenten Zustand hinter sich zulassen, sie sind dem digitalen Informations-Dschungel nicht ausgeliefert. Aber an den vielen Orten, wo Arbeiter im anhaltenden Zeitalter des Wortverlustes sprachlos und atomisiert leiden oder aber wo sie durch Niederlagen in sozialen Kämpfen erschüttert und desillusioniert werden, überall da tritt dieses Nebeneinander von Desorientierung und Orientierungsbedürfnis deutlich zutage und es entsteht auch bei ihnen eine informative Erregung. Wen kann es da also wundern, wenn Verschwörungstheorien wie QAnon auch innerhalb der verschiedenen Arbeitergruppen Verbreitung finden
    …“ Leseprobe aus dem letzten Teil des Kap.5  – wir danken dem Verlag!

Siehe auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=222156
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