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[Buch] Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht
„Heute sind es meist die Armen und Ausgegrenzten, die sowohl in neuen, reaktionären Bewegungen ihr Heil suchen als auch in progressiver Art aufbegehren – von Montagsdemos bis hin zu Gelbwesten-Aufmärschen. Karl Marx und Friedrich Engels prägten für sie den Begriff «Lumpenproletariat». Er bot ihnen die Möglichkeit, ihre Prognosen aus den Revolutionsjahren 1848/49 zu revidieren. Sie propagierten jetzt, schuld an der Niederlage der Revolutionen seien neben der eigenen Schwäche des Proletariats auch «sozial degradierte, von den Herrschenden korrumpierbare und daher im Klassenkampf passive oder ambivalent agierende Teile der sozialen Unterschichten» gewesen: das Lumpenproletariat eben. Findet sich das revolutionäre Subjekt also im Industrieproletariat oder bei den «Verdammten dieser Erde»? Während die Sozialdemokratie ihre Hoffnungen in die gut organisierte Arbeiter*innenklasse setzte, weiteten Revolutionäre, denen der Rückgriff auf eine solch relativ homogene Klasse fehlte, ihr Verständnis des revolutionären Subjekts aus. Lenin und Mao beispielsweise betrachteten das Lumpenproletariat strategisch und betonten die Bedeutung dieser Klasse, die nicht vom Kapitalismus absorbiert worden war, erkannten aber auch die Notwendigkeit ihrer revolutionären Führung. Aus alledem ergibt sich – aufs begriffsgeschichtliche Ganze gesehen – ein drastischer Widerspruch zwischen reaktionärem Opportunismus (Marx) und einer existentiellen Nähe zum radikalen Bruch mit der Gesellschaft (Bakunin, Fanon), dem Christopher Wimmer auf den Grund geht.“ Umschlagtext zum Buch von Christopher Wimmer im Schmetterling Verlag. Siehe weitere Infos zum Buch und als Leseprobe im LabourNet Germany das Kapitel 5: Das Lumpenproletariat als revolutionäres Subjekt – wir danken!
- »Lumpenproletariat«: Verkommen oder revolutionär?
„… Wer beginnt, sich mit dem Klassenmodell von Karl Marx zu beschäftigen, liest meist zunächst das »Kommunistische Manifest«. Dort begründen Marx und Engels ihre Lehre, die gesamte Geschichte menschlicher Gesellschaft sei als Geschichte von Klassenkämpfen zu verstehen. Im Kapitalismus stünden sich Bourgeoisie und Proletariat gegenüber und der proletarische Sieg im Klassenkampf führe in den Sozialismus. So weit, so klar und so bekannt. Wer dabei jedoch nicht stehen bleibt, findet in Marx’ eher soziologisch inspirierten Schriften wie »Die Klassenkämpfe in Frankreich« oder »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« weitere Klassen und Klassenfraktionen. Marx beschäftigt sich dort verstärkt mit Mittel- und Zwischenklassen, auch die Bauernschaft und der Adel gewinnen an Bedeutung und das führt dazu, dass Marx sein bisheriges Zwei-Klassen-Modell zunehmend relativiert. Am Ende des dritten Bandes des »Kapitals« schreibt Marx dann von den »drei [!] großen Klassen« der kapitalistischen Produktionsweise und meint damit »Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer«. Wäre dies nicht schon verwirrend genug, zieht sich durch sein gesamtes Schaffen eine weitere »Klasse«, der in der marxistischen Klassentheorie kaum Beachtung geschenkt wurde: das Lumpenproletariat. Welch seltsamer Begriff. Er vereint das Ausbeutungsverhältnis des Proletariats mit dem Schimpfwort »Lump«, das zu Marx’ Zeiten einen »liederlichen menschen« bezeichnet, »der die sorge für seinen häuslichen wohlstand aufgeben hat«, wie es im Grimmschen Wörterbuch heißt. Doch was verstehen Marx und Engels, die als »Erfinder« des Begriffs gelten können, nun genau darunter? Wie hat sich der Begriff bei ihnen entwickelt und welche Folgen hatte diese Sichtweise auf den Umgang der politischen Linken mit »den Unterklassen«? (…) Doch nicht die gesamte Arbeiterbewegung übernahm diese polemischen Konnotationen, die Marx dem Lumpenproletariat angelegt hatte. Vor allem im Anarchismus, aber auch in den Schriften von Frantz Fanon, die heute als Gründungstexte postkolonialer Theorie gelten, oder der Black Panther Party finden sich Ansätze, das Lumpenproletariat positiv zu bestimmen: Untergründige Widerstandsformen wurden dabei als Kraft des revolutionären Umbruchs verstanden. Von Subsistenzrevolten des 19. Jahrhunderts über Kämpfe von Erwerbslosen in der Weimarer Republik bis hin zu bäuerlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts und den Aufständen in den Kolonien und Ghettos fanden sich immer wieder soziale Kämpfe von Deklassierten, die ihr Existenzrecht einfordern. (…) Soziale Kämpfe werden auch von denjenigen geführt, die nicht im kapitalistischen Maschinenraum stehen. Dabei sind diese Kämpfe nicht bloß anomisches, defizitäres Verhalten, das aus Desintegration folgt und sich einer formalisierten Bewegungsorganisation ein- und unterzuordnen habe. Vielmehr stellen sie eine neue Offensive in der Austragung gesellschaftlicher Widersprüche dar. Somit können Devianz, Aufstände und Sozialproteste in ihrer schier unüberschaubaren empirischen Vielförmigkeit als Teil der proletarischen Bewegung verstanden werden.“ Beitrag von Christopher Wimmer vom 1. April 2022 aus OXI 3/22 - Das Buch von Christopher Wimmer: Lumpenproletariat. Die Unterklassen zw. Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht
- 1. Auflage 2021, Kartoniert
- ISBN 3-89657-647-X
- 12,00 EUR (inkl. MwSt., zzgl. Porto)
- Siehe weitere Informationen beim Schmetterling Verlag , u.a. das Inhaltsverzeichnis , das Vorwort sowie „Das Lumpenproletariat als reaktionäre Klasse“. Kap. 4 als Textprobe beim Verlag
Kapitel 5: Das Lumpenproletariat als revolutionäres Subjekt
Seit Beginn der Industrialisierung sind Deklassierte vielfältig politisch aktiv. Dies wurde jedoch vielfach sowohl in der herrschenden als auch der sozialistischen Geschichtsschreibung entweder vergessen oder lediglich als devianter Bestandteil der Arbeiter*innenbewegung angesehen. Sobald dort über Protest, Widerstand und Bewegung gesprochen wurde, spielten die Deklassierten meist keine Rolle, die Eigenständigkeit ihrer Kämpfe wurde ihnen häufig abgesprochen. Dies lag daran, dass die Deklassierten andere Formen des Protests wählen mussten. Parteien, Gewerkschaften oder weitere Institutionen repräsentierten sie nicht. Dort fanden sie kein Gehör und blieben suspekt, weil nicht die (Verbesserung der) Lohnarbeit den zentralen Bezugsrahmen ihrer Aktivitäten darstellte, sondern diese entweder keine bedeutende Rolle spielte oder gar ihre Abschaffung gefordert wurde. Die Arbeitervereine, Gewerkschaften und Parteien – insbesondere die Funktionäre – wollten mit solch «spontaner Auflehnung unorganisierter, wohl überwiegend lumpenproletarischer Schichten» (Bartnik/Bordon 1978, 74f.) nichts zu tun haben und schlugen meist einen versöhnlichen Kurs gegenüber dem Staat ein, um ihre Organisationen nicht durch übermäßige Repression zu gefährden. Beispiele für soziale Kämpfe, die sich jenseits der Organisationen der Arbeiter*innenbewegung abspielten, waren die Kartoffelrevolte von 1847, die Kämpfe der «Rehberger» 1848 in Berlin sowie die Teuerungs- und Subistenzunruhen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Lindenberger 1995; Evans 1997), an denen sich auch verstärkt Frauen beteiligten (vgl. Haupt 2013, 174–177). All diese «Proteste blieben in der Regel nicht auf den Versorgungsbereich begrenzt, sondern politisierten sich zunehmend […]. Eine Verständigung über die Ursachen der Mangelsituation konnte umso leichter stattfinden, als Frauen, Kinder und Alte in Städten oft stundenlang Schlange standen, um begrenzt verfügbare Waren auf Marken zu erwerben. Dies war eine international verbreitete Praxis, die Kommunikationsmöglichkeiten schuf.» (Haupt 2013, 172)
So widerlegen sowohl «theoretische Überlegungen als auch die Tatsache, dass es in der Vergangenheit relativ bedeutsame und erfolgreiche Arbeitslosenbewegungen gegeben hat, […] eindeutig die These» (Gallas 1996, 185), dass die Deklassierten nicht politisch handlungs- und konfliktfähig seien.
In seiner Studie «Die andere Arbeiterbewegung» hat Karl Heinz Roth (1977) dahingehend gezeigt, dass es einer erweiterten Geschichtsschreibung der Arbeiter*innenbewegung jenseits von bürgerlichen, sozialdemokratischen und leninistischen Vorstellungen bedarf. Es geht bei Roth um die Schichten der Klasse, die nicht den Kern der Arbeiter*innenbewegung ausmachten und sich in sozialdemokratischen oder kommunistischen Parteien organisierten.
Während in der Arbeiter*innenbewegung für «Widerborstigkeiten, überhaupt für ‹Eigensinn› […] weder Platz noch Recht» (Lüdtke 2015, 19) war, agitierten Andere genau in jenen von der Sozialdemokratie als Lumpenproletariat verfemten Subgruppen. Diese Revolutionäre begaben sich dort auf die Suche nach dem revolutionären Subjekt und fanden widerständiges Handeln, das vielfach den herrschenden Kategorien widersprach, ein politisches Verhalten, «das die ‹Herrschenden› keineswegs direkt herausfordert und Ungleichheiten nicht frontal attackiert, sie vielmehr für Augenblicke auf Abstand rückt» (ebd.).
Nicht alle Theoretiker*innen oder Praktiker*innen der Revolution übernahmen daher die Polemik und die negativen Bewertungen von Marx und seiner Erben, denn «[v]on den Rändern läßt sich ein Neuansatz entfalten» (ebd.). Dieser findet sich in der anarchistischen Weltsicht von Michail Bakunin und Erich Mühsam ebenso wie im Plädoyer für das revolutionäre Potential des Lumpenproletariats in den Entwicklungsländern in den Schriften von Frantz Fanon, die heute als Gründungstexte postkolonialer Theorien gelten. Dort konvergieren die vielfältigen Ausdrucksformen des Lumpenproletariats mit dessen krimineller Energie, um so zu einer Kraft des revolutionären Umbruchs zu werden. Weitere Auffassungen vom revolutionären Potential der Ausgestoßenen und Ausgeschlossenen finden sich bei Herbert Marcuse und in der Theorieströmung des Operaismus. Der geteilte Ansatz dieser theoretischen und praktischen Strömungen war es, die allgegenwärtige Konformität der Gesellschaft zu durchbrechen und zu stören. In ihrem Bezug zum Lumpenproletariat ergibt sich eine völlige Umdeutung des Begriffs. Nun stehen Handlungsmacht, Selbstorganisierung und Politikfähigkeit im Zentrum (Rein 2013; 2017).
Bereits an den Aufständen in Lyon 1831 und 1834, dem Aufstand der schlesischen Weber 1844 und an der Kommunebewegung von 1870/71 (Hartmann/Wimmer 2021) waren Angehörige der Unterklassen beteiligt. Dabei bauten sie nicht auf Parteien oder formelle Organisationen, sondern auf eine «institutionelle Erschütterung» (Piven/Cloward 1986, 47). Ihre disruptive power war eine Handlungsmacht in Form direkter Selbsorganisierung, die nicht zu einer neuen klaren Organisation führen musste.
In den Jahren nach der Reichsgründung gab es in Deutschland eine große Streikwelle. Die Reparationszahlungen von fünf Milliarden Reichsmark, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1870/71 an Deutschland zahlen musste, flossen in die Industrie und hatten zahlreiche Unternehmensgründungen und Spekulationsgeschäfte zur Folge, die zum Börsenkrach 1873 führten. In diesem Zusammenhang kam es auch zu zahlreichen emanzipatorischen und selbstorganisierten Erhebungen der Deklassierten (Fröba/Nitsche 1983, 44ff.) wie den schon erwähnten Bierprotesten in Süddeutschland 1873, gegen die die ordnungssichernde Sozialdemokratie mit einer «elitäre[n] Haltung» (Machtan/Ott 1984, 161) reagierte und sich in aller Schärfe von diesen Aufständen abgrenzte. Anfang des Jahres 1892 kam es zu einer Demonstration von tausenden Erwerbslosen in Berlin, bei der es zu Sachbeschädigungen und Plünderungen kam und deren Forderung nach besserer Versorgung damit nicht ungehört blieb: «Die Demonstrationen der Arbeitslosen in Berlin haben ihre Wirkung nicht verfehlt», schrieb die Zeitschrift Der Sozialist am 3. April 1892, die damals noch das Organ der sozialdemokratischen jungen Opposition war. «Der Magistrat hat schleunigst eine Anzahl städtischer Arbeiten […] in Angriff genommen, um dem Notstande wenigstens teilweise zu steuern.» Die Erwerbslosen waren also politik- und konfliktfähig; Personen, die aktiv, bewusst und autonom ihre Interessen vertreten konnten. [1] Auch in den frühen 1920er-Jahren kam es in Deutschland noch einmal zu zahlreichen Lebensmittelunruhen und Protesten gegen Teuerungen. An ihnen beteilgten sich vor allem Frauen und Jugendliche. Dabei wurden Läden geplündert oder Gruppen erzwangen auf Märkten die Senkung von Preisen. Die Polizei eröffnete immer wieder das Feuer. Nach Unruhen in Ulm im Juni 1920 wurden beispielsweise 14 Menschen verletzt.
5.1 «Die Blume des Proletariats» von Michail Bakunin
Ein bedeutender Stichwortgeber innerhalb der Arbeiter*innenbewegung für die Handlungsmacht des Lumpenproletariats war der russische Revolutionär und Anarchist Michail Bakunin (1814–1876). Er begründete eine libertäre Sozialismusvorstellung, die sich nicht auf die Eroberung einer parlamentarischen Mehrheit fokussierte. Vielmehr zeichnete sich Bakunins Konzeption durch Massenproteste und eine Revolutionierung des Alltags aus. In einem vitalen Aufbruch von Streiks, Aufständen und Militanz im Alltag solle die kämpfende Bevölkerung ihre Kluft zur herrschenden Klasse erkennen. Dies bilde den Auftakt zur sozialen Revolution. An die Stelle des Staates sollte bei Bakunin eine Föderation autonomer Produktionskommunen treten. Er entwickelte «die Vision einer internationalen Revolution, die weltweit mit allen staatlichen Institutionen und sozialen Zwangsverhältnissen Schluß machen soll» (Bakunin 2000, 9). In der Beseitigung der Zentralstaaten sah Bakunin die Voraussetzung dafür, dass sich die «ideale Gesellschaft, die freie Vereinigung aller freien Einheiten, die von unten nach oben organisiert seien, entwickeln» (in: Brupbacher 1976, 52) könne. Somit betreffen wesentliche Unterschiede zu Marx den Staat und die Autorität.
Aber auch das Lumpenproletariat wurde bei Bakunin anders konzipiert. Für seinen sozialrevolutionären Anarchismus stützte er sich nicht mehr ausschließlich auf das Proletariat, sondern ebenso auf die städtischen Unterschichten, die landlosen Bäuer*innen und das Lumpenproletariat. Bakunins Bezugspunkte waren – im Gegensatz zu Marx, der sich in erster Linie für England interessierte – südeuropäische Länder, insbesondere Spanien und Italien. Dort fand Bakunin diese Volksmasse vor, die sich aus städtischen und Fabrikarbeiter*innen sowie kleinen Handwerker*innen, aber auch aus rund zehnmal so vielen «besitzlosen Bauern» (Bakunin 1972, 422) zusammensetzte. Diese heterogene Masse, die Bakunin weit weniger als Klasse denn als «einfache Menschen» beschrieb, war genau jene Lazzaroni-Schicht, vor der Marx gewarnt hatte. Mit diesem teilte Bakunin die Einsicht, dass es sich beim Lumpenproletariat um eine von den kapitalistischen Sozialbeziehungen entfernte Identität handelt. Die Schlüsse, die sie daraus zogen, waren jedoch diametral entgegengesetzt: Während nach Marx durch die Ferne zur Lohnarbeit kein Bewusstsein als Klasse entstehen konnte, verkörperten die Lumpenproletarier*innen für Bakunin in dieser Identität jenseits der Lohnarbeit eine Art real existierenden Anarchismus. Das Lumpenproletariat bildete für ihn das neue revolutionäre Subjekt. Dies fand er nicht mehr in den organisierten Arbeiter*innen, sondern «in den Randschichten der Arbeiterschaft, beim verelendeten Landproletariat und im ‹einfachen Volk› […]. Dafür benützt er den Begriff Lumpenproletariat» (Bescherer 2013, 71).
Womit wird dies nun begründet? Das Lumpenproletariat ist von der kapitalistischen Produktionsweise noch nicht korrumpiert, nicht durch Eigentum «verdorben» (Bakunin 1972, 444) und nicht in die repräsentativen Organisationen der als kleinbürgerlich verstandenen Sozialdemokratie eingehegt. Diese würden durch ihre letztendlich staatliche Form Individualität und Spontanität ausschalten und damit revolutionäre Möglichkeiten verunmöglichen. Die Arbeiter*innen seien durch sie an den Verhandlungstisch gebunden und zu keiner revolutionären Handlung mehr fähig.
Das revolutionäre Bewusstsein des Lumpenproletariats hingegen gründet in vorkapitalistischen Volkstraditionen einer moralischen Ökonomie und besteht darin, dass es (noch) außerhalb der modernen Gesellschaft steht und gerade deshalb in der Lage ist, diese von Grund auf zu zerstören. Dieses bäuerlich geprägte «bettelarme Proletariat, von dem Marx und Engels, und mit ihnen die ganze Schule der deutschen Sozialdemokraten mit tiefster Verachtung als vom Lumpenproletariat sprechen» (Bakunin 1972, 422) trägt für Bakunin vielmehr «den ganzen Geist und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution» (ebd., 423) in sich.
Für Bakunin ist es nicht nur die Erfahrung der Ausbeutung, die zur Revolution führen wird, sondern die Gegnerschaft zu den herrschenden Werten, «der Abgrund zwischen Lumpenproletariat und bürgerlicher Gesellschaft» (Fähnders 1987, 177). Die Revolution ist damit die Umwertung der Werte des Bürgertums und nicht ausschließlich auf den Produktionsprozess beschränkt (vgl. Bakunin 1972, 181). Die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Normen und Werten ermöglicht das revolutionäre Potential. Zwar sei eine solche «Volkserhebung […] naturgemäß spontan, chaotisch und unerbittlich» (ebd.), doch gelte es, so Bakunin, die «schlechten Leidenschaften» (ebd., 73) des Lumpenproletariats für die sozialistische Bewegung zu mobilisieren. Im Lumpenproletariat, «und nur in ihm, nicht in jener […] verbürgerlichten Schicht der Arbeitermasse, ist der ganze Geist und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution» (ebd., 422) enthalten. Die strikt anti-bürgerliche Haltung und autonome Praxis des Lumpenproletariats, die insbesondere keine Achtung vor dem Privateigentum kenne, schließen an die Tradition von Erhebungen von armen Bäuer*innen und dem städtischen Lumpenproletariat an. [2]
Für Bakunin ist das Lumpenproletariat folglich «die Blume des Proletariats […], die von der ganzen bürgerlichen Kultur fast ganz unberührt ist und in ihrer Brust, ihren Leidenschaften, Instinkten und Bestrebungen, in der Not und dem Elend ihrer kollektiven Stellung, alle Keime des Sozialismus der Zukunft in sich trägt» (ebd., 422ff.) und zu «wahre[n] Heldentaten» (ebd. 444) fähig sei.
Bei Bakunin gewannen dabei Moral, Kultur und alltägliches Handeln größere Bedeutung. Der Klassenkampf spielte sich daher nicht nur im Bereich der Produktion ab, sondern fand auch in der Kultur und den alltäglichen Handlungen der Menschen statt. Das Lumpenproletariat wird daher auch kaum zu einer Kategorie der Sozialstrukturanalyse, sondern zu einer Kategorie der (nun positiven) Bewertung und des Verhaltens einer «plebejischen Einstellung, die Bakunin in Abgrenzung zum verengten marxschen Fokus auf das Industriearbeiterproletariat entwickelt» (Bescherer 2013, 89).
5.2 Bohême, Kunst und Anarchie bei Erich Mühsam
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert fanden sich vielfältige sozialrevolutionäre Bezüge auf das Lumpenproletariats, so auch in der Kunst. Insbesondere der Anarchist Erich Mühsam (1878–1934) setzte sich um die Jahrhundertwende intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Lumpenproletariat, Revolution und dem Beginn der expressionistischen Literaturrevolte auseinander. Auch wenn Mühsam selbst auf der Straße lebte, gründete sein Fokus auf das Lumpenproletariat nicht in erster Linie auf persönlichen Erfahrungen, sondern eher auf «literarische[n] Einflüsse[n]», die seine «Begeisterung für die gesellschaftlich Deklassierten, Rebellen und sozial Ausgestoßenen erweckten» (Linse 1978, 35). Dies deckte sich mit Mühsams Kritik an der Sozialdemokratie. In der Fackel, einer von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift schrieb er 1906 in seinem Artikel Bohême:
«Das Proletariat […] ist von der zukunftsstaatsbesessenen Sozialdemokratie, wenigstens in Deutschland und Österreich, dem Klassenkampf entfremdet worden. Die dem Staat nachgebildeten zentralistischen Arbeiterorganisationen haben durch ihre Ausschaltung des individuellen Temperaments des Einzelnen die revolutionäre Kernidee des gewerkschaftlichen Kampfes verwischt und den Arbeiter […] in die Rolle eines mit seinen Feinden Schacher treibenden Politikers gedrängt» (Mühsam 1978, 26).
Gegen diese eingehegte Arbeiter*innenbewegung versuchte er die eigentlich revolutionäre Kraft des Lumpenproletariats in Verbindung mit der anarchistischen Intelligenz in Stellung zu bringen. Mühsam erkannte, dass diese «gleich dem Künstler als von der Gesellschaft isolierte Außenseiter ihr Dasein fristete» (in: Kauffeldt 1983, 183). In seinem Appell an den Geist von 1911 schrieb er:
«Paria ist der Künstler, wie der letzte der Lumpen! Wehe dem Künstler, der kein Verzweifelter ist! Wir, die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen – in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Ausgestoßenen und Verbrechern wollen wir kämpfen gegen die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns!» (ebd., 199f.).
Diese Unkultur war die Gesellschaft des Bürgertums, der Spießer, ebenso wie der Arbeitsethos der Sozialist*innen und verbürgerlichten Arbeiter*innen.
Ihr gegenüber standen die anarchistischen Künstler*innen als Rebell*innen sowie die Lumpenproletarier*innen, die ein Bündnis aller sozial Deklassierten bilden sollten. Die Verbundenheit zwischen Künstler*innen und Lumpenproletariat war bei Mühsam weniger strategisch motiviert, sondern existentiell begründet (vgl. ebd., 183). Beide Gruppen stellen allein durch ihr Dasein die Normen und Werte der Gesellschaft völlig infrage und bilden damit die ultimative Opposition zum herrschenden System. Beiden liegt «alles Kompromißmachen, alles Sicheinrichten, Sichbequemmachen fern», wie Mühsam 1909 in der Zeitschrift Der Sozialist schrieb. Gestartet als oppositionelle Zeitschrift innerhalb der Sozialdemokratie, erschien Der Sozialist von 1909 bis 1915 als Organ des Sozialistischen Bundes, einer von Gustav Landauer (1870–1916) gegründeten anarchistischen Gruppe. Das Lumpenproletariat wurde «zum Hort eines gesellschaftlich nicht integrierten (und vermeintlich nicht integrierbaren) Widerstands – auch gegenüber dem Proletariat. So werden Anarchismus, Bohême, fünfter Stand [Lumpenproletariat] und Künstlertum deckungsgleich» (Fähnders 1987, 180).
Die «literarische Pose der Provokation» (ebd., 181) wurde «zur handfesten Praxis der Agitation» (ebd.). Die geistige und theoretische Verbindung zwischen Anarchismus und Lumpenproletariat wollte Mühsam auch praktisch umsetzen. In den Jahren 1909/10 versuchte er in München mehrmals Mitglieder des Lumpenproletariats zu organisieren. Den Rahmen stellte die «Gruppe Anarchist», später «Gruppe Tat», die Münchner Ortsgruppe des Sozialistischen Bundes. In zwei Zeitungsartikeln im Sozialist berichtet er von seinen konkreten Erfahrungen. Sein Artikel «Neue Freunde» beschreibt, wie Mühsam nach mehrmaligen Rekrutierungsversuchen in Kneipen, Unterkünften und auf der Straße bei einer Veranstaltung vor rund zwanzig Personen – «Lumpenproletariern» – spricht. Unter ihnen glaubt Mühsam «Generalstreikler aus innerem Antrieb» zu finden sowie «nicht selten Destruenten aus unbewußtem Gerechtigkeitsgefühl». Er attestiert den Anwesenden «trotzige Entschlossenheit» sowie einen «Drang nach unbedingter Unabhängigkeit». Bei der «proletarischen Bohême», wie er das Lumpenproletariat auch nannte, herrsche «Leichtigkeit und Skepsis, Fröhlichkeit und Verzweiflung» vor.
Mühsam beschreibt all dies mit einer bewundernden Anerkennung, von der Verachtung für die Deklassierten ist nichts zu spüren. Lediglich die Einsicht in die eigene Stärke fehle der Bohême noch, dann könne sie die herrschende Ordnung zu Fall bringen. Als Anarchist will Mühsam den Lumpenproletarier*innen dazu «gern die Hand reichen». Dabei betont er die Augenhöhe des Bündnisses zwischen Anarchist*innen und Lumpenproletarier*innen.
Zwar scheiterten Mühsams praktische Organisierungsversuche in München, doch ein Jahr später, am 1. Juli 1910, schrieb er unbeirrt wiederum im Sozialist: «Ich glaube heute noch so fest wie ehedem, daß in vielen dieser ‹Lumpen› Fähigkeit und Bereitschaft genug ist, Ideale aufzunehmen und ihnen zu dienen.»
Diese Ideale unterschieden sich, ähnlich wie bei Bakunin, fundamental von den herrschenden Sozialismuskonzeptionen. Noch einmal der Artikel aus der Fackel:
«Der Haß gegen alle zentralistischen Organisationen, der dem Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchistische Prinzip der sozialen Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohêmenaturen. Daher stammt denn auch das innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten fünften Stande, zum Lumpenproletariat, das fast jedem Bohémien eigen ist. […] Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer neuen Kultur die Wege weist» (Mühsam 1978, 30f.).
Die Veränderung der Gesellschaft wird einer Internationale der Deklassierten und Außenseiter zugesprochen, die von einem grundlegend anderen Verständnis von Arbeit geprägt sei. In seinem Artikel «Der fünfte Stand» brachte er dies auf den Punkt: «Wir suchen keine Arbeit, wir wollen nicht für die ‹Herren› arbeiten.»
1910 wurde Mühsam für seine Organisierungsversuche vor Gericht gestellt (vgl. Kreuzer 2000, 284), doch bereits ein Jahr später brachte er seine Zeitschrift für Menschlichkeit, die bis 1919 erschien, unter dem Namen Kain heraus. Kain, als «Ahnherr der Enterbten» wie Walter Benjamin (2013, 19f.) ihn nannte, war in jener Zeit zum Idol einer progressiven Intelligenz geworden [3], die sich positiv auf das Lumpenproletariat stützte, und wurde in eine Tradition widerständiger Rebellen eingeordnet.
Mit revolutionärem Pathos beschwören die anarchistischen Dichter und Politiker das Lumpenproletariat, da sie dort das Ideal der antibürgerlichen Existenz verwirklicht sehen. Sicherlich muss Erich Mühsam als ein extremes Beispiel für die freiwillige positive Bezugnahme auf das Lumpenproletariat angesehen werden. Seine selbstbewusste Anti-Bürgerlichkeit war eine Selbstermächtigung. Seine Selbst-Exklusion aus der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichte ihm eine fundamentale Opposition sowie die Möglichkeit, darin eine Avantgarde-Rolle einzunehmen. Doch war Mühsam während der Umbrüche, die sich um die Jahrhundertwende ereigneten, nicht alleine in seinen gelebten Provokationen und alltäglichen Protesten gegen die bürgerliche Herrschaft. Solch abweichende, anti-autoritäre Gegenentwürfe lassen sich unter anderem auch beim Essayisten Ludwig Rubiner finden. Dieser stellte 1912 in der expressionistischen Zeitschrift Aktion die Frage, wer das Subjekt der kommenden Revolution sein könne:
«Wer sind die Kameraden? – Prostituierte, Dichter, Unterproletarier, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbrecher, Kritiker, Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen dieser Welt. Wir sind der Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind Arbeitslose, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen. Wir sind der heilige Mob» (in: Raabe 1964, 66).
Es ist unmöglich, Mühsams und Rubiners Aufzählungen nicht vor dem Hintergrund der bekannten Formulierung von Marx aus dem «Brumaire» zu lesen: Wenige Jahrzehnte nachdem Marx noch von jener «hin- und hergeworfene[n] Masse, die die Franzosen la boheme nennen» (MEW 8, 161) geschrieben hat, nehmen nun die Anarchist*innen und Literat*innen eine fundamentale Umdeutung, Umdrehung und Aneignung dieser abgewerteten Gruppe vor. Für sie verkörperte dieses Ensemble der Außenseiter und Randgestalten den ultimativen Bruch mit der Gesellschaft des Kaiserreichs.
Anmerkungen
1) Solche Proteste wiederholten sich und wirkten auch auf die bestehenden Institutionen. 1879 wurde die erste (gewerkschaftliche) Arbeitslosenunterstützungskasse gegründet (vgl. Herbig 1978, 146). Hintergrund war das Fehlen eines staatlichen Unterstützungssystems. Auch wenn dadurch die Attraktivität der Gewerkschaften bei den Erwerbslosen wuchs, verhielten sich die Gewerkschaften und viele ihre Mitglieder «[u]norganisierten Arbeitslosen gegenüber […] ablehnend» (Wolski-Prenger 1994, 106) und so organisierten sich die Lumpenproletarier*innen weiterhin in erster Linie selbst.
2) Detlef Hartmann beschreibt diese Tradition der Revolution als Volksrevolution und als Ausdruck einer Erhebung gegen die tayloristisch-fordistische Offensive, also gegen die kapitalistische Innovation und ihren Zurichtungen (Hartmann 2019).
3) Für Benjamin war das Lumpenproletariat beispielsweise nicht mehr der «Abhub aller Klassen», sondern die «Hefe des Proletariats» (Benjamin 2006, 174).