[Buch] Leo Kofler: Interventionen. Kleine Schriften zur marxistischen Theorie und Praxis

Leo Kofler vor der RUB„… Deshalb bleibt selbst unter der Bedingung der stärksten Gewöhnung an den entfremdeten Arbeitsprozess der Arbeiter sich mehr oder weniger bewusst, in welcher Situation er menschlich steht. Es erklärt sich daraus auch weitgehend, dass einer französischen Untersuchung zufolge nicht nur 73 Prozent der Hilfsarbeiter, sondern sogar 78 Prozent der mittel qualifizierten Arbeiter und 59 Prozent der hoch qualifizierten mit guter Bezahlung aus ihrem Beruf auswandern möchten. Es mag gewiss die Lohnfrage ein Faktor sein, die dem Arbeiter das Streben aufdrängt, seinen Beruf zu verlassen, aber der Tieferblickende weiß, dass es ebenso sehr das durch Langeweile und Trauer gekennzeichnete Unbefriedigende ist, das die gleiche Wirkung ausübt. Diesem Zustand entspringt die bekannte Sehnsucht des Arbeiters, seine Arbeit möglichst rasch zu beenden, oder das Verlangen nach gesetzlicher Verkürzung der Arbeitszeit…“ Subjektive Lieblingspassage der Redaktion aus unserer Leseprobe zum Anfang September im Dietz-Verlag erscheinenden und von Christoph Jünke herausgegebenen Buch – siehe mehr Infos zum Buch und zu Leo Kofler sowie den Vorabdruck: „Der Arbeiter und die sterbende Zeit“ (1958):

  • Leo Kofler: Interventionen. Kleine Schriften zur marxistischen Theorie und Praxis
    • Herausgegeben und eingeleitet von Christoph Jünke
    • 256 Seiten, Klappenbroschur
    • 27,00 €
    • ISBN 978-3-320-02420-8
    • Demnächst beim Dietz-Verlag externer Link (noch keine Infos)
    • siehe den Werbeflyer 

 

Leo Kofler: Der Arbeiter und die sterbende Zeit (1958)

Vorbemerkung der Redaktion: Viel war in den 1950er und 1960er Jahren von einer vermeintlichen „Verbürgerlichung des Proletariats“ die Rede, bis auch dieses moderne Proletariat nach „1968“ zu revoltieren begann. Einer der wenigen, die die strukturellen Grenzen dieser Verbürgerlichung bereits in den Fünfzigern thematisierte, war der deutsch-österreichische Gesellschaftstheoretiker und Sozialphilosoph Leo Kofler (1907-1995), der den deutschen Nachkriegsmarxismus um grundlegende Schriften zur Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, zur Sozial- und Gesellschaftswissenschaft, zur marxistischen Theorie und zur Ästhetik und Anthropologie bereicherte und als Vermittler zwischen der alten, klassischen Arbeiterbewegung und dem Neomarxismus der „Neuen Linken“ fungierte. Er prägte damit zahllose Menschen – auch die verantwortliche Redakteurin von LabourNet Germany! In dem neuen, soeben im Berliner Karl Dietz-Verlag veröffentlichten und von Christoph Jünke im Auftrag der Bochumer Leo Kofler-Gesellschaft e.V. herausgegebenen Kofler-Band Interventionen. Kleine Schriften zur marxistischen Theorie und Praxis finden sich zahlreiche Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Koflers zu Grundsatzfragen einer marxistischen Theorie und Praxis der deutschen Linken erstmals in Buchform. Wir dokumentieren im Folgenden, mit freundlicher Genehmigung von Herausgeber und Verlag, einen Beitrag aus dem Jahre 1958, in dem Kofler die anhaltende Entfremdungssituation des modernen Lohnarbeiters darstellt und über die anthropologische Wesenheit des Menschseins nachdenkt.

Drei zusammenwirkende Faktoren rufen die das Leben des Arbeiters durchziehende Grundstimmung der Trauer hervor: erstens das Milieu, das sich aus der Arbeitsstätte samt Umgebung und den Zufahrtsstraßen und Arbeitsmitteln (zum Beispiel typische Arbeiterzüge) zusammensetzt; zweitens das Wissen des Arbeiters um seine soziale und menschliche Inferiorität; und drittens das Ausgeliefertsein des Arbeiters an ein beherrschendes Phänomen seines Lebens, an die sterbende Zeit. Um dieses Phänomen zu verstehen, müssen zwei Begriffe geklärt werden, der Begriff der Arbeit und der Begriff der hier infrage stehenden (nicht bloß physikalischen) Zeit. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu meinen, dass die Begriffe Arbeit und Arbeiter in direkter Wechselwirkung zueinanderstehen, und zwar so, dass sich der Arbeiter schlechthin durch die Tatsache seiner Arbeit bestimmt und eben wegen dieses Merkmals, Träger der Arbeit zu sein, sich von den übrigen Menschen erkennbar unterscheidet. Die Wahrheit ist vielmehr, dass der Arbeiter deshalb ein arbeitendes Wesen ist, weil er Mensch im allgemeinen Sinne ist. Dagegen als Arbeiter im spezifisch gesellschaftlichen Sinne ist er ein der Arbeit – genauer (wie noch zu zeigen): ihrer ursprünglichen Bestimmung – entfremdetes Wesen. Denn in ihm äußert sich die Arbeit, sofern wir sie als ursprüngliche, anthropologische Wesenheit des Menschseins begreifen, geradezu als Nichtarbeit, das heißt als Verderbnis der ursprünglichen Eigenheit des Menschen, als eine ihn verwüstende Erscheinung. Wie ist das genauer zu verstehen?

Der mit Bewusstsein begabte Mensch, der kraft dieses Bewusstseins sich Ziele zu setzen vermag, nach deren Verwirklichung er dadurch strebt, dass er Elemente der Wirklichkeit (Objekte) verändert, erscheint aus diesem Grunde bereits seiner Natur als Mensch nach als ein tätiges oder arbeitendes Wesen. In anthropologischer »Absicht« ist es der Zweck der Tätigkeit (= Arbeit) des Menschen, »selbstverwirklichend« zu wirken, das heißt die menschlichen Kräfte, Anlagen und Gaben und damit den Menschen selbst zu harmonischer Entfaltung zu bringen. Eine solche Arbeit heißt schöpferische Arbeit, und sie zeigt überall da die Tendenz zum Schöpferischen, wo sie ihren freien, weil auf die Selbstverwirklichung ausgerichteten Charakter behält und nicht der menschlichen Bestimmung fremden, ihr »entfremdeten« und in dieser Gestalt zumeist aufgezwungenen Zielen dient. Im Bereiche einer solchen freien Tätigkeit oder Arbeit erhält diese eine neue Eigenschaft dahingehend, dass sie gleichzeitig mit dem zusammenfällt, was wir als Spiel zu bezeichnen pflegen (wovon die sinnfreie Spielerei, die übrigens gleichfalls eine Form der Arbeit darstellt, scharf zu unterscheiden ist). Es ist daher durchaus richtig zu sagen, dass die eigentliche anthropologische Wesenheit des Menschen sich darstellt im Spiel; die Begriffe Tätigkeit, Arbeit und Spiel gelangen hier zu voller Identität.

Zwar ist der Arbeiter tätig, weil er Mensch ist, zwar arbeitet er. Doch unter den entfremdeten Bedingungen seiner Existenz (und er ist nur da »Arbeiter«, wo Entfremdung herrscht, denn unter nicht entfremdeten Bedingungen hebt er sich als besonderer »Arbeiter« auf) ist seine Arbeit genau das Gegenteil von Arbeit im ursprünglichen und eigentlichen Sinne oder, was dasselbe bedeutet, vom freien Spiel. Der Arbeiter ist die personale Verkörperung der Entfremdung vom Spiel, er ist ihr Gegenteil. Die wesenhafte Identität von Mensch und Arbeit, die wir als wesenhafte Identität von Mensch und Spiel nachgewiesen haben, ist gestört, weil der Arbeiter in seiner Arbeit nicht mehr als wahrer Mensch erscheint, sondern als verdorbener Mensch. Jetzt versteht man, warum der Arbeiter in den meisten Fällen sich in der Arbeit unbehaglich und erst außerhalb der Arbeit wohlzufühlen pflegt. Hinzuzufügen ist nur, dass infolge der Formung des Arbeiters durch seine entfremdete Arbeit auch die Freizeit als Zeit der freischöpferischen Tätigkeit zu misslingen pflegt, obgleich aus der niemals ganz erlahmenden Abwehr gegen das vollständige Unterliegen unter die Entfremdung gelegentlich sogar starke Residuen einer solchen Tätigkeit zu beobachten sind.

Der Begriff der Arbeit, mit dem wir es heute zu tun haben, ist also ein solcher der Entfremdung. Will man unbedingt eine enge Verknüpfung zwischen den Begriffen Arbeit und Arbeiter behaupten, so ist das nur möglich, sofern eine solche Verknüpfung zwischen der entfremdeten Arbeit und dem Arbeiter besteht. Durch sie erscheint der Arbeiter selbst als der Entfremdung unterworfen, nicht frei, als ein unter ihrer Last Leidender, als ein Verworfener, dessen Bewusstsein dementsprechend kein glückliches, sondern nur ein unglückliches sein kann und dessen Grundstimmung die Trauer ist. Langeweile und Trauer, sagt der französische Industriesoziologe Georges Friedmann (Die Zukunft der Arbeit, 1953, S. 47ff.), durchziehen den Arbeitstag des modernen Industriearbeiters.

Wie die Trauer dem entfremdeten Tun, so entspringt die Langeweile der entfremdeten Zeit. Seit Bergson und Heidegger sind wir genötigt, uns mit ihrem intuitiv und irrationalistisch vereinseitigten und auch subjektivistisch aufgeblasenen Zeitbegriff auseinanderzusetzen. Aber wie immer wir den Zeitbegriff fassen, psychologisch oder »philosophisch«, es bleibt bei genauer Untersuchung von ihm letztlich nichts übrig als das subjektive Erleben der Zeit. Das heißt, die objektive, nach physikalischen Maßstäben ablaufende Zeit kann von den einzelnen Individuen je nach den Umständen, unter denen sie abläuft, verschiedenartig erlebt werden. Auf dieses psychologische Faktum reduziert sich das »Geheimnis« der angeblich irrationalen Zeit. Aber dieser mystische Irrationalismus löst sich auf und wird rational durchschaubar, sobald wir die Zeit von der Abstraktion, in die sie die Metaphysiker hineingestellt haben, befreien und wieder in Beziehung zu jenen konkreten Faktoren bringen, ohne die sie als Zeit ein leeres Phantom bleibt, nämlich zu dem, was in ihr geschieht, zu ihrem Inhalt. Die Zeit, die der Arbeit des modernen Arbeiters zugehört, müssen wir natürlich in Beziehung zur Tätigkeit dieses Arbeiters bringen. Nicht die Zeit für sich löst das »Rätsel« ihrer Wesenheit, sondern das in ihr ablaufende Geschehen, in unserem Falle die sie ausfüllende Tätigkeit. Das, was die »reine« Zeit sein soll, erhellt sich nur in ihrer Beziehung zu dem vom Menschen in ihr Vollzogenen. Anthropologisch betrachtet ist Zeit nichts anderes als eine Erscheinungsweise des Tuns des Menschen, ohne das es keine Zeit geben kann. (Selbst das »Nichtstun« erscheint so als eine Art des Tuns.)

Aus dem Gesagten lässt sich nun ohne Schwierigkeit schließen, dass entsprechend den von uns herausgearbeiteten extremen Polen des Tätigseins, und zwar der schöpferisch-spielenden und der unschöpferisch-entfremdeten Tätigkeit, auch die Zeit den Charakter des einen oder des anderen erhält, sich als erfüllte schöpferische oder als entfremdet sterbende Zeit darbietet und als solche auch von Menschen erlebt wird.

Praktisch kann das Tun allerdings niemals rein als das eine oder das andere dieser Extreme auftreten, denn weder gibt es ein nur schöpferisches noch ein nur unschöpferisches Tun. Jede Tätigkeit, auch die der Bestimmung des Menschen am meisten entfremdete, die jedes Spiels bare Tätigkeit, zeigt spontane Züge des Schöpferischen, wie auch umgekehrt die schöpferische Tätigkeit Momente des Unschöpferischen enthält. Aber gerade diese dialektische Spannung zwischen dem Schöpferischen und dem Unschöpferischen aller menschlichen Tätigkeit (worin sich übrigens – entgegen dem vulgär-optimistischen wie auch dem nihilistischen Menschenbild – die anthropologische Position des Menschen widerspiegelt, nach allen Seiten »offen« zu sein) zwingt dem Menschen jene Unruhe auf, die eine Art Kampf gegen das Tote und um das Lebendige in seiner Arbeit darstellt.

Deshalb bleibt selbst unter der Bedingung der stärksten Gewöhnung an den entfremdeten Arbeitsprozess der Arbeiter sich mehr oder weniger bewusst, in welcher Situation er menschlich steht. Es erklärt sich daraus auch weitgehend, dass einer französischen Untersuchung zufolge nicht nur 73 Prozent der Hilfsarbeiter, sondern sogar 78 Prozent der mittel qualifizierten Arbeiter und 59 Prozent der hoch qualifizierten mit guter Bezahlung aus ihrem Beruf auswandern möchten. Es mag gewiss die Lohnfrage ein Faktor sein, die dem Arbeiter das Streben aufdrängt, seinen Beruf zu verlassen, aber der Tieferblickende weiß, dass es ebenso sehr das durch Langeweile und Trauer gekennzeichnete Unbefriedigende ist, das die gleiche Wirkung ausübt. Diesem Zustand entspringt die bekannte Sehnsucht des Arbeiters, seine Arbeit möglichst rasch zu beenden, oder das Verlangen nach gesetzlicher Verkürzung der Arbeitszeit. Die Arbeitszeit selbst erlebt der Arbeiter zumeist als eine für ihn sinnlose Zeit, als eine dahinsterbende, mit der sein eigenes Leben stückweise unerfüllt bleibt und dahinstirbt. Die entfremdet-unmenschliche Arbeit äußert sich in nichts eindeutiger als in der sterbenden Zeit. Das Dahinsterben des Arbeiterlebens in der sterbenden Zeit wird aber erst recht in seiner Bedeutung verständlich, wenn man sich gegenwärtig macht, dass es der wichtigste Teil seines Lebens ist, den der Arbeiter seiner Berufstätigkeit hingibt, weil darin der beste Teil seiner Kräfte aufgeht. In der allgemeinen Tragik der sozialen und menschlichen Situation des Arbeiters ist das ein wesentliches Moment. Darüber hilft ihm auch die ständige Flucht in die Freizeit wenig, weil er auch nach der Arbeitszeit das bleibt, was er in ihr geworden ist: ein kapitalistisch entfremdetes und menschlich unterdrücktes Wesen. Deshalb kann ihm die von ihm so sehr ersehnte Verkürzung der Arbeitszeit allein aus seiner Misere nicht heraushelfen. Hier hilft nur eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Schon Walther Rathenau hat das Problem der sterbenden Zeit gekannt (wir zitieren nach dem Vortrag von Kasnarich-Schmid, »Recklinghausener Gespräche des DGB«, 1957, in dem übrigens auch viel reaktionärer Unsinn geredet wurde): »Wer mechanische Arbeit am eigenen Leib kennengelernt hat, (…), das Grauen, wenn eine verflossene Ewigkeit sich auf einen Blick auf die Uhr als eine Spanne von zehn Minuten erweist, wer das Sterben eines Tages nach einem Glockenzeichen misst, wer Stunde um Stunde seiner Lebenszeit tötet, mit dem einzigen Wunsch, dass sie rascher sterbe, wird zugeben, dass eine Kürzung der Arbeitszeit, gleich viel, was an ihre Stelle tritt, für den mechanisch Arbeitenden ein Lebensziel bedeutet.« Rathenau hat den Tatbestand glänzend beschrieben, aber er hat keine ausreichende Erklärung zu geben vermocht. Heute wissen wir, nicht zuletzt durch die Herausgabe der Frühschriften von Karl Marx und bei Vermeidung des üblichen Hinweglesens über die entsprechenden Stellen in den marxschen Spätschriften, besonders des Kapitals, dass wir ohne tiefensoziologische und anthropologische Hilfsmittel nicht auskommen.

Wir danken dem Herausgeber und dem Verlag!

Siehe zum Buch und zu Leo Kofler auch:

  • Drei in eins. Vergeistigung der Herrschaft. Die drei Faktoren des bürgerlichen Staates
    In den Frühschriften weist Marx auf die bedeutende Rolle hin, die der bürgerlichen Gedankenwelt im Gefüge der modernen Klassengesellschaft zukommt. Einerseits stellt das bürgerliche Denken eine wirkliche Kraft, ein unentbehrliches und nach allen Richtungen wirkendes Mittel der Aufrechterhaltung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse dar. Es entsteht somit leicht der Schein, als ob die gesellschaftlichen Verhältnisse und Differenzierungen ausschließlich durch geistige Faktoren veranlasst wären. Aber andererseits bleibt dieser Schein eben bloßer Schein, denn hinter ihm stehen die wirklichen, ökonomischen und sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, deren Verschwinden die alleinige Voraussetzung für das Verschwinden dieses die ganze Gesellschaft beherrschenden Scheins bildet. Marx bemerkt hierzu: »Dieser ganze Schein, als ob die Herrschaft einer bestimmten Klasse nur die Herrschaft gewisser Gedanken sei, hört natürlich von selbst auf, sobald die Herrschaft von Klassen überhaupt aufhört.«…“ Artikel von Leo Kofler in der jungen Welt vom 26.08.2024 externer Link als Vorabdruck aus dem Buch, der geringfügig gekürzter Aufsatz »Vergeistigung der Herrschaft. Die drei Faktoren des bürgerlichen Staates«, der zuerst am 1. März 1957 anonym und unter dem Titel »Die Diktatur des bürgerlichen Geistes im kapitalistischen Staat« in der Zeitschrift Wiso. Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erschien.
  • Die Leo Kofler-Gesellschaft externer Link
  • Leo Kofler: Der marxistische Grenzgänger
    Leo Kofler kennt heute kaum jemand. Doch sein Werk ist so originell wie aktuell. Als früher Kritiker der Frankfurter Schule erkannte er: Eine Linke, die die arbeitende Mehrheit entfremdet, ist machtlos.
    Auch wenn der Philosoph Ernst Bloch ihn als einen direkten Fortsetzer von Georg Lukács’ bahnbrechendem Klassiker Geschichte und Klassenbewusstsein lobte, so hatte Leo Kofler mit seinen mehr als dreißig Büchern und Broschüren schon zu Lebzeiten in der Regel wenig Glück. Das mythische Jahr 1968 war fast vorüber, da erschien seine Programmschrift Perspektiven des revolutionären Humanismus im renommierten Hamburger Rowohlt Verlag. Doch die in ihrem Zenit stehende außerparlamentarische Opposition konnte mit seinem politisch-theoretischen Pamphlet offensichtlich nur wenig anfangen, denn niemand sollte sich fortan auf dasselbe beziehen oder sich nennenswert mit ihm auseinandersetzen. Rezeptionsspuren sucht man vergeblich, sieht man von einer Handvoll von eher distanziert-kritischen Rezensionen im zeitgenössischen bürgerlichen Feuilleton ab. Man mag dies der damaligen Flut gesellschaftskritischer Literatur anlasten, in der so vieles kaum beachtet bis auf weiteres verloren ging, oder jenem gelegentlich allzu verschachtelten Schreibstil Koflers, der sich von seinem mitreißenden Redestil unterschied. Man kann dies auch jenem Zug ins Altmodische anlasten, der Koflers Auftreten kennzeichnete und zu dem er sich immer wieder gern, in provokatorischer Absicht, bekannte. Doch mehr noch war dies das Produkt einer tief greifenden und weitreichenden Entfremdung zwischen den politischen Generationen. (…)
    Mit seinen methodologischen Grundsatzwerken Die Wissenschaft von der Gesellschaft (1944) und Geschichte und Dialektik (1955) hatte Kofler schon in den 1940er Jahren eine Praxisphilosophie begründet, die für eine Erneuerung des marxistischen Denkens im Sinne des »westlichen Marxismus« plädierte – jenseits des vulgärmaterialistischen Marxismusverständnisses eines Karl Kautsky oder Josef Stalin. In seiner 1948 veröffentlichten Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft hatte er den historischen Wurzeln und Wegen von radikaler Demokratie und sozialistischen Freiheitsvorstellungen nachgespürt und, zu Beginn der 1950er Jahre, die im deutschsprachigen Raum erste systematische Ideologiekritik der stalinistischen Theorie und Praxis vorgelegt. Der »Marxismus-Leninismus«, so Kofler, neige aus strukturellen Gründen zu einem vulgärmaterialistischen und undialektischen – ja, geradezu antidialektischen – Marxismusverständnis, das zutiefst antihumanistisch sei, weil es die konkreten, zu emanzipierenden Menschen zu bloßen Anhängseln einer neuen, bürokratischen Herrschaftsschicht degradiere. (…) Auch wenn die innovative Kraft der späteren 68er-Generation immer wieder beeindruckend ist, nicht selten wurde damals das Rad aufs Neue erfunden. Und was Wolfgang Abendroth seinen jungen Zuhörern während der Revolte diplomatisch beizubringen versuchte, drückte Leo Kofler um einiges unverblümter und schwerer zu verdauen aus. Auch ihm, dem Zaungast der Bewegung, ging es 1968 noch immer um ein welthistorisches »Neu Beginnen«. Und er hatte ein feines Gespür für das, was sich seit Mitte der 1960er Jahre entfalten sollte. Als er zu Beginn des Jahres 1966 die letzten Korrekturen und Aktualisierungen an der Neuauflage seiner monumentalen Schrift Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft anbrachte, formulierte er in sie hinein: »Eine Opposition, die auf eine Demokratisierung drängt, zeichnet sich im Volke und in der Intelligenz ab. Die Schicksalsfrage Deutschlands ist die, ob sie sich durchsetzen wird.« 
    Vergleichbar einem Herbert Marcuse war auch Leo Kofler mit Herz und Verstand ganz auf Seiten der jungen Generation. Anders als Marcuse jedoch war er zu sehr alter Linkssozialist, um sich zum schlichten Apologeten des antiautoritären Aufbruchs zu machen. In ätzend scharfem Ton, aber nicht selten treffsicherer Kritik nutzte er jede sich ihm bietende Möglichkeit zur innerlinken Auseinandersetzung, zum Kampf zweier Linien innerhalb dessen, was er seit einem Jahrzehnt die »progressive« oder »humanistische« Elite nannte. (…)
    Eine wirkliche Erneuerung der sozialistischen Linken, eine »Gesundung des revolutionären Humanismus«, so Kofler, könne aber nur gelingen, wenn sich diese progressive Elite auf ihre humanistische Sensibilität besinne und sich zum Vermittler der alten und neuen Milieus mache. Und dies gelinge nur, wenn sich die ohnmächtige universitäre Linke (die »Welt hoch entwickelter Abstraktion«) mit der machtvollen Gewerkschaftsbewegung (mit jener »Welt des vulgären Praktizismus«, die sich »gegen den ›Stachel‹ des Klassenkampfes« stelle) auf neuer Grundlage wieder vereine. Doch »(d)ie beiden, ihrem Ursprung nach kritischen und oppositionellen Welten berühren einander kaum, sie gehen ihre eigenen Wege«, schreibt er 1968: »Die Konsequenz ist sturer Praktizismus hier und selbstgefälliger Intellektualismus dort, beide sich einander misstrauisch gleichsam durch Glaswände betrachtend, jedoch nicht beeinflussend.« (…)
    Als einer der ersten Marxisten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er die Widersprüche und Fallstricke des vermeintlichen Wohlstandskapitalismus bereits in den 1950ern tiefgehend analysiert. (…) Das sozialistische Emanzipationsprojekt sei umfassend zu verstehen. Und oppositionelle Forderungen nach Freiheit, Fortschritt, Demokratie und Selbstverwirklichung, nach einer klassenlosen, gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft und sich selbstverwirklichenden Individualitäten sind ohne die auch konzeptionelle Hinwendung zum Menschen, also ohne eine anthropologische Erkenntnistheorie in marxistischer Perspektive, nicht ausreichend zu begründen. (…)
    Kofler gibt uns einen Maßstab an die Hand für das, was die Selbstverwirklichung des Menschen tatsächlich sein kann und damit auch für das, was eben keine Emanzipation ist. Welche praktische Bedeutung eine solche Diskussion um anthropologische Menschenbilder hat, wird vielleicht erste heute, nach den Erfahrungen mit dem auf einen strukturellen Sozialdarwinismus setzenden Neoliberalismus und im Angesicht des immer offensichtlicher zerrütteten ökologischen Verhältnisses von Mensch und Natur wie der zeitgenössischen Herausforderungen der in die menschliche Natur eingreifenden Bio- und Neurowissenschaften wirklich deutlich.“ Artikel von Christoph Jünke am 21. Dezember 2021 in Jacobin.de externer Link

    • Eine persönliche Anmerkung von Mag Wompel sei erlaubt: Ich hatte mit einem auch sinnlichen Vergnügen seine Vorlesungen besucht (und auch bei seinen Tanzkursen im Studentenheim mit ihm tanzen dürfen) und bin nachhaltig beeinflußt worden, v.a. in meinen Versuchen, die Managementstrategien mit Hilfe deren Menschenbildes zu analysieren…

Siehe zu Leo Kofler im LabourNet auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=222770
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