75 Jahre Tarifvertragsgesetz: Happy Birthday oder Jubiläum eines Auslaufmodells?
„Es war und ist ein Meilenstein für die deutsche Demokratie: das Tarifvertragsgesetz. Vor 75 Jahren, am 9. April 1949, wurde es beschlossen – und ist damit älter als das Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland. Das Tarifvertragsgesetz (TVG) regelt grundsätzlich, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber Tarifverträge eigenständig aushandeln. Freie Tarifverhandlungen waren im Nationalsozialismus verboten. Deswegen war es den Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg so wichtig, die Demokratie in den Betrieben zu verankern und die Tarifautonomie zum Grundstein der deutschen Arbeitswelt zu machen. Dieser Auftrag ist auch heute aktuell. Immer mehr Arbeitgeber halten sich nicht mehr an dieses Grundprinzip und weigern sich, Tarifverträge mit den Gewerkschaften auszuhandeln. So verhindern sie, dass ihre Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung erhalten. Nur noch etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Unternehmen mit Tarifvertrag. Wir setzen uns deshalb für eine Tarifwende ein – damit wieder mehr Arbeitnehmer*innen vom Schutz profitieren, den Tarifverträge bieten…“ DGB-Laudatio vom 08.04.2024 („Happy Birthday: 75 Jahre Tarifvertragsgesetz“) – siehe weitere und kritischere Beiträge dazu:
- Podcast „Geschichte wird gemacht“: Gamechanger Tarifvertragsgesetz – Eine Säule der Demokratie
„Dein:e Arbeitgeber:in muss dir als Arbeitnehmer:in auf Augenhöhe begegnen. Und du hast über verschiedene Gremien und Mittel die Möglichkeit mitzubestimmen, wie gute Arbeit für dich aussehen soll – sei es die Auszubildenden- und Jugendvertretung, der Betriebsrat, deine Gewerkschaft oder die Option, zu streiken. Warum das so ist, erzählen wir in dieser Folge. Geregelte Arbeitszeiten, freier Samstag, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsanspruch – all das ist nicht selbstverständlich und wurde über die Jahrzehnte von Gewerkschaften erkämpft. Ein wesentlicher Grundstein für diese Kämpfe ist das Tarifvertragsgesetz von 1949. Diese Folge zeigt, dass wir uns dank Tarifvertragsgesetz und Tarifautonomie am Arbeitsplatz auf geltende Regeln und Pflichten berufen können und keine unternehmerische Willkür herrscht. Und wir erkennen, dass ohne das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 nicht nur unser Arbeitsalltag heute ganz anders aussehen würde, sondern auch unsere demokratische Teilhabe massiv profitiert…“ Podcast und weitere Infos bei der HBS - Siehe auch: „75 Jahre Tarifvertragsgesetz – Stationen der Tarifpolitik von 1949 bis 2024“ beim WSI
- Tarifvertragsgesetz: Jubiläum mit Schattenseiten. Nach 75 Jahren stößt das Tarifvertragsgesetz immer mehr an seine Grenzen
„Die Arbeitskämpfe des vergangenen Jahres zeigen: Der Streit um Tarifverträge bildet nach wie vor einen zentralen Pfeiler der Gewerkschaftspolitik in Deutschland. So wurden laut Bundesarbeitsministerium im Jahr 2023 mehr als 7200 Tarifverträge abgeschlossen. Insgesamt regelten über 87 000 solcher Verträge die Arbeitsbedingungen von etwa 15,5 Millionen Beschäftigten. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 waren das nur etwa 70 000 und nur knapp 5000 wurden neu abgeschlossen. Eine positive Entwicklung, die am diesjährigen runden Jubiläum des Tarifvertragsgesetzes (TVG) zur Feierstimmung beitragen dürfte. (…) »Doch feiern allein reicht nicht«, mahnt die Linke-Abgeordnete Susanne Ferschl gegenüber »nd«. »Durch die Deregulierungen am Arbeitsmarkt befindet sich die Tarifbindung im freien Fall«, betont sie. Laut Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung arbeiteten 2022 nur etwas mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in tarifgebundenen Jobs, 1996 waren das fast zwei Drittel. Und bloß 25 Prozent der Betriebe hätten inzwischen noch geltende Tarifverträge, Tendenz fallend. (…) Aus gewerkschaftlicher Sicht stößt das Tarifvertragsgesetz derzeit vor allem mit Blick auf die rasante Transformation der Wirtschaft an seine Grenzen. Denn vor dem Hintergrund der Digitalisierung in den Betrieben wächst die Angst vor einer weiteren Individualisierung der Arbeitsverhältnisse – trotz offensiv geführter Tarifpolitik im vergangenen Jahr. Daneben werde es schwerer, mit den Beschäftigten in direkten Kontakt zu treten, etwa wenn sie im Homeoffice arbeiten, betont der DGB. Hinzu kommt, dass durch die ökologische Transformation viele Wirtschaftszweige schrumpfen, die teils über Jahrzehnte gewachsene Mitbestimmungsstrukturen verfügten. Dagegen wachsen Unternehmen und Branchen, in denen Gewerkschaften bislang kaum vertreten sind, wie der US-Autobauer Tesla oder Lieferdienste wie Lieferando. Darum fordert unter anderem der DGB eine weitere Reform des Tarifvertragsgesetzes. Demnach sollen etwa Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) erleichtert werden. (…) Während ein solches Verbot und die Erleichterung von AVE derzeit wenig aussichtsreich ist, sieht das mit Blick auf das Tariftreuegesetz anders aus. Laut nd-Recherchen will die Regierung noch im Frühjahr einen ersten Entwurf vorlegen. Danach dürfen Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden, wenn sie geltende tarifliche Regelungen unterlaufen. Das soll die Tarifbindung stärken, erklärte DGB-Chefin Yasmin Fahimi. Der Handlungsbedarf ist gegeben. Denn mit der Mindestlohnrichtlinie der Europäischen Union haben sich die Mitgliedsstaaten bis Ende des Jahres zu einer Tarifbindung von 80 Prozent verpflichtet. Wird die Quote nicht erreicht, muss in Absprache mit den Unternehmen und Gewerkschaften ein Aktionsplan vorgelegt, wie DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell betont. Allerdings wehren sich die Unternehmensverbände dagegen und kritisieren, dass das in die grundgesetzlich verbriefte Tarifautonomie eingreifen würde. Sie befürworten eine Aufweichung des Gesetzes und wollen individuell ausgehandelte Betriebsvereinbarungen gleichberechtigt neben die Tarifverträge treten lassen.“ Artikel von Felix Sassmannshausen vom 8. April 2024 in Neues Deutschland online - 75 Jahre Tarifvertragsgesetz – DGB: Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf
„… Wirtschaftlich stand Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Nichts. (…) Im Juni 1948 folgte in den Westzonen die Währungsreform, mit der die neue Deutsche Mark die alte inflationäre Reichsmark ablöste. Und im Mai 1949 wurde mit der Unterzeichnung des Grundgesetzes in Bonn die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Noch vorher war mit dem Tarifvertragsgesetz am 9. April 1949 die Basis einer korporatistischen Volkswirtschaft geschaffen worden. Beschlossen vom Wirtschaftsrat der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone, galt das Gesetz aufgrund von Artikel 123 des Grundgesetzes in der BRD fort. Erst 1953 wurde es auf das ehemalige Gebiet der französischen Besatzungszone ausgedehnt. »Seitdem vollzieht sich das Tarifgeschehen in der Bundesrepublik in dem durch dieses Gesetz gesteckten Rahmen«, hebt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung anlässlich des 75-jährigen Jubiläums die maßgebende Bedeutung des Gesetzes hervor. Indes hatten sich die Gewerkschaften seinerzeit mit ihrer Forderung nach einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsordnung nicht durchsetzen können. Einig waren sich Alliierte, Parteien, Unternehmer und eben die Gewerkschaften aber über die Wiederherstellung eines »freiheitlichen Tarifsystems«. Die britische Verwaltung setzte zudem die Möglichkeit eines Eingreifens des Staates in das Tarifgeschehen durch, etwa indem dieser einen Tarifvertrag für alle Unternehmen einer Branche allgemeinverbindlich erklären kann. Die Zustimmung der Gewerkschaften und des damaligen DGB-Vorsitzenden Hans Böckler basierte auch auf der Erwartung, dass in der ersten Wahl zum Bundestag die SPD gewinnen würde. Dann könne man die Frage um das künftige Wirtschaftssystem »zwischen zwei Ideologien« neu stellen, wie es Böckler formulierte. Es kam bekanntlich anders: Konrad Adenauer (CDU) gewann die Wahl, und Ludwig Erhard bestimmte bis 1963 als Minister den wirtschaftspolitischen Kurs. In seiner Substanz stellte das Tarifvertragsgesetz eine Melange aus britischem und US-Arbeitsrecht dar. (…) Entgegen der (linken) Idee einer zentralen Gewerkschaftsorganisation, die geschlossen dem Kapital entgegentritt, sollte es bald mit dem DGB einen Dachverband geben. Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf war mehrheitsfähig…“ Artikel von Hermannus Pfeiffer vom 8. April 2024 in Neues Deutschland online
Siehe zum Thema im LabourNet (von vielen):
- Dossier: Tarifbindung nimmt weiter ab
- Dossier: DGB-Eckpunkte für eine Bundesregelung zur Tariftreue: „Öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben“
- Dossier: Sommerloch für Zurückgebliebene: Wenn Arbeitgeber mal wieder mit Tarifflucht drohen…
- Dossier: Anlässlich 100 Jahre Sozialpartnerschaft: Mehr Tarifbindung durch weniger Tarifsubstanz und Steuervorteile?
- Dossier: “Stärkung der Tarifautonomie: Unternehmer fürchten Rückkehr des Tarifkartells” – wir fürchten uns auch vor Tarifvorbehalten