30 Jahre 1989: Die doppeldeutige Revolution
„Für die politischen Ereignisse, die im Herbst 1989 ihren Anfang nahmen und nach einem turbulenten Jahr am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt zur Bundesrepublik das Ende der DDR besiegelten, haben sich in der kollektiven Wahrnehmung zwei konkurrierende Bezeichnungen und ein weltweit anerkanntes Ereignis von symbolischer Wirkung festgesetzt. „Wende“ und „Friedliche Revolution“ sind die beiden Sammelbezeichnungen, und das symbolische Ereignis ist der „Fall der Mauer“ am 9. November 1989. Alle drei Begriffe haben in den drei Jahrzehnten seither neben ihrem faktischen Inhalt einen propagandistischen Beigeschmack bekommen. (…) Ähnlich doppeldeutig stehen die beiden berühmten, damals vor allem in Leipzig gerufenen Losungen „Wir sind das Volk“ und, Wochen danach: „Wir sind ein Volk“. (…) Diese Doppeldeutigkeit wohnte dem umstürzenden Aufbruch von Anfang an inne. Die widersprüchlichen Begriffspaare „Oben-Unten“, „Ost-West“ „Umwälzung-Kurskorrektur“, „liberal-illiberal“ waren in jenen Wochen alle gleichzeitig handlungswirksam vorhanden, aber eine Entscheidung wurde vertagt und bis heute nicht eingelöst. Im Gegenteil: Nachdem die Hängestellung eine Dekade lang beruhigt erschien, brechen nun, im dreißigsten Jahr danach, die Widersprüche als Feldzeichen politischer Gegensätze wieder auf. (…) Im Rückblick auf das Epochenjahr 1989 kann ich sagen, dass der Graben bereits damals deutlich merkbar vorhanden war. Nicht in den politisch aktiven bürgerbewegten Gruppen, die fast ausschließlich links oder liberal oder beides waren. Auch nicht unter denen, die später zur Gruppe der Nichtwähler wurden, wo eher die autoritäre Tendenz verdeckt vorhanden war. Doch in den großen Demonstrationen waren beide Tendenzen da, und sie haben ja auch den Umschlag seit dem späteren Oktober bis zum Jahresende von „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ katalysiert. (…) Schon damals war jedoch weit weniger klar, was „die unten“ im ganzen Ostblock wie in der DDR stattdessen wollten. Heute hingegen, mit der zunehmenden Zerrissenheit der Bevölkerungen dieser Länder zeigt sich die ganze Doppeldeutigkeit der damaligen Ereignisse. Einen echten Epochenwechsel in Richtung auf eine stabile demokratische Verfassung in allen im Zuge der Umwälzung im Ostblock entstandenen 15 neuen und wiedererstandenen fünf älteren Nationalstaaten mag man die Ereignisse um das Jahr 1989 heute, 30 Jahre später, nicht mehr nennen…“ Beitrag von Jens Reich aus »Blätter« 11/2019