Thesen für den feministischen Streik: Wie entfaltet sich das Potenzial des feministischen Streiks?

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Streiks und Massenbewegungen, die Verbesserungen für unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse erkämpft haben, sind Teil unserer Geschichte. Dennoch scheint es heute im globalen Norden schwer vorstellbar, fast unmöglich, noch einmal derartige soziale Bewegungen vereint auf der Straße zu sehen. Dafür hat der neoliberale Kapitalismus mit seinem Individualismus und der daraus folgenden Vereinzelung gesorgt. Doch um sein Überleben zu sichern, untergräbt dieser patriarchale Kapitalismus die Wurzeln seiner – und unserer – Reproduktion (…) Doch der Blick auf unsere Geschichte und auch auf die gegenwärtigen feministischen Kämpfe im globalen Süden zeigt uns, dass wir stark sind, wenn wir die Vereinzelung überwinden können! Weil die Krise unserer Zeit eine Krise der Reproduktion ist, muss unsere Antwort eine feministische sein. Aus Polen, Spanien und Argentinien können wir Hoffnung schöpfen und lernen, was zu tun ist. Unsere Thesen sind ein Versuch zu zeigen, warum der feministische Streik die Kampfansage ist, die wir jetzt vor uns hertragen müssen – und wie wir damit anfangen…“ Artikel der AG Feministischer Streik Kassel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 9/2023:

Thesen für den feministischen Streik

Wie entfaltet sich das Potenzial des feministischen Streiks?

Die folgenden Thesen stammen aus einem längeren Prozess der Auseinandersetzung mit den Potenzialen und Möglichkeiten des politischen feministischen Streiks sowie den Fall­stricken und tatsächlichen Versuchen seiner Umsetzung in der Vergangenheit. Durch das Diskutieren und Debattieren haben wir einiges gelernt – insbesondere auch über uns und unsere Ziele. Wir hoffen, dass die daraus entstandenen Thesen auch anderen Grup­pen und Menschen eine Diskussionsgrundlage bieten können. Zugleich sind wir uns be­wusst, dass jedes Pamphlet, sei es noch so durchdacht, Lücken, fehlgeleitetes Denken und hoffentlich auch einige Kontroversen aufweist. Wir freuen uns daher, mit allen zu diskutieren, die andere Sichtweisen, neue Durchblicke, steile Gegenthesen oder Kritik mitbringen, welche uns gemeinsam weiter nach vorne bringen. Immerhin ist es eine ge­meinsame feministische Zukunft, die wir anstreben!

Streiks und Massenbewegungen, die Verbesserungen für unsere Lebens- und Arbeitsverhält­nisse erkämpft haben, sind Teil unserer Geschichte. Dennoch scheint es heute im globalen Norden schwer vorstellbar, fast unmöglich, noch einmal derartige soziale Bewegungen ver­eint auf der Straße zu sehen. Dafür hat der neoliberale Kapitalismus mit seinem Individualis­mus und der daraus folgenden Vereinzelung gesorgt. Doch um sein Überleben zu sichern, un­tergräbt dieser patriarchale Kapitalismus die Wurzeln seiner – und unserer – Reproduktion: Unser Planet steht kurz vor dem Klima-Kollaps, Depression und Burnout sind an der Tages­ordnung, gesellschaftliche Infrastruktur – wie Krankenhäuser – wird privatisiert und dem Pro­fitstreben unterworfen. Erziehung, Pflege und Sorge müssen entweder bezahlt unter Zeit- und Leistungsdruck und prekärsten Bedingungen oder unbezahlt in der raren Freizeit erledigt wer­den – und zwar vor allem von FLINTA*, die, gerade in der (schlecht) bezahlten Sorgearbeit, zudem häufig eine Migrationsgeschichte haben oder sich in besonders vulnerablen Lebenssi­tuationen befinden. Oft scheint es, als hätten wir nicht viele Möglichkeiten, uns gegen das, was uns angetan wird, zu wehren. Doch der Blick auf unsere Geschichte und auch auf die ge­genwärtigen feministischen Kämpfe im globalen Süden zeigt uns, dass wir stark sind, wenn wir die Vereinzelung überwinden können! Weil die Krise unserer Zeit eine Krise der Repro­duktion ist, muss unsere Antwort eine feministische sein. Aus Polen, Spanien und Argentinien können wir Hoffnung schöpfen und lernen, was zu tun ist. Unsere Thesen sind ein Versuch zu zeigen, warum der feministische Streik die Kampfansage ist, die wir jetzt vor uns hertragen müssen – und wie wir damit anfangen.

These 1: Als feministische Streikbewegung in Deutschland stecken wir in einer Phase mittelmäßiger Orientierungslosigkeit. Das Hangeln von einer Aktion zur nächsten führt dazu, dass unsere Ressourcen leerlaufen, ohne dass wir tatsächlich einen Plan haben, wohin wir wollen und wie wir unsere Ziele erreichen können.

Und so stellt sich immer wieder nach dem 8. März die gleiche Frage: Was nun eigentlich? Wir erholen uns von den Strapazen der Demovorbereitung, machen das Jahr über noch die ein oder andere Aktion, um dann im November erneut mit der Demovorbereitung für den 8. März einzusteigen. Und das jedes Jahr aufs Neue. Wir sind dabei wenig zielgerichtet, machen mal dies und mal das. Unser Motto ist mehr »Hauptsache, wir machen irgendwas«, als dass wir an eine ernsthafte Veränderung glauben und eine konkrete Vorstellung davon haben, was wir wollen. So kann zwar die feministische Bewegung wachsen, doch wohin wir uns eigentlich bewegen, bleibt unklar.

These 2: In den letzten Jahren mangelte es der feministischen Bewegung an einer anti­kapitalistischen Ausrichtung. Im bestehenden System lässt sich aber keine Befreiung von FLINTA* bewerkstelligen. Wir müssen uns daher gemeinsam für eine queerfemi­nistische Klassenpolitik zur Befreiung aller Geschlechter jenseits des Kapitalismus ent­schließen!

Feminismus ist geradezu in Mode gekommen: H&M verkauft T-Shirts, auf denen »The Revo­lution is female« steht, und im Pride Month werden vor den Läden Regenbogenfahnen ge­hisst. Das macht uns wütend, weil es zeigt, wie feministische Anliegen in das kapitalistische System integriert werden. Dagegen braucht es einen hundertprozentig antikapitalistischen Fe­minismus, denn ein liberaler Feminismus wird die Gewaltverhältnisse niemals hinter sich las­sen: Wir müssen uns also entscheiden, liberale Feminist:innen rechts liegen zu lassen, wenn sie sich nicht davon überzeugen lassen, für eine vollständige Überwindung der Verhältnisse zu kämpfen. Das mag wehtun, aber nicht so sehr wie das ewige Ausharren in den gewaltvol­len Zwängen der Gegenwart. Die zwanghafte Herstellung und Aufrechterhaltung von Ge­schlechterbinarität, das globale Nord/Süd-Gefälle sowie die Ausbeutung von Care- und Sor­gearbeit bilden erst das Fundament der kapitalistischen Produktionsweise. Patriarchat- und Kapitalismus sind strukturell miteinander verbunden und können daher auch nur gemeinsam überwunden werden. Deshalb: Für eine progressive queerfeministische Klassenpolitik!

These 3: Die Streikbewegung der letzten Jahre hat intern an einem Umgang mitein­ander gelitten, der uns oft zurückgeworfen hat. Natürlich braucht es Organisierung und Entschlossenheit, aber auch Wohlwollen und Vertrauen. Wenn wir nicht aktiv an einem guten Umgang miteinander arbeiten, wird jede Meinungsverschiedenheit zur Spreng­stofffalle und schnell zur nächsten Spaltung.

Streik ist Beziehungsarbeit! Wir alle leben in einer Welt voller Widersprüche und sind dabei mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Positionierungen konfrontiert, die unsere An­sprüche und Vorstellungen von politischer Arbeit prägen. Die feministische Bewegung ist kein märchenhafter Ort jenseits der Normalgesellschaft, an dem wir internalisierte Rassismen, Antisemitismus, queerfeindliche Verhaltensweisen und anderen Scheiß plötzlich auf magische Weise überwinden würden. Anstatt uns aber deshalb zu zerlegen, sollten wir einen kritisch-solidarischen Umgang einüben, der weder vom Anspruch abrückt, es besser zu machen, noch von der dringend notwendigen Fehlerfreundlichkeit gegenüber uns selbst und anderen.

These 4: Trotz aller Schwierigkeiten müssen wir am Streik als Mittel unserer Wahl fest­halten! Durch ihn können wir gesellschaftlichen sowie ökonomischen Druck erzeugen und so die verschiedenen Ebenen, auf denen sich etwas verändern muss, gemeinsam adressieren!

Auch wenn es uns in der BRD bislang nicht gelungen ist, eine Streikbewegung aufzubauen, die ihres Namens würdig ist, dürfen wir den feministischen Streik nicht aufgeben! Er ist ge­nau das Mittel, das wir brauchen, um eine langfristige und antikapitalistische feministische Bewegung aufzubauen, die groß werden kann. Wenn wir Arbeitsverhältnisse in den Mittel­punkt unserer Bewegung stellen, greifen wir die kapitalistische Dimension patriarchaler Unterdrückung an. Ein feministischer Streik verbindet sowohl ökonomische als auch politi­sche Anliegen. Wie bei einem klassischen gewerkschaftlichen Streik legen wir beim feminis­tischen Streik unsere Arbeit nieder – aber erzeugen dabei nicht nur ökonomischen, sondern eben auch gesellschaftlichen Druck. Wir kämpfen dann nicht nur für eine konkrete Verbesse­rung unserer Arbeitsverhältnisse, sondern auch für eine tiefgreifende Veränderung unserer Le­bensumstände: gegen Gewalt an FLINTA*, binäre Geschlechterrollen und neoliberale Spar­politik. Dafür, dass reproduktive Arbeiten einen wichtigeren Stellenwert in der Gesellschaft erhalten und für alle durch alle gesorgt wird.

These 5: Der feministische Streik kann mehr sein als nur unser Mittel zum Zweck, näm­lich bereits ein Prozess, in dem wir Utopien erproben. Das passiert aber nicht von allein, sondern muss ein ausgesprochenes Ziel unserer Arbeit sein.

Streik heißt Verweigerung! Im feministischen Streik verweigern wir uns dabei aber nicht nur der Ausführung unserer abgewerteten und missachteten Arbeit, sondern auch anderer gesell­schaftlicher Zwänge – und das erfordert von uns das Erproben von Utopien. Wenn wir die In­dividualisierung von Sorgearbeit bestreiken, erfordert das unweigerlich kollektivierte Formen der Zubereitung von Mahlzeiten, der Pflege und Kinderbetreuung. Wir müssen neue Arten von Beziehungsarbeit erlernen, auch über gesellschaftliche Spaltungslinien hinweg – und das schon im Hier und Jetzt. Doch wir dürfen nicht dem Trugschluss verfallen, das alles passiere allein durch das Niederlegen von Arbeit. Stattdessen müssen wir das Üben dieser Utopien als Teil unserer Praxis begreifen, anstatt die neuen Formen des Umgangs miteinander in eine fer­ne, bessere Zukunft zu verlagern. Nur wenn wir alle gesellschaftlichen und kollektiven Di­mensionen bei diesem Kampf mitbedenken, kann der feministische Streik als Mittel seine vie­len Facetten entfalten und uns zum Erfolg führen!

These 6: Politische Subjekte bilden sich nur im Prozess heraus. Der Aufbau einer großen feministischen Streikbewegung kann ein solcher Prozess sein und uns somit langfristig Handlungsfähigkeit verleihen. Dabei liegt der größte Erfolg darin, erfahrbar zu machen, dass wir die Dinge in die Hand nehmen und die Welt verändern können.

Niemand ist als Revolutionär:in auf die Welt gekommen – und selbst diejenigen, die zu dieser Selbstbezeichnung gelangt sind, würden sich in einer Gesellschaft, die wir uns für die Zukunft erträumen, wohl nur schwer zurechtfinden. Zu sehr sind wir alle geformt und geschult durch die Gesellschaft der Kleinstunternehmer:innen und Egozentriker:innen, durch Profit- und Konkurrenzlogiken. Es braucht einen langsamen, aber steten Umbau der Persönlichkeit, wenn wir in Zukunft bedürfnis- statt leistungsorientiert leben wollen. Wir wollen die Dinge poli­tisch betrachten, anstatt uns wie heute in der Passivität der Repräsentativdemokratie einzu­richten. Was es hierfür braucht: Viele verschiedene Prozesse innerhalb der feministischen Streikbewegung, in denen wir uns als politische Subjekte ausprobieren können: als wütende Masse, als umsorgende Genoss:innen und als kritische Köpfe. Nur dadurch, dass wir einen gemeinsamen Weg beschreiten, können wir mehr werden, die Erfahrung von Selbstwirksam­keit machen und die Angst vor dieser ungewissen Zukunft loswerden, die eine echte selbstge­staltete politische Gesellschaft bereithalten könnte! Dafür braucht es nicht immer den fertigen Fahrplan, viel ist schon gewonnen durchs Loslegen, Machen, dabei vielleicht auch mal auf die Fresse fliegen – und durch die langfristige Perspektive, dass der Weg im Gehen deutlicher werden wird!

These 7: Ohne ein konkretes Ziel können wir keine Strategie entwickeln und niemand wird sich unserem Weg anschließen. Daher müssen wir ausformulieren, was unsere Vision ist: Wir wollen eine bedürfnisorientierte Gesellschaft errichten, in der Reproduktionsarbeit vergesellschaftet ist.

Wer heute Reproduktionsarbeit leistet, der weiß um das aufreibende Gefühl, ständig etwas hinterherzulaufen und selten genug Zeit und Kraft zu haben, um mehr als das Nötigste zu er­ledigen. Und wie soll es auch anders sein in einem System, das Fürsorge ausschließlich als Mittel begreift, unsere Leistungsfähigkeit für den Arbeitsmarkt zu sichern. Wie schön könnte es hingegen sein, wenn das körperliche und emotionale Wohlbefinden von uns und unseren Mitmenschen kein Extra ist. Wenn wir uns zuallererst um uns selbst und umeinander küm­mern, anstatt in ständiger Konkurrenz zueinander Profite für die Firma zu erwirtschaften. Wenn Kranke das Bett nicht räumen müssen, um einer Fallpauschale gerecht zu werden, Menschen ihre Wohnung nicht verlieren können, weil das Viertel teurer geworden ist! Wenn wir in gemeinsamer Verantwortungsübernahme an der Eindämmung des Klimawandels arbei­ten, statt dem schwerfälligen Ringen der kapitalistischen Staaten um jedes Gramm CO2 bei­zuwohnen. So simpel und doch so anspruchsvoll sind unsere ersten Ideen einer anderen Ge­sellschaft. Dass das noch längst nicht das Ende aller Weisheit ist, versteht sich von selbst. Aber auch wenn wir den Horizont utopischer Möglichkeiten noch lange nicht vermessen ha­ben, so haben wir doch schon jetzt klar vor Augen: Nachdem wir das patriarchal-kapitalisti­sche Korsett durchschnitten haben, entsteht etwas neues Unbekanntes, das schöner und besser ist als die Tristesse der Gegenwart!

These 8: Neben einem langfristigen Ziel bedarf es auch mittelfristiger radikaler Zwi­schenziele, die die kapitalistische Logik infrage stellen. In ihnen muss unsere Vision ei­ner anderen Gesellschaft bereits sichtbar werden.

Jaja, im Moment ist überhaupt ein politischer Streik für manche schon das größte der Gefühle. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es uns um das geht, was danach folgt, und dass immer für etwas gestreikt wird! Dieses ›Wofür‹ kann weder immer nur eine sozialdemokratische Verbesserung sein noch direkt die große Utopie, die nur verschwommen am Horizont auf­scheint. Um voranzuschreiten brauchen wir radikale Zwischenschritte, welche die kapitalisti­sche Logik selbst angreifen und dadurch auch unserer Utopie schärfere Konturen verleihen. Bereits existierende Beispiele dafür sind die Enteignung und Vergesellschaftung von Woh­nungsbau- oder Energiekonzernen wie RWE oder Deutsche Wohnen, aber auch die Neukon­zipierung von Bildungseinrichtungen ohne Leistungslogik.

Der politische Streik ist für die Erreichung unserer Ziele und Zwischenziele in vielerlei Hinsicht ein geeignetes Mittel. Gleichzeitig ist der politische Streik selbst schon ein Moment von deren Verwirklichung. Mittel und Zweck sind hier nicht mehr klar voneinander zu tren­nen. In der Praxis des politischen Streiks scheint schon unsere Utopie auf.

These 9: In den kommenden Jahren wollen wir eine feministische Streikbewegung ent­lang von Lohnarbeitskämpfen und ergänzend im unentlohnten Sorgebereich aufbauen. Die derzeitigen Arbeitskämpfe in sozialen Berufen sind ein zentraler Ort, um feministi­sche Ideen gesellschaftlich breiter zu verankern.

Für einen feministischen Streik gibt es tausend gute Gründe. Wir können aber nicht gegen al­les gleichzeitig ankämpfen. Also wo anfangen? In einem Land wie Deutschland, das bis zum Abwinken mit materiellem Überfluss ausgestattet ist, stellt die immense Ausbeutung bezahlter und unbezahlter Sorgearbeit einen Skandal dar. In Anbetracht dessen, wer unter welchen Bedingungen im Sorgebereich arbeitet, treten die rassistischen und vergeschlechtlichten Strukturen unserer Gesellschaft besonders hervor und ihre Einhegung in globale Ausbeu­tungsverhältnisse wird deutlich. Unsere Wut über die bestehenden Verhältnisse hierauf zu konzentrieren, ist daher die logische Konsequenz. Der Angriff auf die kapitalistisch-patriar­chale Arbeitsteilung ist mehr als überfällig. Es gibt bereits gesellschaftliche Auseinanderset­zungen, die genau an dieser Stelle geführt werden, wie etwa die jüngsten Arbeitskämpfe in Krankenhäusern oder Sozial- und Erziehungsdiensten. Als feministische Streikbewegung be­steht unsere Aufgabe darin, uns dort einzumischen und diese zu unterstützen. Zwischen den Arbeiten im bezahlten und unbezahlten Sorgebereich muss dabei eine Brücke geschlagen wer­den. Auf Basis feministischer und emanzipatorischer Ideen für ein solidarisches Zusammenle­ben kann so eine neue Klassenperspektive und neues Klassenselbstbewusstsein entstehen.

These 10: Das kapitalistische Wirtschaftssystem basiert auf rassistischer Ausbeutung und Gewalt. Unser Kampf für eine befreite Gesellschaft kann darum nur ein antirassis­tischer und internationalistischer sein. Wir müssen unsere strukturellen Verstrickungen und Beziehungen sowohl innerhalb der BRD als auch mit Menschen im globalen Süden im Blick haben, um rassistischen Spaltungslinien des Kapitals aktiven Widerstand ent­gegenzustellen.

Wenn in der Geschichte des Kapitalismus weiße Arbeiter:innen Errungenschaften für sich er­kämpfen konnten, geschah dies oft auf dem Rücken von Schwarzen Menschen und People of Color. Wenn sich in Deutschland weiße Frauen aus dem Mittelstand weigern, die Hauptver­antwortung für unbezahlte Reproduktionsarbeit zu übernehmen, wird sie meist an die migran­tischen und migrantisierten Arbeiter:innen unter uns ausgelagert. Damit die imperialistische Verstrickung von Arbeitsverhältnissen in unserem Kampf keine Nebensächlichkeit ist, müs­sen wir uns als Teil einer internationalistischen Bewegung verstehen. An dieser Stelle sei an eine Aktion der Roten Zora erinnert: Aus Solidarität mit streikenden Arbeiter:innen des deut­schen Modekonzerns Adler in Südkorea attackierten sie mehrere der Filialen in Deutschland. Mit ihren Angriffen übten sie Druck auf die deutsche Unternehmensleitung aus, schufen Öf­fentlichkeit für die Arbeitsbedingungen der Näher:innen in Südkorea und trugen maßgeblich zu deren Verbesserung bei. Diese Aktion sehen wir als gelungenes Beispiel für feministischen Widerstand als Teil eines gemeinsamen Kampfes. Zugleich darf unser Feminismus keiner verkürzten Kapitalismuskritik verfallen, die statt gesellschaftlicher Strukturen bloß einzelne Unternehmen oder Bevölkerungsgruppen für schuldig an der kapitalistischen Misere erklärt.

These 11: Wir müssen feministische Kämpfe führen, die konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt bereithalten. Dafür sind Verbindungen zu anderen politischen Kämpfen notwendig.

Die wenigsten Menschen politisieren und organisieren sich aufgrund abstrakter Versprechun­gen für eine bessere Zukunft, von der unklar ist, wann sie eintreten wird. Politisch aktiv wer­den wir, wenn konkrete Verbesserungen erkennbar werden. Feminismus hat für uns in der Vergangenheit schon einiges getan: Vom Recht auf Abtreibung bis zum Aufbrechen sexisti­scher Rollenbilder war Feminismus schon immer an der konkreten Lebensrealität von FLIN­TA* dran, und muss das auch in Zukunft sein. Feminismus ist kein Selbstzweck. Wir wollen uns nicht aus Prinzip feministisch organisieren, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass Feminismus für ein besseres Leben ausschlaggebend ist. Viele FLINTA* führen andere Kämpfe; für mehr Lohn, bezahlbaren Wohnraum oder Aufenthaltstitel, von denen sie sich di­rektere Verbesserungen versprechen als vom Feminismus. Das gilt es anzuerkennen! Es geht uns nicht darum, Kämpfe gegeneinander auszuspielen und wiederum einer Haupt- und Ne­benwiderspruch-Argumentation zu verfallen. Ganz im Gegenteil: Es ist unsere Aufgabe zu zeigen, welche Rolle Feminismus in allen anderen emanzipatorischen Auseinandersetzungen spielt und wie Kämpfe miteinander verwoben sind. Lasst uns einen Feminismus prägen, der nicht für abstrakt-theoretische Verbesserungen steht, sondern praktisch, konkret und alltags­nah ist!

These 12: Wir haben eine Welt zu gewinnen! Dafür braucht es Entschlossenheit und Kampfgeist.

Wir wissen es bereits: Wir haben eine Welt zu gewinnen. Und dennoch ist der Weg dahin vol­ler Hürden und das Ziel manchmal nicht in Sicht. Es lohnt daher ein Blick über den eigenen Tellerrand: International werden an unzähligen Orten feministische Kämpfe geführt, zum Teil mit überwältigendem Erfolg. Feminist:innen befreien Stadtteile von patriarchaler Polizeige­walt, gehen selbst in der Diktatur in Massen auf die Straße, bekämpfen Krieg und Naturaus­beutung und führen Revolutionen an. In Rojava und Chiapas können wir beobachten, wie Frauen und TIN* eine feministische Gesellschaft aufbauen. Ihrer aller widerständige Praxis ist ein Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten. Der Kampf gegen kapitalistische und patri­archale Machtverhältnisse ist kein Zuckerschlecken, doch die feministische Streikbewegung in Deutschland hat sich in einer mittelmäßigen Orientierungslosigkeit verheddert. Umso wich­tiger ist es darum, jetzt nicht den Mut zu verlieren. Was wir brauchen? Entschlossenheit und Selbstbewusstsein. Denn wenn wir unsere Arbeit niederlegen, stehen Krankenhäuser still, Fließbänder pausieren und Wohnungen verdrecken. In diesem Moment wird unsere ökonomi­sche und gesellschaftliche Macht sichtbar und wir können die bestehenden Herrschaftsver­hältnisse aus den Angeln heben. Darum lasst uns die Ärmel hochkrempeln und gegen Rassis­mus, Patriarchat und Kapitalismus den feministischen Streik beginnen!

Artikel von der AG Feministischer Streik Kassel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 9/2023

* Die AG Feministischer Streik Kassel ist Teil der bundesweiten feministischen Streikbewe­gung und engagiert sich in der feministischen Vernetzung rund um den 8. März und über die­sen hinaus. Dabei verankert sie den feministischen Streikgedanken vor Ort durch feministi­sche Interventionen in Lohnarbeitskämpfe im Care-Bereich. Die Thesen entstanden im April 2022 und sind Grundlage des Ende Oktober erscheinenden Buches »Feministisch streiken. Dort kämpfen, wo das Leben ist« (Unrast-Verlag, Münster 2023).

Siehe zum Thema auch im LabourNet Germany:      

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=215103
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