Teresa Bücker: „Die Leistungsethik schwappt in die Freizeit über“
Die feministische Autorin Teresa Bücker spricht im Interview von Jan Christoph Freybott vom 2.12.2022 in der Frankfurter Rundschau online über den ungleichen Zeitwohlstand, toxischen Optimierungsdrang und das Homeoffice als emanzipatorischen Albtraum: „… Mir geht es darum, langfristige politische Ansätze zu entwickeln. Deshalb ist der Zeitpunkt trotz Wirtschaftskrise genau richtig. Gerade angesichts des Fachkräftemangels ist es wichtig, dass Arbeit gesund organisiert wird, weil wir wahrscheinlich länger werden arbeiten müssen und es darauf ankommt, Ausfälle aufgrund von Überlastung zu begrenzen. Beim Blick auf die aktuelle Arbeitswelt zeigt sich, dass Arbeit oft krank macht und es viele Menschen gar nicht bis zum regulären Renteneintrittsalter schaffen. Viele sind dann gesundheitlich so verschlissen, dass sie in die Frühverrentung gehen. Deshalb ist es jetzt wichtig, Ansätze für ein gesünderes Arbeiten zu entwickeln…“ – siehe mehr daraus:
- Weiter aus dem Interview von Jan Christoph Freybott vom 2.12.2022 in der Frankfurter Rundschau online mit Teresa Bücker: „… Das würde den demografischen Anforderungen auch eher gerecht als die Forderung nach einer 42-Stunden-Woche. Im Gegenteil könnten sogar kürzere Arbeitszeiten Teil der Lösung sein (…) Die Gewerkschaften haben sich in den 80er Jahren zum Ziel gesetzt, die Arbeitszeit sukzessive auf dreißig Stunden zu drücken – ganz in der Tradition ihrer Arbeitskämpfe. Dann gab es in Deutschland eine Zeit, in der die Wachstumsraten beim Gewinn der Unternehmen nicht an die Beschäftigten weitergegeben wurden. Da hätte es Spielraum für eine zeitliche Entlastung gegeben – auf die Gewerkschaften und Belegschaften aber hätten pochen müssen. Warum das nicht passiert ist, ist eine gute Frage. Ich denke, dass vierzig Stunden in etwa das Maß sind, mit dem man das Leben etwa in Familien noch halbwegs organisiert bekommt. (…) Meiner Meinung nach würde es der Rolle der Gewerkschaften gut tun, wenn sie die Gesellschaft ein bisschen breiter in den Blick nehmen würden. Dazu zählt es, Sorgeverantwortung stärker mitzudenken. Denn sie hat großen Einfluss darauf, wie Erwerbsarbeit überhaupt organisiert werden kann. Auch Zeit für demokratisches und zivilgesellschaftliches Engagement muss mitgedacht werden. Und es gibt auch schon Gewerkschaften, die das tun. (…) Viele Beschäftigte erleben das Homeoffice und flexible Arbeit als positiv, als einen Gewinn von Autonomie. Man sieht aber, dass bestimmte Belastungsfaktoren, die die Gesundheit beeinflussen können, im Homeoffice ausgeprägter sind. Die Beschäftigten machen zum einen mehr Überstunden als Menschen mit festen Arbeitsorten. Sie verzichten eher auf Pausen, was die Arbeitsintensität steigert und die Arbeit belastender machen kann. Schließlich fällt ihnen das Abschalten nach Dienstschluss schwerer, was das Risiko für psychische Erkrankungen hochsetzt. (…) Mit der Verknüpfung von Wert und Produktivsein haben Menschen in unserer Gesellschaft keinen gleichwertigen Platz, die das aus verschiedensten Gründen nicht können, etwa weil sie chronisch krank sind oder eine Behinderung haben. Auch ältere Menschen sowie Kinder und Jugendliche schließt das aus. Eine Politik, die Gerechtigkeit und Menschenwürde im Fokus hat, müsste sich diesem Bild versperren. Allerdings haben wir gerade in der Debatte ums Bürgergeld genau das Gegenteil erlebt; da wurde ein schädliches Stereotyp von Erwerbslosigkeit, Faulheit und Nutzlosigkeit konstruiert. Und aus meiner Sicht gab es in der politischen Debatte zu wenig Gegenwehr dagegen. (…) Eine Krise, die in der politischen Debatte komplett ausgespart wird, ist die Care-Krise, die uns aus meiner Sicht in den kommenden Jahren und Jahrzehnten massiv treffen wird. (…) Wenn die Regierung keine Antworten auf die Care-Krise findet, sind wir in zehn Jahren in Sachen Gleichberechtigung eher wieder um zwanzig Jahre zurückgeworfen. Auf dieses Problem würde ich mir von der Familien-, aber auch von der Arbeits- und Wirtschaftspolitik Antworten wünschen. Denn Gleichberechtigung steht im Grundgesetz und ist keine Luxusfrage, die – nur weil wir in einer Wirtschaftskrise sind – über Bord geworfen werden kann.“
- Siehe u.a. auch: Kapitalkonformes Ich: Das neoliberale Akkumulationsregime des digitalen Kapitalismus hat einen neuen Subjekttypen erzeugt – das sorgt auch innerhalb der radikalen Linken für Probleme