Mehr Zeit für Alle! Gute Gründe, die Lohnarbeit zu reduzieren, gibt es viele. Doch nur wenige können sich das gegenwärtig auch leisten
Dossier
„… Treten wir aktuell angesichts des viel diskutierten Fachkräftemangels sogar in ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit ein, weil Unternehmen auf der verzweifelten Suche nach qualifiziertem Personal bereit sind, sich nicht nur, aber gerade auch in Sachen Arbeitszeit die Bedingungen von potenziellen Beschäftigten diktieren zu lassen? Leider spricht einiges gegen eine solche Perspektive. Dies ist umso schmerzlicher, als Arbeitszeitverkürzung durchaus einen wichtigen Schritt in eine menschlichere (Arbeits-)Welt darstellen könnte. Immerhin ist Lohnarbeit bzw. »abhängige Beschäftigung« keine angenehme Sache. (…) Arbeitszeitverkürzung als Selbstverteidigung: Selbst bei denjenigen, die tatsächlich »freiwillig« ihre Arbeitszeit reduzieren, ist allerdings oft schwer zu entscheiden, ob es sich um die Nutzung eines Privilegs in Befreiungsabsicht handelt oder doch eher um einen Akt der Selbstverteidigung (…) Ankerpunkt für eine solche Bewegung könnte die Forderung nach kurzer Vollzeit sein: etwa nach 25 Wochenstunden für alle, verbunden mit Lohn- und Personalausgleich…“ Artikel von Nicole Mayer-Ahuja vom 20.07.2023 im OXI-Blog – insgesamt lesenswert! Siehe zum Thema:
- [Gründe, sich vom neoliberalen Leistungsfetisch zu verabschieden, sind vielfältig] Zeit für die ruhige Kugel, Sisyphos
„Für viele ist das Glück untrennbar mit dem Eigentum verbunden, mit dem Anhäufen von Gütern. Auch führende Volksparteien machen Politik nach dem Motto: „Haste was, biste was“. In die Röhre gucken nicht nur alle, die wenig haben, sondern ebenso ein Planet, der an unserem Überkonsum zu Grunde geht. Dabei ist Wohlstand ohne Raffgier nicht nur möglich, sondern in Zeiten der sich verschärfenden Klimakrise alternativlos. (…) Labor omnia vincit – Arbeit besiegt alles. Das wusste schon der römische Dichter Vergil. Und so überrascht es kaum, dass die Maloche, angesichts ihrer kulturgeschichtlichen Wurzeln, weiterhin ein überaus gutes Image genießt. „Schaffe, schaffe Häusle baue“ ist vielleicht schwäbisch; die Grundüberzeugung dahinter ist aber urdeutsch. Dafür, dass dies so bleibt, sorgen selbsternannte Leistungsträger und Wirtschaftsexperten, respektive jene Menschen, die lautstark und meist ungefragt als Leistungsträger und Wirtschaftsexperten auftreten. (…) Doch wie geht es jenen, die den Laden wirklich am Laufen halten? Wie geht es der Galeerenbesatzung? Wie geht es Deutschland? Fernab der Kapitänsmonologe sieht die Lage düster aus. 61 Prozent der Deutschen Arbeitnehmer fürchten ein Burnout. (…) Keine Arbeit haben ist beschissen, zu viel oder falsch arbeiten müssen aber auch. Und sie wird prompt ergänzt von einem Leidensgenossen: „Am schlimmsten ist es, wenn man pleite bleibt trotz Vollzeitarbeit.“ Wie die über 800.000 Deutschen Aufstocker, deren Niedriglohn nicht für den Lebensunterhalt reicht und die deswegen ergänzend Bürgergeld beziehen. (…) Und hin und wieder trifft man auch eines jener seltenen Geschöpfe, die noch an die Aufstiegserzählung glauben, an Gerechtigkeit durchs Leistungsprinzip. An die Idee, dass jeder sein Häusle baue kann, möge er doch nur fleißig genug schaffe. Die Empirie spricht leider eine andere Sprache. Zur vollen Wahrheit gehört nämlich, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland wächst; laut Bundesbank werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer. Zur vollen Wahrheit gehört, dass große Vermögen in Deutschland vor allem verschenkt und vererbt werden. Wer außergewöhnlich reich ist, ist dies also meist nicht durch Fleiß und Eigenleistung, sondern durch Geburtslotto. Zur vollen Wahrheit gehört, dass noch viel zu oft die soziale Herkunft – und nicht die Leistungsbereitschaft – den späteren Bildungserfolg und somit das spätere Erwerbsleben bestimmt. Der Aufstiegsmythos durch harte Arbeit, der so oft im Zentrum der Sonntagsreden von Liberalen und Konservativen steht, bleibt angesichts systemischer Hürden und politisch tolerierter Schieflagen somit vor allem eines: ein Mythos. (…) In Deutschland heißt die Realität für Millionen leider nach wie vor: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. Und so ist es keine Ketzerei, zurückzufragen, für wen wir eigentlich in der Galeere rudern, und wohin die Reise eigentlich geht. Denn es ist längst kein Geheimnis mehr, dass das neoliberale Wachstumsprinzip – Höher! Schneller! Weiter! – weniger zu kollektivem Wohlstand führt und vielmehr zum wettbewerbsmäßigen Raubbau am Planeten und seinen Ressourcen. (…) Stattdessen brauchen wir zweierlei. Erstens braucht der Planet Erde ein anderes Wirtschaften. (…) Zweitens brauchen wir neue Arbeits- und Wohlstandsbegriffe, die sich aus dem neoliberalen Würgegriff lösen. (…) Die Gründe, sich vom neoliberalen Leistungsfetisch zu verabschieden, sind also vielfältig; persönlich wie gesellschaftlich. Das nächste Mal, wenn uns die Einpeitscher der Privatwirtschaft und die kapitalistischen Konsumkapitäne zum Rudern animieren, sollten wir ihnen antworten: Ruder doch selber! Leiste mal was! Ohne Fleiß kein Preis!“ Essay von und bei Jan Skudlarek vom 19. August 2024 - Tarifliches Wahlrecht: Warum die Mehrheit der Beschäftigten lieber mehr Zeit hätte als mehr Geld
„Einige Tarifverträge sehen mittlerweile für bestimmte Beschäftigtengruppen eine Wahlmöglichkeit zwischen „mehr Zeit“ oder „mehr Geld“ vor. (…) Angesichts nach wie vor bestehender Engpässe in der außerhäuslichen Kinderbetreuung und einer steigenden Zahl an Pflegebedürftigen ist eine flexible Anpassung des Arbeitslebens an die familiäre Situation für viele Beschäftigte von zentraler Bedeutung. Dies spiegelt sich nicht nur in einem hohen Anteil an Frauen, insbesondere Müttern, in Teilzeitbeschäftigung wider, sondern auch in arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre wie der 2019 erfolgten Einführung der Brückenteilzeit. Sie sieht unter bestimmten Voraussetzungen eine zeitlich befristete Teilzeitarbeit mit Rückkehrrecht zur vorherigen Arbeitszeit vor (…) Eine im Jahr 2019 im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di durchgeführte Arbeitszeitstudie zeigt zudem, dass sich viele Beschäftigte neben kollektiven Regelungen vor allem mehr individuelle Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Arbeitszeiten wünschen. Auch die Gewerkschaften haben sich hier in den letzten Jahren zunehmend engagiert. (…) Konkret können sich Beschäftigte in den beteiligten Betrieben jährlich zwischen der Zeitoption (je nach Tarifvertrag in Form von zusätzlichen Urlaubstagen oder einer verkürzten Wochenarbeitszeit) und der Geldoption (in Form von Sonderzahlungen oder einer monatlichen Entgelterhöhung) entscheiden. Allerdings haben oft nicht alle Beschäftigte in einem Betrieb dieses Wahlrecht. In vielen Tarifverträgen ist dies beispielsweise Tarifbeschäftigten, Schichtarbeitenden oder Eltern von kleinen Kindern vorbehalten. Näheren Aufschluss gibt eine Befragung von über 3.000 Beschäftigten und über 150 Betrieben, deren Ergebnisse allerdings nicht repräsentativ sind. (…) Fast 60 Prozent der Befragten mit Wahloption haben sich nach eigenen Angaben für eine zeitliche Entlastung entschieden, 6 Prozent haben eine Kombination aus Zeit und Geld gewählt und 34 Prozent optierten für eine Sonderzahlung oder monatliche Entgelterhöhung (…).Viele Beschäftigte wünschen sich also eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaubstage, um Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können, und verzichten dafür auf monetäre Zugewinne in Form von Sonderzahlungen oder monatlichen Entgelterhöhungen. Die klassische Idealvorstellung einer Vollzeittätigkeit scheint demnach bei vielen Beschäftigten dem Wunsch nach einer stärkeren Flexibilisierung des Arbeitsumfangs zu weichen. Auch unter Beschäftigtengruppen, die bislang nicht von der genannten Wahloption Gebrauch machen können, ist der Wunsch nach mehr Zeit sehr groß. Die Beschränkung der Wahlmöglichkeit auf bestimmte Gruppen könnte daher bei den nicht wahlberechtigten Beschäftigten zu einer gewissen Unzufriedenheit führen. Dies könnte zumal dann der Fall sein, wenn Aufgaben von Beschäftigten, die sich für weniger Arbeitszeit entschieden haben, auf andere Beschäftigte umverteilt werden müssen. Auch wenn die Daten darauf hindeuten, dass viele Beschäftigte ihre Entscheidung zugunsten von mehr Zeit durch eigene Vor- und Nacharbeit auffangen, ist es für die Betriebe unter Umständen eine Herausforderung, die infolge der Arbeitszeitverkürzung anfallende Mehrarbeit gerecht zu verteilen beziehungsweise allen Beschäftigten eine Wahloption einzuräumen. Angesichts des steigenden Fachkräftebedarfs könnte die Einführung oder Ausweitung der Wahloption für Betriebe ein Instrument sein, um Fachkräfte leichter zu rekrutieren und gut ausgebildete Beschäftigte stärker an sich zu binden. Das Wahlmodell kann somit Vorteile für Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen bieten. Ein gleichberechtigter Zugang zum Wahlmodell ist bislang jedoch nicht flächendeckend erreicht, von nicht tarifgebundenen Betrieben ganz abgesehen. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass Betriebe mit Wahloption die „verbleibende“ Arbeit in geeigneter Weise „umverteilen“ müssen, was manche Betriebe vor eine organisatorische Herausforderung stellen dürfte. Angesichts der bisherigen Umsetzung der Wahloption steht zu befürchten, dass sich bestehende Ungleichheiten zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen verfestigen oder sogar neu bilden könnten…“ Beitrag von Kevin Ruf, Ann-Christin Bächmann, Anja Abendroth-Sohl und Alexandra Mellies vm 22. Juli 2024 beim IAB-Forum- Anm.: Bei dieser Befragung sollte der Zwangscharakter der Regelung entweder mehr Geld oder mehr arbeitsfreie Zeit nicht übersehen werden. Einer wirklich freie Entscheidung ist so gar nicht oder nur sehr begrenzt möglich. Allerdings lässt sich aus dem Ergebnis der Umfrage auch eine Kritik an diesem Gewerkschaftskonstrukt herauslesen. Der hohe Anteil für freie Zeit statt Geld spricht auch dafür, dass die Gewerkschaften in Richtung Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust weitergehen könnten, ja, müssten, auch um der geplanten Verringerung der Freizeit durch Arbeitszeitverlängerung etwas entgegenzusetzen.
Siehe u.a. auch:
- von 2019: Individuelle Bedürfnisse, kollektive Aktionen, politische Alternativen – Beiträge zur neuen Arbeitszeitdebatte
- und: Tarifabschlüsse als Wahlmodelle sind Abschlüsse der Beliebigkeit
- DGB-Index 2017: Arbeitszeit ist Dreh- und Angelpunkt bei Vereinbarkeit von Privat- und Arbeitsleben
- von 2017 das Dossier: IG Metall: Für eine neue Arbeitszeitkultur – Kampagne “Mein Leben – meine Zeit”
- und unser Dossier: Was tariflich bisher nicht klappt, wird nun einzelbetrieblich versucht: Die 4-Tage-Woche