»Die ›Hartz‹-Reformen stellen einen epochalen Bruch dar«
Gespräch mit Michael Hirsch (Autor von „Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit.“ Wiesbaden 2015) über den Fetisch der Vollbeschäftigung, die Umwandlung des Sozialstaats und Geschlechtergerechtigkeit in der Arbeitswelt. Interview von Reinhard Jellen in junge Welt vom 06.02.2016
- Aus dem Interview: … Das entsprechende Gesetz lautet: Vollzeitbeschäftigung in Erwerbsarbeit zum einen; zum anderen die primäre Definition der sozialen Identität des Menschen durch seine Stellung im Erwerbsprozess. Er wird also mit seinem »Platz« in der sozialen Arbeitsteilung einer Erwerbsgesellschaft identifiziert, und soll sich selbst mit ihr identifizieren. Und er verliert diesen Platz, wenn er keine Arbeit hat. (…) Während in Wirklichkeit eine grandiose Befreiungsmöglichkeit der fortschreitenden Verringerung von Erwerbsarbeit und der mit ihr verbundenen sozialen Zwänge und Herrschaftsbeziehungen greifbar nahe ist, wird die Gesellschaft in eine groteske Ideologie der Beschäftigung hineingedrängt (…) Die Restauration der Arbeitsgesellschaft im Neoliberalismus ist eine klare politische Strategie der Entpolitisierung: mit einer neuen Arbeitspolitik, einer neuen Sozialpolitik, und generell einer neuen sozialdarwinistischen Strategie der Verschärfung sozialer Wettbewerbe. (…) Die Einführung staatlicher Lohnzuschüsse und staatlicher Arbeitsdienste stellt einen epochalen Bruch mit der Logik des bisherigen relativ emanzipatorischen Sozialstaats dar, und kann als teilweise Rückkehr zu frühindustriellen Formen eher polizeistaatlicher und repressiver Sozial- und Armenpolitik verstanden werden. (…) Im Rahmen der kruden neoliberalen Philosophie der »Schaffung von Arbeitsplätzen« werden irgendwann die Interessen der Unternehmen mit denen der Gesellschaft insgesamt identifiziert – was es plausibel macht, die Mitwirkungsmöglichkeiten der abhängig Beschäftigten immer mehr einzuschränken und ihre Interessen mit denen ihrer Brotherren insgesamt zu identifizieren. (…) Der Fetisch der Vollbeschäftigung hält weiterhin die Gesellschaft ideologisch zusammen – eben auch dann, wenn mit den einzelnen Arbeiten weder ausreichendes Einkommen erzielt, noch reale volkswirtschaftliche Wertschöpfung betrieben wird. Insofern ist das aktuelle Regime ganz wesentlich eines der Simulation von Arbeit und Wertschöpfung – eine kohärente Ideologie der Beschäftigung…“