Was ist eine Krise? Ein Rückblick auf die Wirtschafts- und Finanzkrisen 2008 und 2010
„Dass die ökonomische Zunft Krisen durch eine ideologische Brille interpretiert, zeigt ein Blick auf öffentliche und wissenschaftliche Diskussionen um die Finanz- und Wirtschaftskrisen 2008 und 2010. Die Grenzen zwischen Politik und Wissenschaft sind fließend. (…) Ab Herbst 2008 dominierte in der Medienberichterstattung eine Darstellung der damaligen Situation als »Krise«. An dieser Debatte nahmen auch viele ÖkonomInnen teil, von denen einige sich drei Jahre vorher im »Hamburger Appell« zu Wort gemeldet hatten. Damals präsentierten sie angebotsseitige Gründe für die vermeintliche Krise: »Hohe Arbeitskosten und hohe Steuerlasten« würden »unmittelbar die Investitionsbereitschaft« mindern und sofortige Reaktionen am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik erfordern: »Die Arbeitskosten [sind, Anm. d. A.] ein Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche.« (…) Die Debatte um die Staatsschulden ab Herbst 2009 kann als Fortsetzung des Krisendiskurses seit 2008 verstanden werden und basiert auf den spezifischen Deutungen der Finanzkrise 2008, die ihr weder eindeutige Ursachen zugeordnet noch ein dringliches Handeln von der Politik gefordert hatten. Damit konnte überraschend schnell eine deutliche Verschiebung im Krisendiskurs stattfinden. Die spärliche Debatte der Finanzkrise 2008 als systemischer Krise des Wirtschaftssystems wurde damit verdrängt – mehr noch: Die Debatte um die Finanzkrise überhaupt wurde in den Medien fast zur Gänze beendet. Anstelle der (ungenügend thematisierten) Finanzkrise 2008 wurden ab Herbst 2009 bzw. Frühling 2010 die »Staatsschulden« und die »Eurokrise« in den Vordergrund gerückt…“ Beitrag von Walter Otto Ötsch und Stephan Pühringer vom 2. Mai 2019 bei Blickpunkt WiSo
- Weiter im Text: “ (…) Zusammenfassend zeigt sich also schon sehr früh, dass es im Zuge der Finanzkrise zwar zu einem »keynesianischen Moment« (Krugman) gekommen sein mag, mit der diskursiven Krisenumdeutung von einer Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise aber die Räume für tatsächliche Neuorientierungen innerhalb der ökonomischen Disziplin als auch für wirtschafts- und finanzmarktpolitische Reformen zunehmend enger wurden. Der moralische Frame des »Über-die-Verhältnisse-Lebens« als Kern der Krise, der schließlich in die Schuldenbremse und später den Fiskalpakt auf EU-Ebene mündete, wurde dabei noch dadurch gestärkt, dass hier explizit an das (erschütterte) Vertrauen zwischen EU-Staaten appelliert wurde. (…) Die Grundintention der Schuldenbremse und der EU-Austeritätspolitiken ist und war es, den fiskalpolitischen Spielraum für Staaten einzuengen. Jetzt kann wieder – wie 2005 – ein Versagen der Politik konstatiert werden…“