Wird der Brexit erst der Anfang vom Ende Europas?
Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 12.7.2016
Europa weiter im Krisenmodus: Generalstreiks in Frankreich mit Blich auf die Wahlen 2017 – der Brexit in Großbritannien – dann nach der griechischen eine italienische Bankenkrise – und vor diesem Hintergrund eine Wiederholung der Präsidentenwahl in Österreich ( um vom Elend in Griechenland erst einmal zu schweigen) …
Jetzt steht auch Österreich mit seiner Präsidentenwahl in einem sehr unruhigen Krisenumfeld in Europa. Eigentlich meinte ich, dass dieser Brexit-Überblick mit dem Blick auf Großbritannien hier so weit gediehen ist, dass man zu einer Veröffentlichung schreiten könnte. Aber jetzt wird doch gleich weiter noch eine fulminante Bankenkrise in Italien hinten noch drangehängt – als Folge des Brexit mit seiner Verunsicherung der Finanzmärkte – die „einfache“ Ursache die Banken sind nicht stabil, weil die Politik es versäumt dies durch Regeln sicherzustellen.
Jedenfalls zeigt sich immer weiter und mit zunehmender Fortsetzung des Krisenmodus in Europa, dass die Unfähigkeit der politischen Eliten, diese Zusammenhänge zu begreifen, Europa von einem Krisenfall zum nächsten „jagt“, wenn auch zum Glück dieser politischen Eliten regional verteilt. Und unsere Eliten – wie jetzt wieder Angela Merkel mit ihrer Bemerkung, dass die ab 2016 zustandegekommenen, aber jetzt geltenden Bankenregeln rigide – für Italien – angewandt werden müssen (= obwohl das wieder nur ein Teil der Wahrheit für die eben „unvollkommene“ Regulierung der Banken ist), auch noch die italienische Bankenkrise ins „uferlose“, d.h. auch politisches Desater treiben wird… Aber das wird wohl die nächste Geschichte werden – als eine der Folgen des Brexit!
Wird der Brexit erst zum Anfang vom Ende eines gemeinsamen Europa?
Ein wenig klamaukhaft hatte der EU-Ratspräsident Donald Tusk am 13. Juni noch rausposaunt, dass der mögliche Brexit „nicht nur der Beginn der Zerstörung der EU ist, sondern auch der europäischen Zivilisation.“ Dies scheint im Moment noch etwas vollmundig die Bedeutung Englands für das übrige Europa überzeichnet. Dennoch: ein wenig hat mir der Brexit schon die „Stimme“ verschlagen – wie kann man als Engländer nur so blind und damit wirklich blöd sein (jemand sagte zu mir, wahrscheinlich haben die übrigen Länder in Europa über Deutschland vor dem ersten Weltkrieg ähnlich gedacht und gesprochen…)
Und irgendwie hat es wohl auch den Briten jetzt angesichts ihres „doppelten Brutus“, diesem Michael Gove, als „Retter“ nach dem Brexit immer mehr die Stimme verschlagen – wie Christian Zaschke in der „Süddeutschen“ vom Samstag (Seite 3) so ironisch distanziert berichtet. (http://www.sueddeutsche.de/politik/grossbritannien-hells-kitchen-1.3059755?reduced=true )
Die Rolle der Medien und ihren reichen „Drahtziehern“ wie Murdoch: Eine Gesellschaft, die von Lügnern geführt wird?
Er versäumt es dabei auch nicht auf die üble Rolle von Murdoch, diesem Pressezaren, und seinem unsäglichen Einfluss auf die Brexit-Entscheidung hinzuweisen: So erklärt der Geschichtsprofessor Caterell, den Begriff des Amerikaners Rick Perlstein von 2010 verwendend, wir sind auf dem Weg eine Gesellschaft zu werden, die von Lügnern geführt wird: „Auch in Großbritannien sind wir auf dem Weg von einer Demokratie zur Herrschaft der Lügner. Das ist eine beunruhigende Entwicklung.“ Normalerweise, so sagt er, komme in Demokratien den Medien eine Kontrrollfunktion zu. In diesem Referendums-Wahlkampf haben die meisten britischen Zeitungen nicht einmal so getan, als seien sie objektiv, sie betrieben offensive Meinungsmache. „Und die BBC hat sich darauf berufen, beide Seiten gleichermaßen abzubilden. So hat sie also berichtet, was gesagt wurde, anstatt zu fragen, ob das stimmt“, sagt noch einmal Caterell. (Vgl. zu dieser schrillen Diskussion ganz ohne die erforderliche Sachlichkeit noch einmal die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy etwa ab der Mitte bei der Seite 6 bei https://www.labournet.de/?p=100301)
Kennedy nennt aber auch noch genauer Ross und Reiter dieser schrillen Diskussion: „Wie noch nie in unserer Geschichte gehören die Medien den Reichen und sind deren Sprachrohr – denn: das alte Geld musste in letzter Zeit erleben, dass seine Dominanz bedroht ist.“
Der Brexit und die Bedeutung des Finanzplatzes London? Und die Krise von 2008 noch immer als „Menetekel“
Deshalb konnte nicht zu Unrecht schon die Frage aufgeworfen werden, was dieser Brexit jetzt mit der Finanzkrise von 2008 gemeinsam hat, wenn er sich ähnlich auswirkt – verunsicherte die Finanzmärkte, die der ausdrucksvollste Maßstab wohl sein müssen. (https://www.labournet.de/?p=100301)
Und immer wieder taucht diese Erinnerung beim Brexit an die letzte große Krise von 2008 auf. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/immobilien-nach-dem-brexit-erinnerung-an-die-letzte-grosse-krise-1.3066082?reduced=true )
Dabei muss auch noch festgestellt werden, dass „eigentlich“ die Sicht auf diesen Brexit am Finanzplatz London noch viel schlechter ist als 2008. Die Stimmung am Finanzplatz London ist seit diesem Referendum so miserabel, dass sich viele wehmütig an die Lehman Pleite erinnern. Damals war die Lage für die Fiananzmärkte übersichtlicher und so wußte man wenigstens, was zu tun war. (http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-dem-brexit-referendum-kapitalfehler-1.3063851?reduced=true )
Dass der Brexit gerade den Finanzsektor so hart trifft, ist eine mittlere Katastrophe für Großbritannien, denn Banken und Versicherungen zählen zu den wenigen Branchen, bei denen das Königreich weltweit an der Spitze mitspielt. Die Industrie dagegen erlebte im Mutterland der industriellen Revolution einen jahrzehntelangen Niedergang, was viel mit der Arbeit von Margaret Thatcher zu tun hat, die gerade mit ihrem „Big Bang“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Big_Bang_(financial_markets ) diesen Wandel von einer industriellen zu einer serviceorientierten Gesellschaft einleitete.
Zwar machen die traditionsreichen britischen Automarken wie Mini, Bentley, Rolls-Royce, Jaguar und Bentley inzwischen wieder glänzende Geschäfte. Doch sie gehören allesamt Ausländern. Deshalb macht zum Beispiel das Verhalten der Briten angesichts der Bedeutung des Londoner Bankensektors den deutschen Philosophen Jürgen Habermas fassungslos, wie sich hier die Identitätsfragen als Briten gegen diese klaren Interessenlagen als weltweit bedeutender Finanzplatz durchsetzen konnten. (http://www.zeit.de/2016/29/eu-krise-brexit-juergen-habermas-kerneuropa-kritik )
Nur die durch den Brexit gewachsene Unsicherheit schlug sich zunächst vor allem im italienischen Bankensystem nieder, wo 360 Milliarden faule Kredite „plötzlich“ das italienischen Bankensystem zum Wanken brachten. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzmaerkte-an-den-maerkten-herrscht-wieder-angst-1.3069500 )
… und der Einfluss des Medienzaren Murdoch – ein Zeichen für den Zustand der britischen Politik.
Um noch einmal zu dem Einfluss von Murdoch – diesem Medienzaren – in London schreibt Christian Zaschke: „Um die Rolle von Murdoch in dieser Saga – um Boris Johnson – ranken sich allerlei Spekulationen. So kursiert in Westminster das Gerücht, Murdoch habe in der Nacht zum Donnerstag interveniert, um eine Kandidatur Johnsons – als Ministerpräsident – zu verhindern, weil er den Eindruck gehabt habe, dieser wolle den Austritt so lange wie möglich hinauszögern. Er habe bei diesem Gespräch „die Instrumente gezeigt“,sprich: Er habe deutlich gemacht, dass er sich mit seinen Blättern gegen Johnson stellen würde, falls dieser antrete. Wieviel Wahrheit in diesem Gerücht steckt, ist schwer,einzuschätzen, schreibt Zaschke. Es sagt jedoch einiges über den Zustand der britischen Politik, dass diese Murdoch-These – mit seiner Drohung der eigenen Pressemacht – in Westminster als vollkommen plausibel gilt. (wahrscheinlich haben sie Ähnliches schon alle von Murdoch erlebt)
Caterell, der Historiker, sagt daher, es ist falsch zu sagen, die Wähler in Greatbritain waren zu dumm zu verstehen, was sie da tun. Sie wurden einfach in die Irre geführt.
Mit den Franzosen passiert Europa das wohl – noch – nicht
Ja, ich war – zwischendurch – einfach mit „unseren“ Franzosen („Jumelage“ der Gemeinde) rund zehn Tage im Frankenland unterwegs – und einig waren sich alle – bei allen Differenzen vielleicht in Einzelfragen -, diese ganzen „Jumelagen“ zwischen Deutschland und Frankreich auf der Gemeinde-Ebene würden es sicher verhindern, dass je eine Mehrheit für so etwas wie jetzt bei den Engländern zustande käme…
Aber jetzt bin ich also wieder zurück – und werde mit Spannung weiter die „Entwicklungen“ verfolgen… (zur aktuellen Situation in Frankreich siehe auch noch „Kann es angesichts der Perspektive der Streiks in Frankreich doch noch ein gemeinsames demokratisches Europa geben?“: https://www.labournet.de/?p=?p=100830)
Dennoch sieht Ulrike Guerot gerade in dem so gegensätzlichen Denken und den unterschiedlichen geistigen Mentalitäten Deutschlands und Frankreichs (z.B.: Können gesellschaftliche Probleme nur durch allgemeine Wahlen in den vorgegebenen „Zyklen“ der Parlamentswahlen oder auch durch Streiks – soweit es soziale Fragen betrifft – von der Bevölkerung direkt angegangen werden??) bilden den Nukleus der augenblicklichen Spannungen in Europa. (http://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/revolte-in-frankreich-1490/ )
Und junge Briten, die der Brexit-Frage einfach „ausweichen“
Aber kurz vorher habe ich noch eine kleine Zusammenstellung zu diesem „Brexit-Europa“ gemacht (https://www.labournet.de/?p=100301). Nur in einem Punkt bin ich „inzwischen“ des „Besseren“ belehrt worden – in diesem Text habe ich nämlich die „Jungen“ etwas in ihrer Haltung „glorifiziert“ – gemäß unserer Presseberichterstattung. (http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/24/young-remain-voters-came-out-in-force-but-were-outgunned und weiter noch den Abschnitt B.) „Die Alten bestimmten die Brexit-Mehrheit….“ auf der Seite 2 im letzten Drittel bei https://www.labournet.de/?p=100301)
Und das zeigt, wie es schon wieder etwas manipulativ sein kann, wenn man Zahlen verwendet – diese aber nicht vollständig sind: Inzwischen hat mir wiederum ein guter Kenner der britischen Verhältnisse erzählt, es stimmt zwar dass die Jungen mehrheitlich – soweit sie sich beteiligt haben !!! – gegen den Brexit gestimmt haben. Nur das Entscheidende kommt erst dann – und das zeigt viel klarer die realen Verhältnisse! – nur rund ein gutes Drittel dieser englischen Jugend hat überhaupt an der Abstimmumng über den Brexit teilgenommen: Es geht also die „Frage Brexit oder nicht“ der ganz großen Mehrheit der englischen jungen Menschen „gerade so am Arsch vorbei“, d.h. es hat sie gar nicht interessiert. (http://www.taz.de/Kommentar-Anti-Brexit-Demonstrationen/!5315440/ ): 73 Prozent der 18 – 24-jährigen haben für einen Verbleib in der EU gestimmt – aber nur 36 Prozent dieser Altersgruppe haben überhaupt gewählt – im Gegensatz zu 83 Prozent der über 65-jährigen. (vgl.weiter auch noch die Kommentare von Ralf Sotscheck zu England bei http://www.taz.de/!a153/ )
Und das zeigt viel deutlicher die politische Einstellung der jungen Menschen (und wahrscheinlich nicht nur in Großbritannien) Politik und damit die Gestaltung „ihrer“ Zukunft findet nicht einmal ihr Interesse.
Also im Gegensatz zu der im Text geäußerten Ansicht, dass die Alten den Jungen mit dem „Brexit“ die Zukunft „vergeigen“, muss man wohl viel deutlicher hervorheben, dass es gerade diese Ignoranz der Mehrheit der Jungen Menschen selbst ist, die ihre Zukunft automatisch für so glorreich halten (?), dass sie solche Fragen überhaupt nicht interessieren – und jetzt durch die Fakten erst eines Besseren belehrt werden könnten…
Dennoch widersprach in Demonstrationen nach der Brexit-Entscheidung diese Jugend wieder diesem einfachen Bild – und skandierte frei nach dem Slogan der Occupy-Bewegung „Wir sind die 48 Prozent“ (http://www.sueddeutsche.de/kultur/brexit-noch-ist-london-nicht-verloren-1.3060800 )
Weiter meint eine BBC-Frau – wohl aus der eigenen Erfahrung etwas frustriert -: Selbst wenn es ein zweites Referendum gäbe, würde es zum gleichen Ergebnis führen wie das erste, einfach weil es in unserem Land viel zu viele Leute gibt, die sich schlicht weigern, sich ordentlich zu informieren… (mit einem gefestigten Vorurteilsbild lebt sich anscheinend leichter, bis man bei dessen Scheitern schwer aufschlägt?)
Deshalb lasst mich noch schnell auf einige wichtige Vorurteilsbilder dieser Engländer eingehen:
Das schnell wiederlegte, aber umso „schlagkräftigere“ Vorurteil der Brexit-Kampange: England überweist täglich 50 Millionen und demnach in der Woche 350 Millionen nach Brüssel (Europa)
Damit zogen die „Brexiteers“ durch das Land,um Stimmung zu machen – und obwohl es sich rasch als blanker Unsinn erwies, spiegelte es mit diesem Gefühl des „Ausgeliefert-Sein“ doch plastisch die von vielen gefühlte Lage, wo eine Überprüfung der Fakten keine Rolle mehr spielen konnte (http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/27/eu-referendum-reality-check-leave-campaign-promises ).
Es verdeutlicht aber auch, wie entscheidend allein die Stimmung unter den Engländern war, die sich einfach bloß – unter anderem – von der EU „abgehängt“ fühlte, die dann in der Folge mehrheitlich zu dieser Entscheidung gegen Europa führen konnte.
Ein weiteres Vorurteil: die Kontrolle über das eigene Land – eine große Illusion. Und statt mehr Kontrolle nach dem Brexit einfach ein Crash – ein schlechter Start!
Ein weiteres Versprechen, das nur auf den Träumen eines vergangenen englischen Empire gründen konnte, war dieses Versprechen der Kontrolle über das eigene Land: „Vote leave – take back control„, das war ein weiterer Slogan des Brexit-Lagers in Großbritannien: Wähle den Austritt, übernimm wieder die Kontrolle! Nur blieb nach dem erfolgreichen Brexit-Referendum dieses Versprechen recht hohl.
Seit der Abstimmung verlieren die Londoner Immobilien an Wert, die heimische Währung, das Pfund, stürzt ab, britische Jobs geraten in Gefahr, die Stimmungslage in GB verdüstert sich: Das Konsumentenvertrauen erlitt im Juni den steilsten Fall in 21 Jahren. „Für jemanden, der Kontrolle verspricht, ist ein Crash kein guter Start„, spottete der italienische Wirtschaftsjournalist Fernando Giuliano auf Twitter.
Die rechten Parteien – von Ukip in England, über den „Front National“ in Frankreich“ und Gert Wilders in den Niederlanden bis hin zur AfD in Deutschland – sind mit ihren „Souveränitäts“-Versprechen so nur die Kinder der gewachsenen Komplexität„, sagt Gustav Horn, Direktor des Wirtschaftsinstitutes IMK. „Der Kontrollverlust ist real“
Zumindest ökonomisch gesehen gibt es längst keine Heimat mehr und kein sicheres Hinterland. Alle Länder sind gegenseitig und voneinander abhängig. (http://www.fr-online.de/brexit/brexit-die-grosse-illusion,34340058,34481990.html )
Nehmen wir zum Beispiel Deutschland: Die 30 Konzerne aus dem Aktienindex Dax machen 70 Prozent ihres Umsatzes jenseits der Grenzen. Aber nicht nur beim Export besteht diese Abhängigkeit, auch die Importe nehmen beständig zu… So besteht jedes Erzeugnis, das Deutschland exportiert, zu fast 50 Prozent aus Importen, errechnete die OECD. Die Ökonomie wird so immer internationaler: Seit 1980 ist die Weltwirtschaftsleistung um 150 Prozent gestiegen, der Welthandel dagegen um 900 Prozent. Seit 1980 sind auch die ausländischen Direktinvestitionen um 2500 Prozent gestiegen.
Dazu kommt noch der Handel mit Geldanlagen. Gerade für Großbritannien sind hier die erreichten Dimensionen gewaltig: In der Summe verfügt Großbritannien über ein Auslandsvermögen von 13 Billionen Dollar – fast das Fünffache der heimischen Wirtschaftsleistung. In Deutschland ist es mit fast 10 Billionen Dollar noch immerhin das zweieinhalbfache. Und daran wird auch gut verdient: Mit einer Rendite von 2,5 Prozent in den vergangenen Jahren „sind die deutschen Auslandsinvestitionen eine lohnende Anlage„, so Oliver Rakau von der Deutschen Bank.
Aber auch als Geldgeber für Unternehmen (die Aktien der großen Konzerne aus dem Dax und dem britischen FTSE-Index liegen überwiegend in ausländischer Hand) und den Staat (das Ausland finanziert mehr als die Hälfte der deutschen Staatsschuld, in Großbritannien ist es noch rund ein Drittel und in Österreich sogar fast drei Viertel)
Natürlich könnte Deutschland aus dem Euro ausscheiden. Doch dann würde die – dann wieder – D-Mark stark aufwerten und damit die Exporte wegbrechen (und damit das jetzige deutsche Export-Lohndumping-Modell zur Makulatur)
Auch wenn die Politik jetzt so tut, ist keine Land ökonomisch souverän. Verstärkt wird diese Abhängigkeit in den vergangenen Jahrzehnten noch durch die Freiheit der Finanzmärkte. (siehe dazu auch die beiden Links von Böckler /volkerMK am Ende des nächsten Abschnittes)
Einen „Souveränitätsgewinn“ gibt es nur über Kooperation statt Abschottung – sonst bleibt nur der Wettlauf nach unten: Endstation Nordkorea.
So wie es den europäischen Ländern gelang – etwas später dann – durch die gemeinsame Währung, den Euro, nicht mehr zum Spielball der Spekulation zu werden, brachte die – leider noch immer unvollendete – Währungsunion durch diese Gemeinsamkeit eine gewissen Unabhängigkeit. Hier hat Großbritannien ja seit der Pfundkrise im Jahre 1992 miserable Erfahrungen durchleiden müssen, die die englische Notenbank dann viel Verlust einbrachte. (https://de.wikipedia.org/wiki/Pfundkrise )
So sieht derselbe Soros jetzt auch wieder auf England – mit dem Brexit – eine große Krise durch einen dramatischen Absturz des Pfund zukommen. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/drohender-eu-ausstieg-grossbritanniens-milliardaer-soros-rechnet-fuer-brexit-fall-mit-dramatischem-absturz-des-pfund-1.3043740 )
Um den brutalen Wettbewerb der globalen Standorte zu mildern und eine Kontrolle zumindest teilweise wieder zurückzuerlangen, sieht der Ökonom Gustav Horn (IMK) nur den einen Weg: die Kooperation. Klassisch kann dies an der Steuerpolitik betrachtet werden: Für einzelne Staaten kann es noch rational sein, die Steuern für Unternehmen zu senken (wie es jetzt die Regierung in Großbritannien wieder anpeilt), um Kapital anzulocken“, erklärt der Ökonom Gustav Horn, „Doch wenn dies alle tun, kann dies nur in einem gegenseitigem Wettlauf nach unten enden.“ Horn schlägt deshalb wieder einmal vor, um diesen Wettlauf von Regulierungen, Steuern und Löhnen nach unten zu stoppen, müssen die Staaten zusammenarbeiten.
Am Ende sollte es einen europäischen Mindestlohn geben und europaweite Tarifverhandlungen in bestimmten Industrien. Auch eine europäische Steuer – auf Einkommen, Finanztransaktionen oder Konsum – hält Horn für sinnvoll. (und nicht zuletzt auch eine gemeinsame Schuldenverwaltung (Eurobonds) nebst einer richtig funktionierenden Bankenunion, um einen angemessenen Rahmen für die Finanzmärkte mit ihren Spekulationen zu finden (vgl. zum einen „Banken treiben die Eurokrise“: http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_82_2013.pdf – sowie zum anderen „Chancen und Risiken einer europäischen Bankenunion“: http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_pb_4_2014.pdf ).
Diese „Zurück zur Scholle kann jedenfalls keine Option sein – es sei denn man will ein Nordkorea. (http://www.fr-online.de/brexit/brexit-die-grosse-illusion,34340058,34481990.html )
Politik nur zur Bildung gefestigter Vorurteilsbilder (um von den tatsächlichen – neoliberal fixierten – Machtverhältnissen abzulenken)
Aber hatte nicht ein prominenter Brexit-Befürworter (der Brexit-Tribun Michael Gove) diese Haltung direkt zum Symbol des Widerstandes gemacht: „Die Menschen haben genug von Experten“ – um sich damit gegen jeden sachlichen Einwand zu immunisieren – für den Brexit. Da konnten die Notenbanker noch so sehr Alarm schlagen über die Folgen eiens Brexit, als ein Spiel mit dem Feuer (http://www.fr-online.de/brexit/brexit-alarm-fuer-die-weltwirtschaft,34340058,34421806.html )
Das rüttelte weder die Jugend auf,doch noch zur Referendums-Wahl zu gehen, noch konnte es die Brexit-Fans nachdenklich machen. Nur dürfte das für jeden Veränderungswillen auch nicht ausreichen, die EU-Kommission in Brüssel – genauso wie Schäuble das macht – zum Schuldigen zu erklären. (http://www.zeit.de/politik/2016-06/brexit-eu-reform-kritik-sicherheit-ttip )
Paul Mason sieht in der „Diplo“ vom Juli 2016 drei Gründe, warum gut die Hälfte für der Engländer für den Brexit gestimmt haben – aber es ging dabei gar nicht um Europa, während die Krise der politischen Eliten (Konservative wie auch Labour) offen zu Tage traten, die keine Antwort auf das klare Ende des Neoliberalismus und seines Scheiterns finden konnten: „Das älteste kapitalistische Gemeinwesen der Welt wird in zwei Teile zerbrechen. Sein kulturelles Narrativ ist bereits zersplittert. Das ist das Werk von David Cameron – unter Mithilfe einer Labour-Party, die Krieg mit sich selbst führt. Und einer jungen Generation, die sich soweit aus der Politik verabschiedet hat, dass sie in diesem historischen Augenblick über die Hälfte auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat.
Und noch eine intellektuelle Brexit-Intervention in Deutschland durch Jürgen Habermas
„Ach Europa: Die Krisenverursacher kassieren die Gewinne, und die Bürger zahlen die Zeche.“
Für Habermas erschien es zunächst unwahrscheinlich, dass angesichts der klaren ökonomischen Interessenlage mit der Bedeutung des Bankensektors für die britische Wirtschaft solch eine Brexit-Abstimmung gelingen könnte (vgl. „unwahrscheinlich, dass sich Identitätsfragen gegen Interessenlagen durchsetzen“: http://www.zeit.de/2016/29/eu-krise-brexit-juergen-habermas-kerneuropa-kritik )
Jedenfalls sieht er ein solches Referendum mit einem ähnlichen Ergebnis in Deutschland vorerst keine Chancen. Denn gerade die europäische Einigung war – und funktioniert immer noch – ganz im Interesse der Bundesrepublik.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten haben wir als vorsichtig operierende „gute Europäer“ eine zunächst vollständig zerstörte Reputation schrittweise wieder gewinnen können. Schließlich konnten wir die Rückendeckung der EU für die Wiedervereinigung nutzen. Im Rückblick ist die Bundesrepublik auch der Nutznießer der Europäischen Währungsgemeinschaft – des „Euro“ – und erst recht im Laufe der Eurokrise selbst.
Und da sich die Bundesregierung seit 2010 über den Europäischen Rat mit den ordoliberalen Vorstellungen ihrer Sparpolitik (siehe dazu vor allem auch noch den Wirtschaftsweisen Peter Bofinger in dem Abschnitt „Noch einmal die spezifisch deutsche Philosophie der Wirtschaftspolitik, die Ordnungspolitik genannt wird: „Walter Euckens langer Schatten“… auf der Seite 2 bei https://www.labournet.de/?p=100830) gegen Frankreich und die Südeuropäer durchsetzt, ist es für Angela Merkel und Wolfgang Schäuble ein Leichtes, sich zu Hause auch – noch gleichzeitig – als die wahren Verteidiger der europäischen Idee darzustellen. Das ist zwar eine sehr nationale Sicht der Dinge. Aber diese Regierung musste – bisher – nie befürchten, dass eine vom Regierungskurs unabhängige Presse die deutschen Bevölkerung über die guten Gründe aufklären würde, die in anderen Mitgliedstaaten zu einer ganz anderen Einschätzung der Situation geführt haben.
Jedoch gibt es für Deutschland in seinem europäischen Verhalten, das die Interessen der anderen in Europa einfach unter den Tisch zu kehren gewohnt ist, anscheind keinen Ausweg, weil die Kanzlerin Merkel jetzt gleich wieder eine Verlängerung dieser speziell deutsch geprägten europäischen Haltung durchsetzen konnte – oder wie Habermas das auszudrücken pflegt, „Die deutsche Kanzlerin hat sich dem bleiernen Verlauf der Geschichte unterworfen“ – also nur keine Veränderung für Europa. (http://www.zeit.de/kultur/2016-07/eu-krise-brexit-juergen-habermas-kerneuropa-kritik )
In diesem Beharren auf den neoliberalen Denkmustern sieht auch der Ökonom Joseph Stiglitz eine falsche Reaktion in der Politik – wie Merkel es wieder gekonnt durchexerziert: Die Wut der Wähler kommt nämlich nicht von ungefähr. Jetzt „zurückzukehren“ zu noch mehr Liberalismus ist darauf die falsche Antwort, mahnt Stiglitz. (http://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/alte-rezepte-1510/ )
Eine grundsätzlichere Position zu den Notwendigkeiten einer Weiterentwicklung der Europäischen Union hatte Jürgen Habermas schon 2012 in seiner Rede bei der Verleihung des August-Zinn-Preises ausgebreitet, wo er auch den zentralen Konstruktionsfehler von diesem Europa klar benannt hatte: „Ach Europa: Die Krisenverursacher kassieren die Gewinne, und die Bürger zahlen die Zeche.“ (http://www.zeit.de/2012/37/Habermas-Krise-Europa-Rede-Georg-August-Zinn-Preis )
Kommt jetzt doch ein – vielleicht lauer – „Wind of Change“ aus Deutschland? Oder muss es bei der „Kammerdienerperspektive“ (Hegel) bleiben?
Und jetzt kommt es durch den Brexit doch in Deutschland sogar zu einem lauen „Wind of change“ und die Große Koalition in Berlin fängt doch glatt an sich über Europa zu streiten – was wir ja so lange – bisher vergeblich – gehofft hatten. (http://www.sueddeutsche.de/politik/grosse-koalition-europa-politik-entzweit-die-bundesregierung-1.3060914 )
Ausgangspunkt war eine Europa-Konferenz der SPD, die jedoch die SPD in den Angriffsmodus versetzen sollte. (Siehe zu diesem Papier von Sigmar Gabriel und Martin Schulz „Europa neu gründen“ den letzten Link in dem Abschnitt „Hat Europa noch eine Zukunft…“ auf der Seite 3 bei https://www.labournet.de/?p=100301)
Klar machte Gabriel für die SPD die Wende klar und verabschiedete sich von dem Merkelschen Kurs einer marktkonformen Demokratie: „Das Gegenteil ist richtig, wir müssen wieder einen demokratiekonformen Markt schaffen.“ (http://www.fr-online.de/politik/gabriel-gegen-merkel-sigmar-gabriel-im-angriffsmodus,1472596,34451522.html )
Das machte er auch noch an einem Beispiel deutlich, indem er auf Griechenland zuging. Bei einem Treffen mit dem linken griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras in Athen unterstützte er – jetzt – dessen Kritik an der von Deutschland „verordneten“ Sparpolitik. Wie deutlich diese Wende ist, zeigt die Tatsache, das derselbe Gabriel noch vor einem Jahr gedroht hatte, der deutsche Steuerzahler „werde nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung in Griechenland bezahlen. – Und nun eine Unterstützung Griechenlands.
Man darf jedoch getrost hinzufügen, dass sich die Lage mit einem griechischen „Lehman-Brothers-Desaster“ als Eskalation einer Bankenkrise dort, noch einmal drastisch verschärft hatte. (http://www.heise.de/tp/artikel/48/48706/1.html )
Diese Veränderungen in der Haltung der SPD zu Europa erscheinen mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 bemerkenswert – und nicht allein die Frage, wer nun Kanzlerkandidat für die SPD werden wird. (http://www.sueddeutsche.de/politik/kandidatenfrage-maennerfreundschaft-1.3061124 )
Zu diesem Artikel in der Süddeutschen bemerkt Jürgen Habermas dann noch, der gedankliche Horizont schrumpft, wenn nicht mehr in Alternativen gedacht wird – deshalb sieht er gerade in diesem Artikel in der Süddeutschen die Gefahr einer „Verabreichung von Tranquilizern„: in diesem Bericht über die Programmkonferenz der SPD, meint Habermas, wird die Stellungnahme zu dem Großereignis Brexit, die aus sachlichen Gründen jeden brennend interessieren müsste, aus einer – wie Hegel gesagt hätte – „Kammerdienerperspektive“ auf die nächste Bundestagswahl und das persönliche Verhältnis zwischen Herrn Gabriel und Herrn Schulz zurückgestutzt. (http://www.zeit.de/2016/29/eu-krise-brexit-juergen-habermas-kerneuropa-kritik )
Und so begann sich die SPD neu zu sortieren. Nur wie bemerkt Stephan Hebel dazu so trefflich, Sigmar Gabriel hat recht, wenn er ein anderes Europa fordert, aber das wird wenig nutzen, wenn er daraus keine Konsequenzen zieht.
Die Deutsche Sozialdemokratie und ihr Vorsitzender müssen sich entscheiden, wenn sie schon nicht riskieren, die große Koalition zu sprengen (das wäre in der Tat mutig), dann müssen sie eine solche für 2017 ausschließen und sich endlich an die Spitze einer europäischen Reformbewegung stellen – nicht nur mit schönen Papieren.
Diejenigen in der Gesellschaft, die das „andere Europa“ schon lange dem rechten Nationalisierungswahn entgegenstellen wollen, sollten dann alles tun, der SPD dabei zu helfen. Denn dass Gabriel ohne Druck von unten, die Konsequenzen zieht, widerspräche aller Erfahrung. (http://www.fr-online.de/leitartikel/spd-und-eu-druck-von-unten-fuer-ein-anderes-europa,29607566,34421030.html )
Aber: Berlin ist der Ort, von dem aus unter dem Deckmantel der „Wettbewerbsfähigkeit“ die Politik der nationalen Egoismen nach dem Muster Merkel durchgesetzt wurde. Die SPD hat sich daran in zwei Koalitionen beteiligt. Deshalb wird Gabriel erst glaubwürdig, wenn er sich mit denjenigen verbündet, die seine Forderungen teilen.
Schäuble und Merkel jedoch als Trugbild des Europäers/ Europäerin im deutschen Interesse – ganz ohne Ausgleich für andere. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble tun das nicht! Sie wollen ein deutsches Europa
Ganz im Gegenteil Schäuble trägt wunderbar (= für sich und Deutschland) als Finanzminister diese doppelte Rolle, sich als Europäer gerieren und dabei vor allem die deutschen Interessen im Auge haben – also diese Vorstellung eines deutschen Europa durchzusetzen. So will gerade Schäuble eine Einschränkung des gegenseitigen Steuerdumpings in der EU nicht. Sein Modell – und das der Kanzlerin – bestand von Anfang an darin, die nationalen Ökonomien ungehindert – vor allem unter dem gemeinsamen Dach des Euro – und ohne jeden Ausgleich für die jeweiligen unterschiedlichen Ausgangsbedingungen gegeneinander antreten zu lassen – fest davon überzeugt, dass eine starke Volkswirtschaft wie Deutschland, daraus vor allem für sich einen Vorteil zieht – eben auch mit dem Mitteln des Lohn- und Steuerdumpings. Gleiches gilt ja auch schon für Kanzler Schröder: Der von ihm durch die „Hartz-Reformen“ gepuschte Niedriglohnsektor lief darauf hinaus, die Konkurrenzfähigkeit der Nachbarn zu schwächen. (http://www.fr-online.de/leitartikel/leitartikel–schaeubles-deutsches-europa,29607566,34455140.html )
Nur diese Doppelrolle des Europäers im allein deutschen Interesse gelingt es immer weniger darzustellen. Am deutlichsten wurde das in der – deutlich dem Populismus der Rechten entlehnten Angriff auf den EZB-Präsidenten Mario Draghi und der Geldpolitik der EZB, der europäischen Notenbank: So gewinnt man den Eindruck, dass der Fianzminister Schäuble – in einer Angst vor oder um die Banken – den Sündenbock für „seine“ falsche Sicht auf die gegenwärtige Krise – diese Bankenkrise als Schuldenkrise zu begreifen – bei der Geldpolitik der EZB und Draghi. (Seite 1 bei https://www.labournet.de/?p=98387)
Und dabei gelingt es auch schon einmal Mario Draghi die Lacher auf seiner Seite zu haben. (http://www.welt.de/finanzen/article154621932/Draghis-sueffisante-Bemerkung-ueber-Wolfgang-Schaeuble.html )
Ein Signal für Österreich und Europa: Ein gerechteres Europa, um es zu retten. Oder: Ändert sich Europa nicht, wird es untergehen.
Ein nächstes Signal für ein anderes Europa braucht jetzt auch Österreich vor den nächsten Präsidentenwahlen: So könnte das Europa der Demokraten – nach dem Brexit-Desaster – zu einer großen Chance werden. Ein Klarer Sieg des Grünen Alexander Van der Bellen über den FPÖ-Mann Hofer wäre dafür ein Signal der Hoffnung – gerade jetzt nach dem Sieg der Nationalisten in der Brexit-Frage (nebst dem Scheitern von Labour an diesem Problem).
Die Hoffnung auf solch einen nochmaligen Sieg von Van der Bellen in Österreich würde wachsen, wenn Brüssel und das stärkste EU-Mitglied Deutschland aufhören würden, einfach so weiterzumachen wie bisher.
So verlogen die rechte Propaganda gegen Europa ist, so berechtigt ist die verbreitete Skepsis gegenüber der oft intransparenten, bürgerfernen und sozial ungerechten Politik der EU. (http://www.fr-online.de/aktuelle-kommentare/praesidentenwahl-in-oesterreich-neue-chance-fuer-rechtspopulisten,30085308,34445422.html )
Es muss Schluss damit sein, die Kritik daran allein den Rechten zu überlassen. Wer jetzt noch Europa will, muss es verändern, um es zu verteidigen. Wie stark der Druck für eine Rettung ist, wird deutlich, wenn man dann auch noch nach Frankreich blickt, wo der Front National mit mit Marine Le Pen in den Startlöchern steht, es den Engländern nachzumachen – und ein Referendum für – jetzt dann – einen Frexit zu starten. Den Sekt dafür soll sie schon kaltgestellt haben. (http://www.taz.de/!5315450/ )
Wahrscheinlich ist es nicht allzu weit gegriffen, wenn man heute feststellen kann, ändert sich Europa nicht, wird es untergehen. Nur ob die Kommission in Brüssel für diese Änderungen – allein – die angemessene Adresse ist, darf auch gefragt werden. (http://www.zeit.de/politik/2016-06/brexit-eu-reform-kritik-sicherheit-ttip )
Die EU als schöner Sündenbock – um ungehindert die Macht bei den Nationalstaaten zu belassen?
Joschka Fischer, der alte außenpolitische Stratege, erklärte dazu, dass es gerade jetzt „im Interesse der verbliebenen 27 EU-Länder sei, Zeichen für die Stärkung Europas“ zu setzen. Nur sieht er angesichts alles Bisherigen in diesem Europa – gerade auch in der Eurozone – wenig Hoffnung „für eine weiteren Schritt zur Stabilisierung der Eurozone. (Siehe dazu inbesondere auch den Abschnitt „Hat Europa jetzt noch eine Zukunft – ohne von Grund auf neu gestaltet zu werden“ – auf der Seite 3 bei https://www.labournet.de/?p=100301)
Und inzwischen musste Griechenland mit den Kapitaverkehrkontrollen einen weiteren Schritt in der Destabilisierung seiner Wirtschaft gehen – oder auf sich nehmen: (http://www.heise.de/tp/artikel/48/48706/1.html )
Und ein Brief aus Rom in der „Diplo“ macht verständlich, wieso die „5-Sterne“ in Italien fast als einziger Hoffnungsschimmer erscheinen – angesichts des gänzlichen politischen Versagens der bisherigen Politiker. (http://monde-diplomatique.de/artikel/!5310327 )(zur immer noch weiteren Durchsetzung einer Austeritätspolitik in Italien beachte vor allem Andrea Fumagalli über „Prekäre Reformen“ – Italiens Regierung liberalisiert den Arbeitsmarkt – im Juli-Heft der Diplo)
Serge Halimi von der „Diplo“ stellt dazu in einem Kommentar fest: „Europa ohne Seele“ – Vor einem Vierteljahrhundert hat die EU in einer vom Kalten Krieg (damals) gespaltenen Welt eine großartige Chance für eine andere Entwicklung vertan. Man hätte – damals nicht davor zurückschrecken dürfen, die parallel schon zwischen den Nationalstaaten entstandene Bürokratie auf zu lösen, neu aufzubauen und den neoliberalen Motor dieser Maschine auszutauschen… Doch statt einer Gemeinschaft schuf man – bloß – einen gemeinsamen Markt. Ohne Seele und allein in der Absicht, den Wohlhabendsten und Bestvernetzten der Finanzplätze und großen Metropolen gefällig zu sein.
Das Bild, das die EU derzeit bietet, ist nur noch auf Strafmaßnahmen und Sparpolitik gerichtet. Wer den Protest, den die Briten mit ihrem Votum zum Ausdruck gebracht haben, allein auf Populismus und Fremdenfeindlichkeit zurückführt, wird der Sache nicht gerecht. (http://monde-diplomatique.de/artikel/!5317865 )
Oder man kann auch ganz einfach feststellen, diesem Europa ist das gemeinsame Narrativ von Frieden und Gerechtigkeit gänzlich abhanden gekommen. Wozu also noch ein gemeinsames Europa?
Die eigentliche Macht liegt bei den Nationalstaaten, die jeweils Brüssel als Synonym für dieses Europa nur in ihrem Interesse instrumentalisieren wollen, ohne dass je eine Bilanz aufgemacht wird, wer und wie von diesem Europa „profitiert“.
Aber – ganz im Gegensatz zur derzeit so vorherrschenden Ideologie „Brüssel ist an allem schuld“ liegt die wirkliche Macht eben weiter – vor allem – bei den Nationalstaaten und den nationalen Regierungen… (http://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-des-albtraums-erster-teil-1.3054824 )
Deshalb wäre es jetzt erst einmal angebracht, den EU-Bürgern beizubringen, dass die ganze Misere von Europa von ihren nationalen Regierungen ausgeht – wogegen „Brüssel“ eben machtlos ist. Diese Machtverhältnisse in Europa macht Finanzminister Schäuble dann – jetzt wieder einmal ganz offen – schon gleich ganz deutlich, indem er die Brüsseler Kommission – faktisch – für überflüssig erklärt. (https://www.tagesschau.de/inland/schaeuble-329.html )
Bei allem wieder Runterspielen seiner gegen die Brüsseler Kommission gerichteten Aussagen bedient Schäuble gerade auch hier wieder die anti-europäischen Ressentiments in der Bevölkerung, was Gabriel wohl inzwischen auf den Nerv geht.
Und Schäuble verschärft auch gleich noch den Gegensatz zur SPD und ihren „frischen“ Vorstellungen, indem er das Anschieben öffentlicher Investitionen für überflüssig erklärt. Damit greift er eindeutig – in alter deutscher Eucken`scher Ökonomie-Tradition – auch die Gewerkschaften an, die auch ihre Vorstellungen auf eine bessere europäische Zukunft ausgerichtet hatten wie der DGB, der deshalb aber zumindest jetzt schon einmal eine europäische Investitionsoffensive gestartet haben möchte, damit wir aus diesem „Loch der ökonomischen Stagnation“ wieder herausfinden können. (http://www.dgb.de/themen/++co++44204f56-3eac-11e6-bdce-525400e5a74a )
Nur Sascha Lobo im Spiegel findet doch noch Schäubles „Schwarze Null“ ein Desaster: „Die schwarze Null ist eine Religion und Schäuble ihr Hoher Priseter“. (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-fordert-digitalen-marshallplan-kolumne-a-1101585.html )
Nur kurzfristig – erst einmal ganz pragmatisch gesehen – wird ein solcher Politikschwenk weg von diesem Spardiktat umso drängender, je mehr die Brexit-Entscheidung auch auf die Konjunktur in Europa drückt (http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_115_2016.pdf ).
Ist Europa jetzt mit dem Brexit tot – oder wie gewinnt es neues Leben? Wird es nur einen Tag der Trauer geben – oder doch den Auftakt zu einer Tragödie?
Arnd Festerling, ein Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, fasste den Eindruck des Brexit mit seinen – auch möglichen – Folgen so zusammen: Politik und Gesellschaft der westlichen – insbesondere europäischen – Industriegesellschaften büßen gerade dafür, dass sie anderthalb Jahrzehnte den Lügengeschichten über den Segen eines unregulierten Kapitalismus geglaubt haben. Wenn die Bürger jetzt – nach dem Brexit als Weckruf – dieser Erkenntnis ins Auge blicken, haben sie eine gute Chance, eine lebenswerte Welt zu gestalten. Warum nicht damit in Europa beginnen? Wenn wir es allerdings nicht tun, ist der Brexit nicht nur ein Tag der Trauer, sondern der Auftakt zu einer Tragödie. (http://www.fr-online.de/brexit/brexit-gefragt-sind-transparenz-und-buergernaehe,34340058,34417692.html )