Zehn Jahre Hartz-Kommission: „Tiefpunkt bundesdeutscher Sozialpolitik“
Dossier
- Die Ghostwriter. Vor zehn Jahren wurde der Abschlußbericht der Hartz-Kommission übergeben – Über die geheimen Netzwerke hinter den Arbeitsmarktreformen
„Wenn heute an die Übergabe des Berichts »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« im Französischen Dom in Berlin vor genau zehn Jahren erinnert wird, dann denken viele an Hartz IV, jenes Grundsicherungssystem, in das Millionen Menschen samt Partnern und Kindern ohne Rücksicht auf Qualifikation oder Berufserfahrung hineingepreßt werden und das Hunderttausende in unterwertige Arbeitsplätze gezwungen hat, ohne ihnen sozialen Schutz zu bieten…“ Hintergrund von Helga Spindler in junge Welt vom 16.08.2012 . Aus dem Text: „… Speziell Hartz IV sowie die verbliebene Restarbeitslosenversicherung und Restsozialhilfe haben wir nicht in erster Linie der Hartz-Kommission oder gar dem Namensgeber Peter Hartz persönlich zu verdanken, sondern einer geheimen Staatsaktion, einer recht undemokratischen, handstreichartigen Hintergrundarbeit aus dem Bundesarbeitsministerium (BMA) und dem Bundeskanzleramt – einverständlich koordiniert und gelenkt durch die Bertelsmann Stiftung. (…) Dieser Arbeitskreis wurde verzahnt mit einem weiteren Bertelsmann-Projekt, »Beschäftigungsförderung in Kommunen« (BiK), wo schon in Sozialhilfezeiten kommunal mit Workfare-Modellen experimentiert wurde und die Popularisierung von Workfare-Entwicklungen in den USA (Wisconsin), Großbritannien und den Niederlanden betrieben wurden – Experimente, auf die auch Roland Koch von der CDU schon ein Auge geworfen hatte und die öffentlich zu diskutieren ein parteipolitisches Risiko geworden wäre. (…) Der Arbeitskreis traf sich zu Workshops an abgelegenen Orten und führte dort offene Debatten über die Fehlentwicklungen der Arbeitsmarktpolitik. Bald erschien die Zusammenlegung der beiden Systeme Arbeitslosen- und Sozialhilfe als die »einzig gangbare Lösung in der Arbeitsmarkpolitik«. Der DGB-Vertreter wehrte sich zwar dagegen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Spätestens dann hätte die Überlegung öffentlich gemacht werden müssen. Wurde sie aber nicht, im Gegenteil: Die Lösung wurde bereits als alternativlos gehandelt. (…) Die »Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe« war für sie von Anfang an die Chiffre für die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, erheblichen Leistungsabbau in der Arbeitslosenversicherung und ein neues System einer rechtloseren Sozialhilfe, die nicht mehr dem Ziel der Schaffung menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse verpflichtet ist – was letztlich auch einer Abschaffung der bisherigen Sozialhilfe gleichkam. Die damals durchaus vorhandenen Schwachstellen bei der Verwaltung von Leistungen für Erwerbslose hätte man auch ohne eine Systemänderung beheben können. Konzeptionell zwingend war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe nur für diejenigen, die den Druck auf arbeitserfahrene, deshalb oft selbstbewußtere und etwas teurere Arbeitslose verschärfen wollten. (…) Daß ausgerechnet die Servicewüste Jobcenter – in der Dokumente und Akten unauffindbar sind, Mitarbeiter verheizt werden und wechseln wie im Taubenschlag, sich ohne Telefonnummer im »Back-office« verschanzen und unlesbare Bescheide verschicken müssen, und wo aus den unterschiedlichsten Gründen inzwischen eigentlich auf beiden Seiten des Schreibtisches Begleitschutz organisiert werden muß – vor zehn Jahren unter dem Stichwort: »Moderne Dienstleistungen« der staunenden Bevölkerung empfohlen wurde, war schon ein Coup der Unternehmensberaterbranche, der sich mit feinem Gespür für das Machbare auf wehrlose Arbeitslose konzentriert hat.
Offen und ehrlich ist über die Zusammenlegung, ihre Vor- und Nachteile parlamentarisch nie richtig gestritten worden. Das muß nachgeholt werden. Und da reicht nicht ein einfaches »Hartz IV muß weg«, sondern es geht um eine Alternative, die dafür einen verläßlichen Rahmen setzt. Die ist jedoch schwer zu erkennen, wenn diese Gesetzgebung selbst in Gewerkschaftskreisen immer noch als »Vorwärtsreform« und als sozialer Fortschritt bezeichnet wird…“ Zum Artikel - „Tiefpunkt bundesdeutscher Sozialpolitik“: Paritätischer zieht Bilanz anlässlich zehn Jahren Hart
Pressemeldung von Paritätische Wohlfahrtsverband vom 14.08.2012 . Siehe dazu: 10 Jahre Hartz. Eine Bilanz
- Zehn Jahre Arbeitsmarktreform Merkel ruht sich auf Hartz IV aus
„Die Arbeitsmarktreform hat Gerhard Schröder viel gekostet: das Kanzleramt, den Respekt der Genossen, die Einheit der SPD. Seine Nachfolgerin streicht die Erfolge ein – und lässt die Hände im Schoss…“ Ein Kommentar von Hans Peter Schütz bei Stern online vom 15. August 2012 . Aus dem Text: „… Obwohl sie Hartz-IV als „Verrat“ empfanden, hielten sich die Gewerkschaften über Jahre hinweg mit Lohnforderungen für die Beschäftigten zurück. Auch das trug maßgeblich dazu bei, die Konjunktur zu stützen und anzukurbeln. Es ist auch ihnen, den Gewerkschaften, zu danken, dass die Bundesrepublik heute im europäischen Vergleich so gut dasteht…“
- Hartz 10: „Arbeitsministerin für Nachbesserungen“ – eine nette Geste zum 10. Jahrestag!?
„Nach dem 10. Jahrestag (16. August 2012) ist vor dem 10. Jahrestag (14. März 2013) … und vor der Bundestagswahl 2013. Eine nette Geste zum 10. Hartz-Jahrestag am 16. August 2012 hat sich die Bundesarbeitsministerin, Ursula von der Leyen (CDU), einfallen lassen. Sie sieht „Nachbesserungsbedarf“ und fordert in den Medien vielbeachtete „Nachbesserungen bei Hartz“…“ BIAJ-Kurzmitteilung vom 15. August 2012
- Von der Leyen: Hartz IV „Reförmchen“ Vorschlag. Von der Leyen will bei Hartz IV nachbessern
„Nach zehn Jahren Hartz IV-Gesetze fordert die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) „Nachbesserungen“. Indirekt setzte sich die Ministerin in dem Magazin „Wirtschaftswoche“ für einen Branchenübergreifenden Mindestlohn ein. In den letzten Jahren habe die „Tarifbindung bei vielen Unternehmen“ immer mehr abgenommen. Aus diesem Grund „benötigen wir unter anderem verbindliche Lohnuntergrenzen, die auch in den tariffreien Zonen Ausreißer nach unten verhindert“. Dennoch verteidigt von der Leyen Hartz IV. So betonte sie: „Die Reformen haben wieder den Grundsatz gestärkt, dass es besser für die Menschen ist, eine Beschäftigung zu haben als auf Dauer arbeitslos zu sein.“..“ Meldung vom 11.08.2012 bei gegen-hartz
- Hohn IV
„»Die Reformen bedeuten nicht mehr Armut, sondern mehr Chancen«, sagte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen zum zehnten Jahrestag der Hartz-Gesetze. Für die meisten Betroffenen klingt das wie purer Hohn. Dass sich die Arbeitsverwaltung zum modernen Dienstleister entwickelt habe, »der sogar in die Schulen geht, um präventiv gegen Arbeitslosigkeit zu wirken«, kann Langzeiterwerbslosen, Minijobbern und Aufstockern bestenfalls ein müdes Lächeln entlocken…“ Standpunkt von Grit Gernhardt in Neues Deutschland vom 16.08.2012 . Aus dem Text: „… Dass die Erwerbslosenzahlen im Vergleich zu 2005 gesunken sind, ist kaum auf neu geschaffene Vollzeitarbeitsplätze, sondern vielmehr auf die enorme Ausweitung des prekären Beschäftigungssektors und einige statistische Tricks zurückzuführen. Unterm Strich bleiben stapelweise Akten bei den Sozialgerichten und hunderttausende zerrüttete Erwerbsbiografien. Ein Kommentator bezeichnete es dieser Tage als größten Erfolg der Reform, der Welt gezeigt zu haben, dass Deutschland zu großen Veränderungen fähig sei. Mehr Verachtung für die Betroffenen geht kaum.“
Und wer immer noch nicht genug hat und in Erinnerungen „schwelgen“ will, möge sich unsere damalige Rubrik „Lieblingszitate des LabourNet Germany zum Thema Hartz“ (LabourNet-Archiv) ansehen
- Die politische Dynamik von Arbeitsmarktreformen in Deutschland am Beispiel der Hartz IV-Reform.
Abschlussbericht von Anke Hassel und Christof Schiller vom Juni 2010 bei der HBS . Zusammenfassung: „Während der deutsche konservative Wohlfahrtsstaat über einen sehr langen Zeitraum ein hohes Beharrungsvermögen verfügte, griff die Hartz IV-Reform tief in seine Leistungsstrukturen ein. Mit ihr wurde ein leistungsrechtlicher Strukturwandel verwirklicht, der die passive Absicherung durch Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit erheblich reduziert hat, den Einkommens- und Berufsschutz faktisch abgeschafft und eine einheitliche organisatorische Anlaufstelle für Langzeitarbeitslose geschaffen hat. Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die politische Dynamik der Reform zu analysieren. Die Forschungsergebnisse auf der Grundlage von 40 Interviews mit Schlüsselakteuren der Reform legen nahe, dass die Reform aufgrund eines Zusammentreffens zweier Entwicklungen erfolgte: der Umorientierung der Schlüsselakteure in der Arbeitsmarktpolitik in Richtung der Begrenzung der Statussicherung für Langzeitarbeitslose im Interesse einer stärkeren Aktivierung von Arbeitslosen und die Anfang 2003 sich verstärkende Krise der fiskalischen und personellen Verschiebepolitik zwischen Bundeshaushalt, Sozialversicherungen und Gemeindehaushalten.“ Wir empfehlen aus den insgesamt 176 Seiten: Die Zusammenfassung der Reformpolitik in Deutschland (S. 119-133, 160-164), zur Rolle der Bertelsmann Stiftung (S. 63- 66), zur Reformpolitik ab 2001 einschließlich der Hartz Kommission( S. 73- 80) und schließlich das Kapitel über die Rolle der Gewerkschaften (S. 105-107).
- Stunde der Technokraten
Vor zehn Jahren nahm die sogenannte Hartz-Kommission ihre Arbeit auf. Rückblick von Helga Spindler in junge Welt vom 22.02.2012 . Empfehlenswert auch am Ende des Textes: „Die Mitglieder der Kommission und ihre berufliche Entwicklung“
- Kein Grund zum Feiern: 10 Jahre Hartz-Kommission
„Am 22. Februar 2002 richtete die rot-grüne Regierung eine Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein, die Peter Hartz, seinerzeit Personalvorstandsmitglied der Volkswagen AG, leitete und eigentlich nur Vorschläge zur Organisationsreform der Bundesanstalt für Arbeit (Umwandlung der Nürnberger Behörde in eine moderne Dienstleistungsagentur) machen sollte. Nachdem diese wegen gefälschter Vermittlungsbilanzen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war, nutzten die sozialdemokratischen und bündnisgrünen „Modernisierer“ den Skandal, um den von ihnen beklagten „Reformstau“ auf dem Arbeitsmarkt aufzulösen…“ Artikel von Christoph Butterwegge in den Nachdenkseiten vom 22. Februar 2012 - 10 JAHRE HARTZ IV: KEIN GRUND ZUM FEIERN
Es ist nun genau zehn Jahre her, seit in Deutschland Hartz IV gilt. Gebessert hat sich hier seither wenig. Im Gegenteil: Vieles hat sich verschärft. Das Infoblatt Jobcenter beim ver.di-FB Gemeinden
Ältere Beiträge zum Thema Hartz finden sich im LabourNet-Archiv