Kein einklagbarer Inflationsausgleich zum Regelsatz: LSG Niedersachsen-Bremen sieht keine Rechtsgrundlage – Armin Kammrads Kommentar für uns schon

Hartz IV Regelsatz 2022„… Für eine gerichtliche Anordnung zur Erhöhung existenzsichernder Leistungen zum Inflationsausgleich besteht keine gesetzliche Grundlage. Dies hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden und die Beschwerde eines Göttinger Sozialhilfeempfängers zurückgewiesen (Beschl. v. 24.08.2022, Az. L 8 SO 56/22 B ER). Der Mann bezieht neben seiner Altersrente ergänzende Grundsicherungsleistungen. Neben den Unterkunfts- und Heizkosten belief sich der gesetzliche Regelbedarf auf 449 Euro. Angesichts der hohen Inflation und den Preissteigerungen für Nahrungsmittel sei der Betrag aber evident unzureichend und untergrabe die Menschenwürde, argumentierte er. (…) Seinen Eilantrag auf eine Erhöhung der Regelleistung auf 620 Euro lehnte das Sozialgericht Hildesheim ab. Das LSG wies die Beschwerde dagegen nun ebenfalls zurück. Wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz könne ein über den gesetzlichen Betrag hinausgehender Regelsatz nicht zugesprochen werden. Dafür gebe es keine gesetzliche Grundlage, so das Gericht. Die Konkretisierung grundrechtlicher Leistungsansprüche sei ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten…“ Meldung vom 1. September 2022 bei Legal Tribune Online externer Link („Kein einklagbarer Inflationsausgleich für Sozialhilfeempfänger“) – siehe dazu den Kurzkommentar von Armin Kammrad vom 2. September 2022:

  • Kurzkommentar von Armin Kammrad vom 2. September 2022
    Dass ein zu geringer Regelsatz nicht einklagbar sei, ist falsch. Hinzu kommt noch, dass das Gericht sich selbst nicht konsequent an seine eigene Rechtsauffassung hält, wenn es auf Einzelmaßnahme des Gesetz- und Verordnungsgebers (9-Euro-Tickets, des Tankrabatts oder der Einmalzahlung an Grundsicherungsempfänger in Höhe von 200 Euro und was vielleicht sonst noch kommt) zum Ausgleich einer Unterversorgung verweist. Denn egal ob diese Einzelmaßnahmen nun positiv oder negativ zu sehen sind. Sie sind nicht Inhalt der gesetzlichen Regelsatzbestimmung, weshalb jüngst der Paritätische Gesamtverband externer Link auch den Gesetzgeber aufforderte, die Methode der Fortschreibung der Regelsatzhöhe nach § 28a SGB XII zu ändern, weil die vom Regelsatz Abhängigen ansonsten immer mehr verarmen. Das LSG betreibt hier also eine für die Politik wohlwollende, für die Betroffenen jedoch nicht hinnehmbare, Handhabung beim existenziellen Grundbedarf, statt sich entsprechend dem Grundgesetz an „Gesetz und (!) Recht“ zu halten (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Denn was hier Recht ist, hat das Bundesverfassungsgericht ziemlich eindeutig festgelegt: Der Regelsatz muss nach einem nachvollziehbaren Verfahren ermittelt werden und nach dem Sozialstaatsgebot von Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 GG das Mindestmaß an Existenz sichern (vgl. BVerfGE 1 BvL 1/09 vom 09. Februar 2010 externer Link). Ob nun der Regelsatz wegen der Preisentwicklung oder wegen nicht mehr angemessener Berechnungsmethode nicht mehr verfassungskonform ist, ist das eine. Das verfassungsgemäß verbürgte Recht, gegen einen Verfassungsverstoß – auch durch Unterlassung – des Gesetzgebers Klage zu erheben, ist das andere. Da das LSG sogar selbst davon ausgeht, „dass die Höhe der Regelsätze schon gegenwärtig nicht mehr ausreiche um das Existenzminimum zu sichern“ (vgl. oben), müsste es eigentlich nach rechtstaatlichen Kriterien aktiv im Sinne des Klägers werden, z.B. durch einen konkreten Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht. Selbst eine Eilentscheidung zur Mindestsicherung des Existenzminimums wäre denkbar, wenn das entscheidende Gericht selbst das Bestehen einer verfassungskonformen staatlichen Existenzsicherung verneint. Nach BVerfGE 1 BvR 569/05 vom 12. Mai 2005 externer Link wäre das sogar verfassungsrechtlich geboten. Ein Verstoß des LSG Niedersachsen-Bremen gegen Art. 19 Abs. 4 GG ist eigentlich offensichtlich. Außerdem hat die Existenzsicherung auch einen kriminologischen Aspekt, den Sozialgericht eigentlich im Interesse der normativen Allgemeinheit berücksichtigen müssten: Niemand sollte zu strafrechtlichen Handlungen (bes. Diebstahl) greifen müssen, um seine Existenz zu sichern. Zumindest ist es nicht verfassungskonform, durch fragwürdige Rechtsprechung eine offensichtlich verfassungswidrige Regelsatzhöhe zu legitimieren und zu verteidigen.“ Wir danken!

Siehe auch im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204005
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